Im digital transformierten New Normal hat ein grundlegender Perspektivenwechsel in der Customer Journey stattgefunden. Seit den Marktplätzen der Antike, über das Mittelalter hinweg und bis in unsere heutige Zeit besteht Retail aus einem sehr einfachen Konzept: Kunden zeitgemäß anzusprechen.
Effizienz statt Erlebnis
Die Zahlen der gfu, einst Gesellschaft zur Förderung der Unterhaltungselektronik und heute unter gfu Consumer & Home Electronics GmbH firmierend, für die ersten drei Quartale des Jahres 2022 bestätigen eindrucksvoll die Fortsetzung des Trends aus dem Vorjahr: die private Nachfrage nach Home Electronics ist in weiten Bereichen "rot", d.h. im negativen Bereich und deutlich unter den Werten des Vorjahres: TV-Displays minus 17,7 Prozent, Action Kameras minus 16,8 Prozent, Digitale Kameras minus 21,8 Prozent, Audio Home Systeme minus 14,2 Prozent, Lausprecher-Boxen & Soundbars minus 8,8 Prozent, Gaming Konsolen minus 20,9 Prozent, Desktop Computer minus 22,4 Prozent, Notebooks minus 6,4 Prozent, Monitore minus 19,2 Prozent, Externe Festplatten minus 19,5 Prozent, und so weiter.
Zwar lassen sich in allen Kategorien innovative Segmente finden, die erfreuliches, positives Wachstum verzeichnen. Ihr Nachfrage- wie Umsatzanteil ist allerdings nicht ausreichend, um für die jeweilige Gesamtkategorie Nachfragewachstum sicher zu stellen. Auch richtig ist, dass der Umsatztrend aufgrund von Preissteigerung und Umsatzverlagerung in hochpreisige bzw. innovative Segmente ein besseres Bild der aktuellen Retail-Situation zeigt. Die Umsatzentwicklung ist in Summe mit 0,1 Prozent leicht positiv. Die Nachfrage nach Smartphones plus 0,7 Prozent, Wearables plus 2,3 Prozent, Kopfhörer & Headsets plus 7,2 Prozent u.a. kann einen Teil des Nachfragerückgangs kompensieren. In Summe verdeutlicht diese Entwicklung, dass erfolgreiches Retailing im New Normal einen seit langem überfälligen Perspektivenwechsel erforderlich macht.
Replacement & Neuanschaffung
Das erhebliche Investment der Konsumenten im ersten Jahr der Pandemie, im Jahr 2020, hat die Haushaltsausstattung mit Technik-Produkten sowohl deutlich erhöht als auch die installierte Basis qualitativ erheblich verbessert. Zudem hat die Anzahl der Produkte pro Haushalt deutlich zugenommen. Aktuell liegt der Nachfrageanteil für Ersatzbeschaffung/Replacement bei knapp 60 Prozent nach Menge, in der Umsatzbetrachtung sogar um fünf Prozentpunkte höher. Kombiniert mit der Tatsachenlage, dass Produkt-Informationen einem digital-vernetzten Konsumenten umfangreich wie einfach zugänglich sind, dieser zudem jahrelange Produktnutzungserfahrung mitbringt und dadurch punktuell oftmals besser als sein Gegenüber im Retail informiert ist, befinden wir uns in einer Situation, die sich grundsätzlich von der des Retails in den 1990er oder 2000er Jahren unterscheidet.
Umso verwunderlicher ist es da, dass Retailing weiterhin auf althergebrachte Konzepte setzt, die vielen - vor allem jüngeren - Konsumenten wie Relikte aus dem letzten Jahrhundert anmuten. Gut informierte Kunden sind eigenständig und treffen Einkaufsentscheidungen informierter wie auch gezielter, als dies in der Vergangenheit der Fall war. Der klassische Retail erreicht mit seinen Shop-Strategien die Generationen X, Y und Z nur noch bedingt. Er profitiert - noch - von kaufkraftstarken Baby-Boomern, von denen die ersten - langsam am Ende ihres Berufslebens angelangt - nochmals verstärkt in Technik für zuhause investieren. Dies auch mit ein Grund für die Nachfrageverlagerung in höherwertige Produktsegmente. Viele, vor allem jüngere, Konsumenten sind weitestgehend in die bequeme Welt des Online-Retailings abgewandert, was sich in geringen Besuchsfrequenzen in Shops bemerkbar macht.
Effizienz & Erlebnis
Dies führt im Kontext eines New Normal zu neuen Chancen für den Retail, Kunden zeitgemäß anzusprechen, was auch Abschiednehmen von Paradigmen des 20. Jahrhunderts bedeutet - die drei wichtigsten seien hier genannt:
Bei gelerntem Produktnutzen findet das Produkterlebnis im täglichen Leben statt;
das Konzept "Erlebniskauf" des 20. Jahrhunderts hat ausgedient, Effizienz & Convenience sind die dominierenden Faktoren der Customer Journey für TechnikprodukteHome-Office führt bei Shops in teuren (Innen-) Stadtlagen zu geringerer Besuchsfrequenz und zu rückläufigen Umsätzen; klassische Retail-Immobilien verlieren an Attraktivität, althergebrachte Standortfaktoren sind neu zu bewerten. Nachfrage findet verstärkt dort statt, wo Menschen leben, und weniger wo Menschen arbeiten bzw. wo Menschen zur Arbeit pendeln.
Digitale Meetings lassen eine Vielzahl von Geschäftsreisen obsolet werden, berufliches Commuting verringert sich unvermeidlich, mit dem PKW einfach zu erreichende, großflächige Stadtrandlagen rücken aus dem Fokus. Konsumenten kaufen dort, wo sie am meisten Zeit verbringen - an und mit ihren Bildschirmen.
Retail-Konzepte welcher Art auch immer, sollten sich diesem Paradigmenwechsel stellen und Antworten hierauf geben. Der Kunde des 21. Jahrhunderts hat neue, andere Bedürfnisse, seine Customer Journey ist aufgrund digitaler Möglichkeiten weniger berechenbar denn je. Schiere Shop-Größe mag kurzfristig geeignet sein, die genannten Faktoren zumindest teilweise zu kompensieren. Mittelfristig werden sich aber auch diese Konzepte dem Wandel stellen müssen. Größe bzw. das Motto "to big to fail" ist keine angemessene Lösung für den stattfindenden Paradigmenwechsel entlang der Customer Journey.
Effizienz + Convenience ist der Schlüssel, um Konsumenten zu überzeugen und zum Kauf zu bewegen. Effizienz ist der Schlüssel, für eine moderne Shopping-Erfahrung, die wenig Zeit beansprucht und dadurch den Konsumenten zusätzliche "Freiheit" für das private Produkterlebnis ermöglicht. Effizient bedeutet somit auch Transparenz bzgl. Produkt-Performance und Preisgestaltung.
Transparenz & Preisreduktion
Black Friday, Black Week, Singles Day und alle weiteren Deal-Events wie Prime Day, "Mehrwertsteuer geschenkt", Late-Evening- oder Weekend-Shopping - ist für Home Electronics der Versuch gemein, Konsumenten zu zusätzlichen wie "vorgezogenen" Einkäufen zu bewegen. Da Technik-Produkte i.d.R. nur einmal pro Nutzer gekauft werden, ist der Zeitpunkt dieser Aktionen entscheidend: Wer eine Aktion zuerst startet, besitzt einen nicht zu unterschätzenden Vorteil. Analoges gilt für Special-Sales-Ankündigungen mit dem Ziel, Konsumenten zum Aufschieben von Einkäufen zu bewegen, bis die (eigene) Sales-Aktion oder der eigene Deal-Event startet.
Die grundsätzliche Bereitschaft der Konsumenten bei Deals-Events nach attraktiven und sich lohnenden Angeboten Ausschau zu halten, ist hoch. Die konkrete Kaufabsicht, also die Entscheidung definitiv kaufen zu wollen, ist dagegen eher verhalten. Hohe Ausstattungsraten machen abwartendes Kaufverhalten bis zum nächsten Deal-Event möglich. Abwartende Konsumenten benötigen zum Kauf zusätzliche Impulse, wie die Sicherheit - das richtige Produkt zu kaufen - und Transparenz - so dass Special Sales auch wirklich Special Sales sind und Preise im Vorfeld nicht unbemerkt erhöht wurden. Effizienz bedeutet somit auch Transparenz, wodurch die Zeit für das Verifizieren und Vergleichen verschiedener Angebote reduziert wird.
Preisreduktionen müssen real, erlebbar und nachvollziehbar sein. Gerade in Zeiten, in denen Medien auf gesellschaftliche Herausforderungen und Zukunftsängste fokussieren oder Konsumenten mit einer allgemeinen Preissteigerung und Inflation im zweistelligen Prozentbereich konfrontiert werden, kommt diesem Aspekt besondere Bedeutung zu. Deal-Events müssen echt sein! Transparenz und Preisreduktion sind in Kombination bei hohen Haushaltsausstattungsraten und länger werdenden Wiederkaufszyklen dringend erforderliche Kaufimpulse.
Online First & Sortimentsausweitung
"Online First, kombiniert mit einer pragmatisch-effizienten wie bequemen Shopping-Experience" war die eindeutige und klare Prämisse unseres Artikels vor knapp einem Jahr. Diese Empfehlung ist weiterhin beizubehalten. Retail-Shops welcher Art auch immer - in City Lagen, am Stadtrand oder als Pop-up - sind entsprechend ihres Standortes in ein derartiges Shopping-Konzept einzubinden. Beratung vor Ort, Produkt-Pick-up, Produkt-Rücknahme, Trouble-Shooting und so weiter. Der Shop wird zum Service Point für Kunden, zu einer Art MSP (Managed Service Provider) für Konsumenten, der vielfältig in eine online-fokussierte Verkaufsstrategie eingebunden ist.
Hinzu kommt nun der Faktor Sortimentsausweitung. Vergleichsweise lange Wiederbeschaffungszyklen und hohe Haushaltsausstattung führen in bestehenden Sortimentsbereichen trotz aller Anstrengungen und Innovation zu stabilen, tendenziell rückläufigen Umsätzen wie die aktuellen Herausforderungen der CE-Branche in der Abbildung oben zeigen. Ein breiteres Sortiment macht den Shop grundsätzlich attraktiver, führt dadurch zu höherer Kundenfrequenz im Shop und eröffnet weitere Umsatzpotentiale in den zusätzlich angebotenen Produktbereichen. So wie heute Computer & Smart Phones teil von Home Electronic sind, werden es morgen weitere Themen rund um Outdoor oder Mobilität sein.
Diese Sortimentserweiterung ist online im Web-Shop schnell wie kostengünstig umzusetzen. Sortimente online wie physisch vor Ort werden sich in Zukunft unterscheiden müssen: online breit & vielfältig, vor Ort fokussiert und individuell. Die aktuell herausfordernde Zeit eignet sich besonders gut für eine Neuausrichtung, da Konsumenten deutlich offener neuem gegenüberstehen. Zudem scheinen Konsumenten in "anderen" Bereichen deutlich stärker als bei Home Electronics zu sparen. Die Geschäftslage der CE-Branche liegt aktuell deutlich über der allgemeinen Konsumstimmung wie auch deutlich über der allgemeinen Kaufabsicht der Konsumenten (siehe Abbildung oben).
Herausfordernde Zeiten sind immer auch Zeiten des Wandels. Der Retail hat die Chance mit neuen Technologien beim Konsumenten zu punkten. Zeitgemäße Kundenansprache bedeutet heute "Online First, kombiniert mit einer pragmatisch-effizienten, transparenten wie bequemen und sortimentsübergreifenden Shopping-Experience". Das ist der neue Retail des 21. Jahrhunderts.
Alle weiteren iSCM-Analysen finden Sie hier.