Henning Kagermann, acatech

Industrie 4.0 schafft ein unvorhersehbares Umfeld



Joachim Hackmann ist Principal Consultant bei PAC – a teknowlogy Group company in München. Vorher war er viele Jahre lang als leitender Redakteur und Chefreporter bei der COMPUTERWOCHE tätig.

Massenfertigung mit Losgröße eins ist das Ziel

CW: Die Möglichkeiten einer Industrie 4.0 regen zu Phantasien an. Wenn es um konkrete Beispiele geht, stehen meist Einsparungen im Vordergrund. Ist das alles?

Kagermann: Um es kurz zu machen: Es geht um Flexibilität, Produktivität und schnellere Innovationszyklen durch bessere Rückkoppelung.

Flexibilität war der Auslöser der Initiative, das Zauberwort heißt Losgröße eins. Das bedeutet, dass Fertigung und Servicebetrieb bedarfs- und verbraucherorientiert erfolgen.

Wenn die Flexibilität mit einer Losgröße eins im Extremfall nicht durch höhere Preise zu erzielen ist, weil der Markt das nicht hergibt, muss die Produktivität besser werden. Unterm Strich wird die Fertigung dadurch ressourcenschonender und nachhaltiger.

Das Versprechen lautet: Hohe Flexibilität, bessere Produktivität, effizienter Ressourcenverbrauch.

Und es gibt einen weiteren Effekt: Wir können die Fertigung wieder in urbane Räume verlagern, so dass sich der Pendelverkehr zwischen Arbeitsplatz und Wohnort reduziert. Die Fabriken rücken näher an den Lebensmittelpunkt der Mitarbeiter.

Deshalb bin auch davon überzeugt, dass Industrie 4.0 abheben wird: Sie bringt wirtschaftliche, ökologische und soziologische Besserung. Mit diesem Dreiklang spricht die Industrie 4.0 alle beteiligten Stakeholder an.

CW: Das klingt zu schön, um wahr zu sein.

Kagermann: Zugegeben, das ist unsere Vision. Die muss man aber erzählen, um das Ziel zu veranschaulichen, um die Leute mitzunehmen.

Digitalisierung verändert Marktstrukturen

CW: Über welche Zeiträume reden wir?

Kagermann: Das Projekt der Firma Wittenstein ist konkret, die Innovationsfabrik wurde im Mai eröffnet. Doch das ist eine Ausnahme. Insgesamt reden wird über einen langen Zeitraum. Erste Industrie-4.0-Produkte werden in drei Jahren erscheinen. Bis die vernetzte Fertigung echte erkennbare Formen annimmt dürften zehn Jahre vergehen.

CW: Wenn das reicht. Maschinen haben Abschreibungszeiträume, die in Jahrzehnten gemessen werden.

Kagermann: Der Prozess wird evolutionär verlaufen. Aber wenn man in 15 Jahren zurückblickt, wird es wie eine Revolution erscheinen.

CW: Viele der großen IT-Unternehmen haben heute Probleme, sie erzielen nicht mehr das Wachstum früherer Jahre. Ist die digitale Vernetzung eine Möglichkeit, wieder mehr Fahrt aufzunehmen?

Kagermann: Das ist nicht nur in der IT-Industrie so, sondern in nahezu allen Branchen. Sehen Sie sich die Energiewirtschaft an, dort macht die Dezentralisierung in der Energiegewinnung den Versorgern zu schaffen. Die Diskussionen über Smart Grid ist dort vergleichbar mit dem Thema Industrie 4.0. Es geht um individuellen Verbrauch und Erzeugung: Oder das Gesundheitswesen: Auch hier gibt es eine vergleichbare Entwicklung zur individualisierten Medizin.

Und überall stecken die gleichen IT-Methoden dahinter: Es dreht sich um die Personalisierung durch Smart Data, Ad-hoc-Vernetzung oder Simulation an digitalen Modellen.

CW: Verlieren die früher mächtigen IT-Anbieter, die schon mal eigene Standards durchsetzen konnten, an Strahlkraft, weil die Entwicklungen dezentraler verlaufen?

Kagermann: Die IT-Industrie wird sich verändern. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sämtliche Lösungen von ein oder zwei großen Anbietern kommen werden. Die Chancen für Spezialisten sind groß, weil das Geschäft vielfältiger wird. Nichtsdestotrotz wird es große Betreiber von Plattformen geben.

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