Agilität und Organisationsentwicklung

Agile Transformationen werden in 2/3 der Fälle falsch angegangen

Ivan Kovynyov ist Senior Director, Head Business Technology Schweiz bei Capgemini Invent.
75 Prozent analysierter Unternehmen haben signifikante Schritte in Richtung Agilisierung unternommen. Zwei Drittel von ihnen haben jedoch trotz ihrer eigenen Überzeugung das Ziel nicht erreicht und werden es mit dem gewählten Ansatz auch nicht erreichen.

Agilität ist heutzutage ein heißes Thema auf dem Gebiet der Organisationsentwicklung. Immer mehr Unternehmen starten agile Transformationen mit dem Ziel, die Agilität in ihren Organisationen zu verankern. Die Managementberatung Kobaltblau hat gemeinsam mit dem Karlsruher Institut für Technologie eine Befragung unter 125 Unternehmen mit Sitz in Deutschland, Frankreich und der Schweiz zu ihren Agilisierungsstrategien durchgeführt.

Vier Profile agiler Organisationen

Agilität verändert Organisationen in diversen Dimensionen wie Kultur, Werte, Führung, Aufbauorganisation, Prozesse, Arbeitsweisen, Lösungsentwicklung und nicht zuletzt Unternehmensarchitektur. Die Studie hat den Reifegrad einzelner Dimensionen abgefragt und daraus vier charakteristische Profile in Bezug auf den gesamten Agilisierungsgrad ermittelt:

  1. Nachzügler: agile Praktiken und DevOps-Elemente werden spotartig in den einzelnen Bereichen wie IT oder R&D eingesetzt. Agile Kultur und Mindset sind nicht durchgehend bekannt. Organisationsstruktur bleibt unverändert und basierend auf traditionellen Ansätzen wie divisionale Organisationsstruktur oder Matrix-Organisation. Projekt-orientiertes Denken dominiert. Die Produktorientierung ist nicht etabliert.

  2. Innovatoren: hoher Reifegrad in Bezug auf Kultur, Werte, Führung und Organisation. Neue Organisationsformen und cross-funktionale Zusammenarbeit sind Top-Themen in diesem Cluster. Klarer Fokus auf Mitarbeiter und nicht auf die technische Reife. Unternehmen in diesem Cluster tendieren dazu, ihre agilen Transformationen aus dem Business zu starten und Mitarbeiter-zentriert anzugehen.

  3. Techniker: agile Tools und Praktiken sind gut etabliert und unterstützen die agile Lösungsentwicklung. Klare Produktorientierung und Arbeiten in Value Streams sind etabliert. Strukturen, Rollen und Verantwortlichkeiten bleiben jedoch klassisch tayloristisch. Trendwende in Bezug auf Kultur, Werte und Organisation ist noch nicht erreicht.

  4. Spitzenreiter: Konsistent hoher Reifegrad in allen Dimensionen. Kundennähe ist gegeben. Trendwende in Kultur, Werten, Führung und Organisation ist eindeutig erreicht. Agile Arbeitsweisen dominieren in der gesamten Organisation. Das agile Delivery-Modell zeichnet sich durch starke Produktorientierung, kurze Time-to-Market und häufige Kundenfeedbackzyklen aus.

 Immer mehr Unternehmen starten agile Transformationen mit dem Ziel, die Agilität in ihren Organisationen zu verankern.
Immer mehr Unternehmen starten agile Transformationen mit dem Ziel, die Agilität in ihren Organisationen zu verankern.
Foto: Photon photo - shutterstock.com

Die Profile zeigen zwei Glaubensrichtungen bezüglich der Einführung von Agilität in Unternehmen: Innovatoren setzen stark auf neue Organisationsformen, während sich Techniker mehr auf das agile Delivery-Modell konzentrieren. Nur Spitzenreiter zeigen ein ausbalanciertes Profil mit hohem Reifegrad in allen Dimensionen auf.

Was machen die Spitzenreiter anders?

Die überraschende Erkenntnis: während die meisten Unternehmen ihren Agilisierungsansatz auf das Projektmanagement (60 Prozent) und die Lösungsentwicklung (50 Prozent) ausrichten, fokussieren sich die Spitzenreiter stattdessen auf die Agilisierung der Prozesse. 75 Prozent der Spitzenreiter geben an, dass ihre Prozesse (insb. Planung, Budgetierung und Ressourcenallokation) flexibel genug sind, auf wechselnde Prioritäten innerhalb ihrer Organisationen reagieren zu können.

Nur wenige Unternehmen (Spitzenreiter) überzeugten in ihren Agilitätswerten. Die breite Masse bewegt sich um den Mittelwert der Punktewolke.
Nur wenige Unternehmen (Spitzenreiter) überzeugten in ihren Agilitätswerten. Die breite Masse bewegt sich um den Mittelwert der Punktewolke.
Foto: kobaltblau Management Consultants AG

Der Unterschied zwischen den Spitzenreitern und dem Rest der Befragten geht auch dahin, dass 66% der Spitzenreiter Entscheidungskriterien für den Einsatz agiler Methoden etabliert haben und nicht unbedingt einen höchstmöglichen Anteil agiler Projekte in ihren Projektportfolios anstreben. Nur 6% der Nachzügler stimmen dieser Aussage zu.

Business Agility: viel Nachholbedarf bei den Support-Funktionen

Support-Funktionen, wie Personalwesen, Finanzen und Administration, werden von der Mehrheit der Befragten (70 Prozent) als wenig agil gesehen. Überraschend ist, dass das Linienmanagement trotz aller Bemühungen rund um das Thema Agile Führung von 24 Prozent aller Befragen als nicht agil eingestuft wurde. Das Linienmanagement ist somit nach Personalwesen, Finanzen, Administration und Legal, Risk & Comliance auf dem Platz 3 nicht agiler Unternehmensfunktionen.

Eigene IT wird von 65 Prozent der Befragten als die am meisten agile Funktion genannt. Unternehmen aus Industrien wie Automotive und Manufacturing nennen auch Research & Development in diesem Zusammenhang. Bemerkenswert ist der Unterschied zu den Spitzenreitern, welche mit Abstand (80 Prozent) die Produktentwicklung als die agilste Funktion innerhalb ihrer Organisationen sehen.

Die Einführung von Agilität geht über die IT hinaus und betrifft die Modernisierung anderer Funktionen.
Die Einführung von Agilität geht über die IT hinaus und betrifft die Modernisierung anderer Funktionen.
Foto: kobaltblau Management Consultants AG

Darüber hinaus bestätigen über 80 Prozent aller Spitzenreiter, dass Softwaretests in ihren Organisationen automatisiert ablaufen und über alle Phasen des Entwicklungsprozesses verteilt sind. Nahezu 100 Prozent aller Spitzenreiter geben ferner an, dass die Verkürzung von Release-Zyklen durch den Einsatz von Continuous Delivery, Deployment und Integration ihre Time-to-Market signifikant reduziert hat.

Nutzung agiler Skalierungsframeworks

Skalierung agiler Methoden ist ein weiteres Trennungsmerkmal zwischen agilen und weniger agilen Organisationen. Während 90 Prozent aller Spitzenreiter und nahezu 100 Prozent aller Innovatoren angeben, Skalierungsframeworks zu nutzen, liegt der restliche Durchschnittswert bei ca. 40 Prozent. Die Spitzenreiter setzen im Schnitt zwei bis drei Skalierungsframeworks gleichzeitig an, während der Rest eher bei eins bis zwei liegt.

Aktuelle Nutzung agiler Skalierungsframeworks
Aktuelle Nutzung agiler Skalierungsframeworks
Foto: kobaltblau Management Consultants AG

Am häufigsten wird das Framework «Scrum of Scrums» eingesetzt (35 Prozent aller Befragten), eng gefolgt von eigenentwickelten Methoden. SAFe und LeSS holen auf, sind jedoch nicht unter den Top drei der am häufigsten eingesetzten Skalierungsframeworks. Weitere, häufig genutzte Frameworks sind Lean Management und Agile Portfolio Management.

Konsequenz für die CEOs und CIOs

Eine wichtige Erkenntnis: der Anteil an agilen Projekten im gesamten Projektportfolio ist eher eine Konsequent von der Agilität und nicht die Voraussetzung dafür. Durch die Einführung diverser agiler Projektmanagement-Methoden schafft man nicht notwendigerweise eine agilere Organisation. Führungskräfte sollen daher ihre agilen Transformationen mehr auf die Agilisierung der Prozesse, den Kulturwandel und Veränderungen in der Organisation ausrichten und weniger auf die Projektarbeit als solche. Hier empfiehlt sich eine Investition in die Förderung der cross-funktionalen Zusammenarbeit, Aufbrechen des Silo-Denkens und Etablieren der Selbstorganisation in den Teams.

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