Die Medizin durchläuft derzeit den größten Veränderungsprozess aller Zeiten. Sie muss sich gleich einem mehrfachen Paradigmenwechsel stellen: der Geschwindigkeit der Digitalisierung, der demographischen Entwicklung in den Industrieländern, aber auch einer weiter fortschreitenden Ökonomisierung des Gesundheitswesens.
Das macht sowohl auf klinischer, aber auch auf gesellschaftlicher und gesundheitspolitischer Ebene neue Ansätze und neues Denken erforderlich.
Der letzte vergleichbare, aber langsamer ablaufende Paradigmenwechsel geht auf Mitte des 17. Jahrhunderts zurück, als Antoni von Leeuwenhoek (1632-1723) mit seinem Mikroskop das Kapillarsystem, rote Blutkörperchen, Spermien und Bakterien visualisierte.
Die Nutzung digitaler Technologien für molekularmedizinische Befunde oder Verfahren birgt ein darüber hinausgehendes Potenzial. Vor einer Diskussion spezieller inkrementeller Anwendungen oder Vorteile digitaler Entwicklungen und Innovationen in der Medizin gilt es, den Blick von oben auf größere, in Umsetzung befindliche Digitalisierungsprojekte zu richten.
Die Digitalisierung der Gesundheitsversorgung ist in vollem Gange. Von herausragender Zielsetzung ist die digitale Interaktion aller Akteure des Gesundheitswesens, also von Krankenhäusern, Praxen, Rehabilitationseinrichtungen, Apotheken, Kostenträgern und einer Reihe weiterer Einrichtungen.
Zur Unterstützung dieses Vorhabens wurde das „Gesetz für sichere digitale Kommunikation und Anwendungen im Gesundheitswesen“ - kurz E-Health-Gesetz genannt - verabschiedet. Damit soll die elektronische Gesundheitskarte (eGK) endlich mit Anwendungen bestückt werden. Die digitale Plattform dafür - die Telematikinfrastruktur - soll mittelfristig die unterschiedlichen Bereiche des Gesundheitswesens über die Sektorengrenzen hinweg miteinander vernetzen.
Seit Ende 2018 sind Arztpraxen und Krankenhäuser an die Telematikinfrastruktur angebunden. Dieser unzweifelhaft wichtige Schritt im Kontext der digitalen Unterstützung des Gesundheitswesens entbindet natürlich nicht die einzelnen Institutionen davon, sich mit eigenen Digitalisierungsinitiativen auseinanderzusetzen. Dass bereits heute kein Krankenhaus mehr ohne digitale Hightech auskommt, weiß jeder, der in jüngerer Vergangenheit Gelegenheit hatte, an der einen oder anderen Stelle den Klinikalltag zu erleben.
Seit jeher sind Universitätskliniken nicht nur beim medizinischen Fortschritt, sondern auch bei der Digitalisierung ein wichtiger Impulsgeber. Dies gilt in Deutschland insbesondere für die Universitätsmedizin Essen, die sich im Rahmen eines umfassenden Transformationsprozesses auf den Weg zum Smart Hospital gemacht hat. Die zum Konzern gehörende Universitätsklinik, eine große Lungenfachklinik, ein Herzzentrum, ein Krankenhaus der Grundversorgung, das Westdeutsche Protonentherapiezentrum Essen sowie mehrere Tochterunternehmen bilden die Basis für eine komplexe digitale Vernetzung innerhalb der verschiedenen Standorte mit einer darüber hinausgehenden Anbindung an externe Partner.
Digitalisierung nimmt Fahrt auf
Digitalisierung im Krankenhaus ist ein evolutionärer Prozess. Dieser nimmt aktuell unglaublich an Fahrt auf, auch weil verschiedene Technologien wie Künstliche Intelligenz, Blockchain-Technologie oder Robotik in verschiedene Bereiche eines Klinikbetriebs parallel Einzug halten.
Damit verändert sich nicht nur die Verarbeitungsgeschwindigkeit bei einzelnen Aufgabenstellungen. Es werden auch große Mengen an Daten und Informationen generiert. Was vielfach fehlt, ist die geeignete Infrastruktur, um die verschiedenen digitalen Initiativen miteinander zu vernetzen. Die an unterschiedlichen Stellen generierten Daten und Informationen müssen zusammengeführt und im Sinne der Patienten zu einer substanziellen Qualitätssteigerung in der Gesundheitsversorgung genutzt werden. Denn Ziel der Digitalisierung im Gesundheitswesen muss es immer sein, dem Wohl des Menschen zu dienen – also Patienten neue Möglichkeiten zur Behandlung ihrer Krankheiten anzubieten und gleichzeitig die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu entlasten.
Gerade der zweite Punkt wird bei der Diskussion über die Perspektiven einer digitalisierten Medizin fälschlicherweise häufig vergessen – dabei bietet die Digitalisierung gerade für die Beschäftigten in der Klinik eine große Chance, von patientenfernen Aufgaben - etwa der Dokumentation - entlastet zu werden und dadurch wieder mehr Zeit für den Patienten zu haben.
Den Krankenhäusern kommt bei all den vorgenannten Überlegungen eine ganz besondere Bedeutung zu. Dabei bedarf es Vordenkern und Vorreitern, die die notwendigen Veränderungen vorantreiben und etablieren. Diese Herausforderung hat die Universitätsmedizin Essen angenommen. Sie spielt eine zentrale Rolle in der regionalen Gesundheitsversorgung der Metropolregion Ruhr und wird in aller Konsequenz als eine der ersten Kliniken in Deutschland zu einem Smart Hospital weiterentwickelt.
Die Universitätsmedizin Essen definiert Smart Hospital als einen Transformationsprozess, in dessen Verlauf eine traditionelle Universitätsklinik in eine digitalisierte, eindeutig auf die Patienten und Mitarbeiter fokussierte Organisation verwandelt wird. Um dies zu erreichen, orientiert sich unsere gesamte medizinische und unternehmerische Strategie an dieser Vision, beginnend mit der Einstellung und Ausbildung talentierter digitaler UND medizinischer Talente, der Besetzung von Klinikdirektoren und weiterer Führungspositionen bis hin zu Investitionen in medizinische Geräte und die Infrastruktur.
Das Smart Hospital befindet sich im Zentrum des staatlichen Gesundheitssystems, ist eine nach allen Seiten informationsoffene Steuerungseinheit und dabei eng verzahnt mit allen vor- und nachgelagerten medizinischen Dienstleistungen, also niedergelassenen Ärzten, Rehabilitationseinrichtungen sowie Apotheken. Auch die medizinische Ausrichtung verschiebt sich: Statt des bisherigen klinischen „Reparaturbetriebs“ geht der Fokus hin zu Prävention und „Disease Interception“, also der kontinuierlichen Gesunderhaltung durch das Vermeiden oder zumindest frühestmögliche Erkennen einer Krankheit.
Neben den Patienten steht vor allem die Entlastung der eigenen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Mittelpunkt, insbesondere in der Pflege. Denn tatsächlich haben wir in Deutschland keinen Pflegenotstand in Bezug auf die reine Kopfzahl der Pflegekräfte im Krankenhaus, sondern auf die für den einzelnen Patienten zur Verfügung stehende Zeit. Die Digitalisierung wird - nicht zuletzt durch die weiter unten beschriebene Elektronische Patientenakte - helfen, den Aufwand für patientenferne Tätigkeiten wie Administration und Dokumentation zu minimieren. Das bedeutet mehr Zeit für unsere Patienten mit ihren Sorgen und Gefühlen.
Bei der Weiterentwicklung zum Smart Hospital geht es nicht nur um Prozessoptimierungen oder um datenbasierte Behandlungen. Es geht vielmehr um einen Digitalisierungsprozess in zahlreichen Schritten, die gemeinsam mit den Patienten und Mitarbeitern gegangen werden müssen.
Es ist weniger die Informationstechnologie als vielmehr der Mensch, der einer raschen Weiterentwicklung manchmal entgegensteht. Aus diesem Grunde erfordert die Digitalisierung eines Krankenhauses einen umfangreichen internen Veränderungsprozess, der Schritt für Schritt zu gehen ist. Dabei müssen die mit der Digitalisierung einhergehenden Probleme identifiziert, offen angesprochen und Lösungen erarbeitet werden. Hierzu gehört ganz besonders auch die Kommunikation von zu erwartenden Ergebnissen und Auswirkungen, die alle Beteiligten zur Unterstützung des Veränderungsprozesses motivieren muss.
Der Digitalisierungsprozess verfolgt das Ziel, die durch eine breite Vernetzung der vom medizinischen Personal und von digitalisierten medizinischen Geräten generierten Daten in eine Elektronische Patientenakte zu überführen. Die Elektronische Patientenakte ist die Basis für das Smart Hospital, zu dem in Essen verschiedene weitere Unterstützungs- und Spezialisierungssysteme gehören oder künftig gehören werden, wie
• ein digital unterstütztes Call Center
• die Anbindung eines sektorenübergreifenden Telemedizinnetzes
• eine sektorenübergreifende Kommunikationsplattform
• die Verfügbarkeit eines App-Stores für die optimierte Patientenbetreuung sowie für die Nachversorgung in allen medizinischen Bereichen
• ein Robotik-Center
• eine Abteilung für 3D-Druck
• ein Datenvalidierungszentrum
All diese und weitere Komponenten werden im Kontext des Masterplans Smart Hospital in einer definierten Reihenfolge implementiert. Manches geht langsamer, manches schneller, anderes ist ein kontinuierlicher Digitalisierungsprozess, stets ausgerichtet auf die beiden wesentlichen Zielgruppen für eine erfolgreiche Krankenhausdigitalisierung, die Patienten und die Mitarbeiter.
Im Mittelpunkt der Mensch
Digitalisierung im Krankenhaus ist also kein Selbstzweck, sondern dient der Qualitätsverbesserung und der Optimierung von Prozessen. Dabei ist die übergeordnete Zielsetzung in einem Smart Hospital, dass Patientinnen und Patienten dieses gleichermaßen als Ort persönlicher und warmherziger Zuwendung mit spitzenmedizinischer Behandlung erleben.
Der erfolgsentscheidende Faktor zum Erreichen dieses Ziels ist der Mensch selbst. Denn sowohl die Beschäftigten als auch die Patienten selbst müssen mit auf den Weg genommen werden. Sie müssen den Nutzen erkennen, den bereits heute die Digitalisierung für jeden Einzelnen in seinem Bereich bringen kann. Das gilt sowohl für die digital aufgeschlossenen Menschen als auch für jene, die Sorgen oder gar Ängste vor dem Ungewissen haben.
Wichtig ist es, dass der Nutzen der Digitalisierung für Menschen nicht abstrakt bleibt, sondern erlebbar wird. Ein gutes Beispiel für einen erkennbaren Nutzen ist die klinische Anwendung Künstlicher Intelligenz. Schon heute werden in der Universitätsmedizin Essen kognitive Computersysteme in der Klinik für Radiologische Diagnostik (Direktor: Prof. Dr. Michael Forsting) eingesetzt, um Krankheitsbilder schneller und genauer zu diagnostizieren. Durch die Vernetzung mit internationalen Datenbanken wird dabei ein immens breites Wissen genutzt, aber auch zur Verfügung gestellt, um passgenaue Therapiekonzepte für jeden Patienten zu erstellen und umzusetzen.
In diesen Kontext passt auch das im Sommer 2019 neu gegründete „Institut für Künstliche Intelligenz in der Medizin“, das mit mehreren Professorenstellen besetzt wird. Das Institut wird neue Wege aufzeigen, wie Diagnostik, Prävention und Therapie im Sinne unserer Patientinnen und Patienten zusammengeführt werden können. Damit werden wir bessere und schnellere Diagnosen stellen und die Therapien immer exakter und individueller auf unsere Patienten einstellen.
Die Universitätsmedizin Essen bezieht auf ihrem Weg zum Smart Hospital die Kompetenzen und die Erfahrungen der Patienten umfänglich ein. Auch dafür wurde das „Institut für Patientenerleben“ gegründet, das ganz eng in die digitalen Umstrukturierungsprozesse eingebunden wird. Damit ist die Digitalisierung der zentrale Schlüssel, den Patienten wieder verstärkt in den Fokus der Behandlung im Krankenhaus zu stellen. Neben Prozessoptimierungen und Entlastungen des Personals von fachfremden Arbeiten wird die standardisierte Medizin hin zur personalisierten Medizin oder treffender ausgedrückt, zur Präzisionsmedizin geöffnet.
Auch wenn beide Begriffe für ein ähnliches Ansinnen eingesetzt werden, gibt es wesentliche Unterschiede: Personalisiert bedeutet ja im Grunde eine streng auf diese eine Person ausgerichtete Therapie, also beispielsweise eine für diese eine Person ausgerichtete Antikörpertherapie.
Dies ist aber nicht wirklich zutreffend. Es geht vielmehr um eine ganz präzise Patientenauswahl für das nach aktuellen Behandlungskriterien am besten erscheinende Behandlungskonzept. Diese Auswahl wird immer stärker digital und KI-basiert festgelegt. Ein weiterer gängiger Begriff ist die individualisierte Therapie. Nicht die Begrifflichkeit ist das innovative, sondern die intelligente Datenauswertung, basierend auf individuellen Daten aus Radiologie, Pathologie, Molekulargenetik, Mikrobiologie, Virologie, Serologie und weiteren diagnostischen Verfahren, die mit dem Wissen der Medizinliteratur in Verbindung gebracht werden.
Bei all diesen Überlegungen darf der Datenschutz natürlich nicht aus den Augen verloren werden. Universitätsklinika genießen dabei als Anstalten öffentlichen Rechts ein besonderes Vertrauen. Schließlich zählt Gewinnmaximierung nicht zu den Prinzipien dieser Häuser, sondern Forschung, Lehre und die Weiterentwicklung der Spitzenmedizin. Letztere wird künftig allerdings nicht mehr ohne eine über kognitive Computersysteme ablaufende, datenbasierte Forschung weiterentwickelt werden können.
Die durch den Datenschutz aufgestellten Regularien behindern allerdings auch an verschiedenen Stellen eine für die Patienten orientierte Vorgehensweise. Mit anderen Worten bedeutet dies, dass die digitale Transformation deutlich langsamer abläuft als sie ablaufen könnte. Hier bleibt es abzuwarten, welchen Effekt die seit dem 25. Mai 2018 in Kraft getretene Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO) langfristig haben wird, mit der die Regeln für die Verarbeitung von personenbezogenen Daten durch private Unternehmen und öffentliche Stellen EU-weit vereinheitlicht werden.
Beim Thema Datenschutz ist natürlich nicht nur an die spezielle Situation eines Krankenhauses zu denken, ganz besonders außerhalb von Kliniken und Praxen nehmen die Datenmengen zu.
So drängen mehr und mehr Patienten oder auch Gesunde, vor allem die Digital Natives, auf Integration der eigenen Daten, die sie über Selbstvermessungen generiert haben, in die medizinische Betreuung. Hierzu gehören auch die über Wearables erhobenen Vitaldaten, die sie gern vertrauenswürdigen Instanzen zur Verfügung stellen möchten, wenn es ihrer Gesundheit dient.
Diese Akzeptanz wird in breiten Bevölkerungsschichten wachsen, wenn das Spektrum der über digitale Devices erfassten Vitalparameter wächst. Denn auch für viele ältere Menschen steigt die Lebensqualität, wenn etwa nach einer Operation oder im Zuge einer Behandlung ganz bequem Blutdruck, Herzfrequenz, Sauerstoffsättigung, Blutzucker und andere Werte regelmäßig gemessen, analysiert und auf diese Weise behandlungswürdige Ereignisse identifiziert werden, zu deren Zeitpunkt die Menschen noch überhaupt keine Beschwerden haben.
Pionierarbeit leisten
Der Einsatz digitaler Technologien im Gesundheitswesen wächst rasant. Heutzutage ist aus technologischer Sicht auch in Krankenhäusern Unglaubliches möglich. Vielfach steht der raschen Einführung die Finanzierung entgegen, aber auch der Mensch, vor allem die Mitarbeiter eines Unternehmens. Generelle Zurückhaltung für Veränderungen oder Sorgen um die Entwicklung des eigenen Arbeitsplatzes, der sich ebenfalls durch die Digitalisierung verändern wird, sind Erklärungen hierfür.
So bedeutet der Weg zum Smart Hospital zu allererst einmal, Pionier- und Überzeugungsarbeit zu leisten. Erste Kliniken wie die Universitätsmedizin Essen sehen in der digitalen Transformation eine große Chance. Diese zu nutzen erfordert nicht nur Mut, sondern auch eine große Anstrengung, alle Menschen mit auf den Weg der Digitalisierung zu nehmen.
Daher ist es wahrscheinlich nicht einmal eine Technologie oder eine besondere Innovation, die den Weg erfolgreich macht. Es ist die Begleitung aller Beteiligten, die dazu notwendig ist, um ein Smart Hospital zu schaffen, das die Patienten als Ort persönlicher und warmherziger Zuwendung mit spitzenmedizinischer Behandlung erleben werden.
Damit dies gelingt, sind alle Beteiligten, insbesondere aber auch die Klinikdirektoren, weitere Führungskräfte und die Gremienvertretungen eng in den umfassenden Change-Prozess eingebunden: die Transformation zum Smart Hospital als Blaupause für das Krankenhaus der Zukunft.