Logistik 4.0

Alter Wein in neuen Schläuchen?



Geert-Jan Gorter machte sich im August 2004 nach einem Physik-Studium an der Universität Twente in Enschede (NL) und mehreren Jahren als Projektleiter in der Softwareentwicklung mit der proLOGiT GmbH in Dortmund selbstständig. 2013 gründete Gorter mit Christian Krüger die catkin GmbH in Dortmund, die ein unternehmensübergreifendes Kommunikationsportal für Logistik-Aufträge in komplexen Dienstleisterstrukturen anbietet.
IoT, Industrie 4.0, Digitale Transformation: Rund um die Digitalisierung liegen derzeit jede Menge tollklingende Begriffe voll im Trend. Was steckt dahinter?

Industrie 4.0, Industrial Internet of Things, Industrial Data Space, Logistik 4.0, Smart Logistics - Begriffe wie diese liegen derzeit voll im Trend. Aber drücken sie wirklich etwas Neues aus? Oder stehen sie nur für einen substanzlosen Hype? Konzepte zu papierlosen oder papierminimierten Prozessen sind schließlich bereits Jahrzehnte alt und werden in vielen Geschäftsbereiche schon lange praktiziert.

Vernetzung in der modernen Logistik.
Vernetzung in der modernen Logistik.
Foto: Eisenhans - Fotolia.com

Doch es gibt tatsächlich einen gravierenden Unterschied zwischen der Digitalisierung 4.0 und der herkömmlichen digitalen Automatisierung (Industrie 3.0?). Denn die Cyber Physical Systems (CPS) als Kern der zukünftigen Produktion haben das Potenzial, die Art und Weise, wie wir technische Systeme konstruieren, und wie wir in vielen Domänen mit der Umwelt interagieren, tiefgreifend zu verändern.

Cyber Physical Systems sind dabei keine grundlegend neue Technologieklasse, sondern ein Oberbegriff für Anwendungen, die mit einem Mix aus einer Reihe von Technologien eine engere Kopplung von physischer und digitaler Welt erreichen. Diese Technologien entstammen sowohl der jeweiligen Industrie-Anwendungsdomäne - zum Beispiel entsprechende Sensoren und Aktoren - als auch der Informations- und Kommunikationstechnik, wie zum Beispiel Software-Komponenten und Kommunikationsprotokolle sowie aus dem Bereich der hochverfügbaren Kommunikationsnetze.

Wobei der hier zu Lande meist verwendete Begriff "Industrie 4.0" außerhalb von Deutschland nicht so sehr gebräuchlich ist. In den USA oder in Asien beschäftigen sich zwar Wissenschaftler und Unternehmen mit ähnlichen Fragestellungen. Doch das "Industrial Internet of Things" hat einen breiteren Ansatz als nur die Digitalisierung von Produktion, Fabriken oder Maschinen.
Während in Deutschland Industrie 4.0. oder Logistik 4.0 häufig Ziele an sich sind, wird das Internet of Things (IoT) in anderen Teilen der Welt eher als Mittel zum Erreichen bestimmter Ziele verstanden - seien sie wirtschaftlicher, politischer oder arbeitsrechtlicher Natur.

Fünf Funktionsbereiche von Industrie 4.0

Laut einer aktuellen Studie umfasst Industrie 4.0 fünf Funktionsbereiche, die über Unternehmen und Branchen hinweg Gültigkeit haben:

  • Datenerfassung und -verarbeitung

  • Assistenzsysteme

  • Vernetzung und Integration

  • Dezentralisierung und Serviceorientierung

  • Selbstorganisation und Autonomie

All diese Anwendungen sind für Logistiker schon längst keine Zukunftsmusik mehr.

Dennoch werden die damit verbundenen Potenziale nur zögerlich und bei Weitem noch nicht im vollen Umfang genutzt - auch das bestätigen die Verfasser der Studie. Insbesondere der Mittelstand müsse für den Nutzen und die Vorteile, die das Ziel einer sich komplett selbst steuernden Produktion mit sich bringt, sensibilisiert werden.

Die enge Verknüpfung digitaler Systeme und Modelle mit Gegenständen und Abläufen der realen Welt über geeignete Sensoren, Aktoren, Prozessoren und Software-Komponenten bedeutet einen Paradigmenwechsel und geht weiter über das hinaus, was bisher unter dem Stichwort "Digitalisierung" diskutiert wurde. Noch ist die Mehrzahl dieser Systeme weitgehend geschlossen und verrichtet fest vorgegebene Aufgaben in vorgegebenen Kontexten.

Über Branchen hinweg gültig: Die fünf Funktionsbereiche von Industrie 4.0.
Über Branchen hinweg gültig: Die fünf Funktionsbereiche von Industrie 4.0.
Foto: www.catkin.eu

Vernetzung darf nicht am Fabrikzaun enden

Aber es ist offensichtlich, dass eine Öffnung und Vernetzung ganz neuartige Interaktionen und Einsatzfunktionen erschließen wird. Und erst dann können wir tatsächlich von einer Digitalisierung von Prozessen im Sinne einer Industrie 4.0 sprechen. Und erst, wenn mit Logistik 4.0 die Vernetzung von Produkten und Prozesse nicht am virtuellen Fabrikzaun endet, entsteht wirklicher Mehrwert für unsere Wirtschaft.

Die Vision von einer sich selbst steuernden Smart Factory im Sinne von Industrie 4.0 setzt eine reibungslos funktionierende Logistik voraus. Denn: ohne Zufluss kein Herzschlag. Das klingt zunächst banal. Doch angesichts der exorbitant wachsenden Datenmengen lassen sich Transportketten im internationalen Verkehr mit herkömmlichen Tracking-&-Tracing-Methoden zukünftig nicht mehr managen. Schon heute sind die an den arbeitsteiligen Prozessen beteiligten Akteure mit Herausforderungen konfrontiert, die unerwünschte Bruchstellen nach sich ziehen und unplanmäßige Kettenreaktionen auslösen können.

Terminalbetreibern stehen zum Beispiel nur begrenzt Möglichkeiten zur Verfügung, Vor- und Nachläufe zu überwachen und auf Änderungen angemessen zu reagieren. Im Extremfall kann es passieren, dass sich erst im Augenblick der geplanten Containerverladung herausstellt, dass der dringend erwartete Lkw samt Fracht noch nicht einmal in der Nähe des Terminals ist. Warten ist angesagt. Denn auch der Spediteur kann oftmals nicht sofort exakt Auskunft darüber geben, wo sich der Lkw aktuell gerade befindet.

Verstärkt wird das Dilemma, wenn er den Transportauftrag an Dienstleister oder Subunternehmer vergeben hat. Auch der Schienengüterverkehr wird häufig durch das Zusammenwirken zahlreicher Dienstleister abgewickelt. Es mangelt an Transparenz und valider unternehmensübergreifender Information, ein Umstand, der leicht zu Instabilität in der Transportkette führen kann.

Die zunehmende Komplexität in den Griff bekommen

Um einen durchgängigen Kommunikations- und Informationsfluss sicherzustellen, der keine Wünsche offen lässt, müssen sämtliche Teilnehmer einer Lieferkette samt ihren Geschäftsprozessen elektronisch miteinander vernetzt werden. Manuelle Datenübertragungen sind zu eliminieren. Gleichzeitig sollten relevante Informationen auf allen Hierarchieebenen - vom Kunden bis zu den Dienstleistern - in Echtzeit verfügbar sein. Erst dann lassen sich in einem weiteren Schritt auch unternehmens- und verkehrsträgerübergreifende Prozesse automatisieren.

Visionär betrachtet könnte die Ladung zukünftig auch selbst mit "Intelligenz" ausgestattet werden, um den eigenen Transport in Eigenregie zu organisieren. Partnernetzwerke dieser Prägung funktionieren jedoch nur mithilfe geeigneter Logistikplattformen. Diese wiederum setzen einheitliche Kommunikationsstandards voraus. Neue und/oder veränderte Abläufe müssen schnellstens integriert und mobile Mitarbeiter via Tablet- oder Smartphone-Apps angebunden werden können. Die Folge: Jeder Teilnehmer wird jederzeit mit allen relevanten Informationen versorgt. Dazu zählen neben Details zum jeweiligen Auftragsstatus und Checklisten auch Statusinformationen der Vorgänger und Nachfolger.

Voraussetzungen für kollaborative Prozesse

Künftige Logistikplattformen nach dem Vorbild von Industrie 4.0 müssen zudem offen, also mit keinerlei Einstiegsbarrieren verbunden sein. Jeder Teilnehmer muss die Möglichkeit haben, sich via Web oder App ad hoc beteiligen zu können.

Man betrachte zum Beispiel interkontinentale Transporte: Beteiligt sind Verlader, Spediteure, Containerterminals, Frachtschiffe, Güterbahnen und Lkw-Unternehmen. Mithilfe eines übergreifenden Transportmanagements ließen sich administrative Prozesse vereinfachen sowie physische Durchlaufzeiten beschleunigen. Dies wiederum impliziert, dass auch Transportaufgaben über vergleichsweise geringere Distanzen, in die nicht gleich alle denkbaren Organisationseinheiten involviert sind, wesentlich effizienter abgewickelt werden können. Natürlich gibt es in Unternehmen den einen oder anderen Mitarbeiter, der einer solchen Anwendung zunächst skeptisch gegenübersteht. Dennoch: Der Weg in eine vernetzte Zukunft, in der die reale und virtuelle Welt miteinander verschmelzen, ist längst vorgezeichnet und in Ansätzen teils schon gelebte Realität.

Industrie 4.0 führt dazu, dass mit zunehmender Vernetzung der Produktion und weiterentwickelten Technologien immer mehr Hersteller in der Lage sein werden, Produkte nach individuellen Bedarfen kurzfristig herzustellen und direkt an die Verbraucher zu vermarkten. Damit die Logistik nicht an der damit verbundenen Erhöhung der Komplexität und der Kosten scheitert, muss sie mit "Smart Logistics" von einer sich reaktiv bewegenden zu einer führenden Instanz in den neuen Wertschöpfungsnetzwerken werden. (bw)

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