Omnichannel und Future Store

Der Handel braucht dringend einen digitalen Masterplan

Martin Bayer ist Chefredakteur von COMPUTERWOCHE, CIO und CSO. Spezialgebiet Business-Software: Business Intelligence, Big Data, CRM, ECM und ERP.

Händler akzeptieren zunehmend Cloud-Lösungen

Cloud-Lösungen scheinen insgesamt für die Händler interessanter zu werden. Das beobachtet Ralf Kern, Global Vice President für die Industry Business Unit Retail bei SAP. Vor fünf Jahren sei die Cloud in der gesamten Branche noch kategorisch abgelehnt worden. Heute fragten Händler, die beispielsweise nach Software für ihre HR-Prozesse suchten, dediziert nach Cloud-Lösungen. SAP hat mit "S/4HANA Retail" eine eigene Handelslösung im Programm und forciert seine Cloud-basierte IoT-Plattform Leonardo als Fundament für Retail-Lösungen. Daran ließen sich verschiedenste Spezialanbieter über APIs anbinden. Rund um die Plattform baut der deutsche Softwarekonzern ferner an einem Ecosystem mit Startups. Außerdem entwickelt SAP selbst verschiedene Lösungen, beispielsweise mit "Fiori" als Benutzeroberfläche am Frontend, die auch für Android und iOS-Geräte verfügbar sind. Über die Sprachschnittstelle "SAP CoPilot" ließen sich zudem digitale Assistenten wie Alexa, Cortana, Google Home oder Siri anbinden.

Daten bilden, wie in vielen anderen Branchen, auch im Handel das Fundament sämtlicher Digitalisierungsinitiativen. Doch der Umgang mit dieser Ressource stellt die Händler vor neue Herausforderungen, auch weil Kunden wie Behörden in Datenschutzfrage äußerst sensibel reagieren. Das EHI Retail Institute will im Rahmen einer Umfrage herausgefunden haben, dass Kameras in Ladengeschäften gelassen zur Kenntnis genommen würden. 84 Prozent der Kunden würden solchen Überwachungssystemen neutral gegenüber stehen. Knapp 12 Prozent hielten deren Einsatz sogar für positiv. Wer also als Händler in eine Kameraanlage investiert, muss kaum negative Reaktionen befürchten, so der Schluss der Experten.

Gesichtsanalysen schrecken Datenschützer auf

Da scheint allerdings eher der Wunsch Vater des Gedankens zu sein. Vor knapp einem Jahr sorgte die Supermarktkette Real für negative Schlagzeilen. In 40 Läden seien Kunden seit dem Herbst 2016 vor Werbebildschirmen per Video beobachtet worden, gaben die Verantwortlichen zu. So habe die Kamera alle Blickkontakte des Kunden mit dem Bildschirm erfasst und analysiert, genauso wie Geschlecht und Alter. Die Daten seien nur für die Dauer der Betrachtung gespeichert worden, versicherte der Händler. Die Kunden seien darüber informiert worden, hieß es unter Verweis auf die Hinweisbeschilderung in den Läden, wonach diese videoüberwacht würden. Begründung für die Aufnahmen: Der Betreiber des Systems Echion wolle damit die Qualität der ausgestrahlten Werbefilme zielgruppenorientiert anpassen.

Datenschützer stuften diese Videoüberwachung als höchst problematisch ein: "Im Internet muss der Nutzer über die Erstellung pseudonymer Profile zum Zweck der Werbung informiert werden und kann sein Widerspruchsrecht ausüben", konstatierte der Hamburgische Beauftragte für den Datenschutz, Johannes Caspar. "Im Supermarkt soll der Kunde nun digital erfasst und automatisiert vermessen werden." Doch davon bekämen die Kunden nichts mit, auch könnten sie sich gegen das Scannen nicht wehren. "Wenn sich die Geschäftsideen des "real life tracking" durchsetzen, werden wir vermutlich künftig unter Datenschutzgesichtspunkten raten müssen, besser im Internet einzukaufen", folgert Caspar.

Für heftige Proteste sorgte ein ähnlicher Vorstoß von Bayer in österreichischen Apotheken im November vergangenen Jahres. Dort wurden Gesichter von Kunden gescannt, um diesen anhand entsprechender Analysen passende Produkte auf einem Werbedisplay anzubieten - nach dem Motto: Wer eine schniefende Nase hat, braucht sicher ein Erkältungsmittel. Zwar beteuerte der Pharmakonzern, die Daten würden weder gespeichert noch weitergegeben oder mit anderen Informationen verknüpft. Der Aufschrei der Datenschützer war trotzdem laut und vernehmlich. Bayer informiere zwar über die Praxis, von einer Einwilligung der Kunden könne jedoch keine Rede sein. Wer nicht überwacht werden wolle, müsse woanders einkaufen, das sei eine "Friss-oder-Stirb-Mentalität", kritisierte die Bürgerrechtsorganisation Digitalcourage.

Kunden-Service oder Kunden-Kontrolle

Die Beispiele Real und Bayer zeigen, wie sensibel der Umgang mit Daten behandelt werden muss. Beide Unternehmen sahen sich nach anhaltenden Protesten dazu veranlasst, ihre Experimente mit der Gesichtserkennung von Kunden wieder zu beenden. Wie kritisch gerade die Initiativen im Handel beobachtet werden, zeigen auch die Reaktionen auf Amazon Go. Der ehemalige Datenschutzbeauftragte des Bundes, Peter Schaar, hielt nach einem Bericht der "Zeit" vom Dezember 2016 das Ladenkonzept des Online-Riesen für nicht vereinbar mit europäischen Datenschutzbestimmungen. Für den Kunden sei nicht nachvollziehbar, welche Daten beim Einkaufen gesammelt werden und was mit ihnen passiere - ob automatisch erstellte Bilder gespeichert oder Emotionen beim Einkaufen festgehalten würden. Schaar geht davon aus, dass von jedem Kunden ein exaktes Profil zusammengestellt wird: "Die Daten aus dem Netz werden mit den Daten der Sensoren verknüpft, was dazu führt, dass die Verbraucher identifiziert und ihre Bewegungen im Shop aufgezeichnet werden." Das Konzept basiere darauf, den "Menschen total zu kontrollieren".

Ein Königsweg, wie Händler die richtige Balance zwischen Automatisierung und Datenschutz halten können, ist derzeit nicht abzusehen. Fujitsu-Manager Schienke plädiert für völlige Transparenz. Um das Vertrauen der Kunden zu gewinnen, sollten Unternehmen offenlegen, welche Daten sie gespeichert haben und wie sie diese verwenden. Außerdem könnte man den Kunden erlauben, ihre Datensätze selbst zu editieren, spinnt Schienke die Idee weiter. Eine solche Datensouveränität erhöhe das Vertrauen und könnte letzten Endes auch zu einer besseren Datenqualität führen, wenn die Kunden beispielsweise ihre Interessen korrigierten.

Zumindest Amazon scheint sich von derlei Problemen und Herausforderungen nicht bange machen zu lassen. Das Unternehmen hat bereits wenige Tage nach Eröffnung seines ersten Go-Stores durchblicken lassen, weitere sechs Läden eröffnen zu wollen. Nach Berichten der US-Website Recode sind fünf weitere Filialen in Seattle sowie ein Go-Laden in Los Angeles geplant.

Kassenlos

Auch in Europa ist das Konzept angekommen. Anfang März hat der Elektro-Riese Saturn in Innsbruck seine erste kassenlose Filiale eröffnet. Kunden können in dem zunächst als Pilotprojekt konzipierten "Saturn Express" Store die Ware direkt am Regal bezahlen. Über eine App scannt der Kunde Ware und Preis. Gezahlt wird via Kreditkarte oder PayPal. Ist die Rechnung beglichen, wird automatisch die Diebstahlsicherung deaktiviert.

Im "Saturn Express" scannen und bezahlen die Kunden die gewünschten Artikel per Smartphone-App.
Im "Saturn Express" scannen und bezahlen die Kunden die gewünschten Artikel per Smartphone-App.
Foto: Media-Saturn

Laut MediaMarktSaturn handelt es sich hier um den "ersten kassenlosen Consumer Electronics Store Europas". Das Pilotprojekt wurde gemeinsam mit dem britischen Startup MishiPay umgesetzt. Die Briten gehören zu den ersten zehn Teilnehmern des Retailtech Hub, einem Startup-Accelerator der MediaMarktSaturn Retail Group. "Disruptive Innovationen werden so gut wie immer von Startups entwickelt", erklärte Martin Wild, Chief Innovation Officer der MediaMarktSaturn Retail Group. Der Retailtech Hub sei ins Leben gerufen worden, um die Handelsunternehmen unterschiedlicher Branchen und Startups für den Handel von morgen zusammenzubringen.

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