Omnichannel und Future Store

Der Handel braucht dringend einen digitalen Masterplan

Martin Bayer ist Chefredakteur von COMPUTERWOCHE, CIO und CSO. Spezialgebiet Business-Software: Business Intelligence, Big Data, CRM, ECM und ERP.
Die Grenzen zwischen Online- und Offline-Handel lösen sich zunehmend auf. Für die Händler gilt es, ihre Kunden auf jedem Kanal bestmöglich zu erreichen und zu bedienen. Das heißt aber auch, dass klassische Ladenkonzepte digital überholt werden müssen. Das Technikangebot dafür ist vielfältig, aber auch teuer. Die Retailer müssen genau kalkulieren, welche Investitionen sich lohnen.

Ein Kunde betritt das Geschäft, nimmt sich einen Warenkorb oder einen Einkaufswagen, läuft durch die Gänge und holt sich die gewünschten Produkte und Waren aus den Regalen. So weit nicht ungewöhnlich. Das tun Millionen Kunden tagtäglich in den Supermärkten rund um den Globus. Und doch verläuft der Einkauf in unserem Beispiel ein wenig anders. Der Kunde muss nicht mehr an die Kasse. Er belädt Fahrradkorb oder Kofferraum und fährt nach Hause. Abgerechnet und bezahlt wird automatisch.

Der Handel braucht einen Plan für die Digitalisierung seiner Geschäfte, um gegen den immer stärkeren Online-Kanal bestehen zu können.
Der Handel braucht einen Plan für die Digitalisierung seiner Geschäfte, um gegen den immer stärkeren Online-Kanal bestehen zu können.
Foto: Zapp2Photo - shutterstock.com

Wer glaubt, diesen Future Store hätte sich eine der großen etablierten Handelsketten wie Aldi, Carrefour, Tesco oder Walmart ausgedacht, liegt falsch. Der kassenlose Supermarkt gehört Amazon. Der weltgrößte Online-Händler, der bereits seit einiger Zeit mit Offline-Läden experimentiert, hat Ende Januar dieses Jahres seinen ersten "Amazon Go" Store im US-amerikanischen Seattle für die Allgemeinheit eröffnet.

Der Anteil des Retail-Umsatzes, der digital beeinflusst wird wächst deutlich schneller als der stationäre Offline-Anteil.
Der Anteil des Retail-Umsatzes, der digital beeinflusst wird wächst deutlich schneller als der stationäre Offline-Anteil.
Foto: Forrester

Für das Einkaufserlebnis der Zukunft ist Amazons Go-Store an allen Ecken und Enden mit intelligenter Technik ausgestattet. Kunden authentifizieren sich beim Betreten des Ladens über eine Smartphone-App. Im Store überwachen Kameras und digital vernetzte Waagen in den Regelböden alle Aktivitäten. Nimmt ein Kunde eine Ware aus dem Regal, wird diese seinem Amazon-Konto zugewiesen. Legt er den Artikel wieder zurück, verschwindet dieser wieder aus dem digitalen Warenkorb. Die Systeme registrieren, wenn der Kunde den Laden verlässt. Dann wird automatisch über das Amazon-Konto abgerechnet und bezahlt.

Amazon Go rüttelt Einzelhandel auf

Bereits Ende 2016 hatten die Amazon-Verantwortlichen ihr Laden-Konzept präsentiert. In der Versuchsphase konnten dort nur die eigenen Mitarbeiter einkaufen. Für die Allgemeinheit live gehen sollte der Store eigentlich bereits im März vergangenen Jahres. Doch technische Schwierigkeiten haben den Start verzögert. Beispielsweise soll es Probleme gegeben haben, zusammengehörige Einkäufergruppen sowie Familien und deren Einkäufe auseinanderzuhalten. Auch sei Amazon Go an seine Grenzen gestoßen, wenn sich zu viele Kunden im Markt getummelt hätten, hieß es. Doch mittlerweile scheint man diese Probleme in den Griff bekommen zu haben.

Auch wenn es sich bei Amazon Go momentan um nicht viel mehr als eine Art Prototypen für den Store der Zukunft handelt, hat der Vorstoß des Online-Riesen den weltweiten Einzelhandel aufgerüttelt. Die Verantwortlichen bei Edeka, Lidl, Rewe und Co. sehen sich gezwungen, ihre Strategien und vor allem auch ihre Ladenkonzepte kritisch auf den Prüfstand zu stellen.

Der Online-Handel macht gegenüber den klassischen Ladengeschäften weiter Boden gut. Bis 2022 soll der Handelsumsatz im Netz in 17 westeuropäischen Ländern um 11,9 Prozent pro Jahr zulegen, haben die Analysten von Forrester Research ermittelt. Damit legt der E-Commerce um den Faktor 10 schneller zu als der stationäre Handel. Eine Umfrage des Bitkom unter 1152 deutschen Internet-Nutzern hat Ende vergangenen Jahres ergeben, dass mittlerweile jeder Dritte den Einkauf im Netz bevorzugt. Lieber ins Ladengeschäft geht gut jeder Fünfte (21 Prozent), keine eindeutige Präferenz äußerten 46 Prozent der Befragten.

Online-Druck steigt weiter

Dazu kommt, dass klassische Handelssegmente, die sich in der Vergangenheit noch vergleichsweise standfest gegen die Online-Konkurrenz behaupten konnten, mittlerweile auch unter Druck geraten. Beispiel Lebensmittelhandel: Zwar gehört der Gang in den Supermarkt nach wie vor zum Alltag vieler Kunden, aber immer mehr Verbraucher wollen ihre Lebensmittel künftig online einkaufen. In den Niederlanden lag das Volumen der im Netz gehandelten Lebensmittel 2017 schon bei rund einer Milliarde Euro. Fünf Prozent der Supermarktverkäufe würden dort bereits online abgewickelt, hat Forrester herausgefunden. Und unser Nachbar an der Nordsee dürfte kein Einzelfall bleiben. Die Analysten gehen insgesamt davon aus, dass bis 2022 rund 4,5 Prozent aller Lebensmittel in Westeuropa via Internet geordert werden. Damit weist diese Sparte mit einem Plus von etwa 15 Prozent jährlich eine der höchsten Wachstumsraten im Online-Handel auf.

Auch die Deutschen stehen dem Online-Kauf von Lebensmitteln immer aufgeschlossener gegenüber: Jeder Dritte (33 Prozent) hat schon Lebensmittel im Internet eingekauft und würde es wieder tun. Beinahe ebenso viele (32 Prozent) haben das zwar noch nicht getan, können sich aber vorstellen, es einmal auszuprobieren. Das hat eine Umfrage von Kantar TNS im Auftrag des Bundesverbands Digitale Wirtschaft (BVDW) unter 1050 Bundesbürgern ergeben. Nur ein Viertel hat demnach noch nie Lebensmittel online bestellt und würde es auch nicht ausprobieren. "Dabei ist der Lebensmitteleinkauf nicht selten eine Art Ritual und folgt einem festen Ablauf", sagte BVDW-Vizepräsident Achim Himmelreich. "Offenbar wiegen die Vorteile des Online-Kaufs schwer, wenn wir uns trotz fester Gewohnheiten derart offen gegenüber dieser Alternative zeigen."

Mehr digitale Services gefordert

Die Kunden erwarten heute mehr und mehr digitale Services rund um das Shopping. Das hat eine Bitkom-Umfrage (PDF-Link) gezeigt. Verbraucher wollen online wie auch offline einkaufen und dabei die Vorzüge des Einkaufens im Geschäft mit den Bequemlichkeiten des Online-Handels verbinden. Ganz oben auf der Wunschliste steht die Lieferung von im Laden gekaufter Ware direkt nach Hause (46 Prozent), gefolgt von WLAN im Geschäft (43 Prozent) und Echtzeitinformationen über die Verfügbarkeit von Produkten im Laden (35 Prozent). "Weil die Kunden das Beste aus beiden Welten wollen, fordern sie auch im Laden digitale Services", sagt Bitkom-Handelsexpertin Julia Miosga. "Stationäre Händler müssen für Internetnutzer spezielle Angebote bereithalten, um sie als Kunden zu gewinnen beziehungsweise auch in Zukunft zu halten. Dafür ist ein Omnichannel-Ansatz sinnvoll, also ein cleveres Zusammenspiel von stationärem Handel, digitalen Services und Online-Shop." Die enge Verzahnung von Offline- und Online-Kanälen sei deshalb ein Muss für den erfolgreichen Händler der Zukunft.

Wie das aussehen kann, haben die Anbieter auf der Messe EuroCIS Ende Februar in Düsseldorf gezeigt. Beispielsweise präsentierte die Firma Wanzl mit "wanzl connect" eine Art digitales Cockpit für das Laden-Management. Darüber sollen sich alle möglichen Prozesse im Store steuern und optimieren lassen. Dem Anbieter zufolge stellt wanzl connect eine offene und modulare Softwareplattform dar, an die sich verschiedene Elemente wie beispielsweise intelligente Regalsysteme oder smarte Kassen am Point of Sale (PoS) anbinden lassen.

Zentrale Elemente des Systems sind mit RFID-Tags ausgestattete Einkaufswagen beziehungsweise Handkörbe. Diese liefern dem Händler wichtige Informationen über die Position der Kunden im Markt und ihr Nutzungsverhalten. Dazu zählen beispielsweise durchschnittliche Einkaufszeiten oder die Aufenthaltsdauer vor bestimmten Regalen. Deckensensoren ermitteln die Verweildauer vor gewissen Warengruppen und durch Heatmaps lassen sich Kundenlaufwege erkennen und optimieren. Ein Abgleich der Daten mit dem Kassensystem zeigt zudem die Conversion Rate. So lässt sich ermitteln, ob besondere Positionierungen von Waren oder Rabattaktionen funktionieren.

Cockpit für das Laden-Management

Mit dem Store Manager werden alle Daten eines Marktes auf einer Plattform gesammelt. Er dient als Informations-, Kommunikations- und Schaltzentrale des Filialleiters. Im Store erzeugen vernetzte Einkaufswägen, smarte Regale und Kassen Daten. Dies gilt für Wanzl-eigene Geräte wie auch für Einrichtungsgegenstände anderer Anbieter zum Beispiel Lichtsteuerung, Kühlgeräte und Pfandstationen. Alle Daten laufen in der Wanzl Cloud zusammen und können in Echtzeit auf einem Smart Device wie Smartphone, Tablet oder PC angezeigt werden. Mit Hilfe von Analysen kann das System Empfehlungen abgeben, um einen reibungslosen Marktbetrieb sicherzustellen und den Umsatz zu steigern. Beispielsweise lassen sich Alarme einrichten, wenn bestimmte Produkte auszugehen drohen oder ein Engpass an der Kasse bevorsteht. In solchen Fällen kann der Manager seinen Mitarbeitern entsprechende Aufgaben zum Beispiel über eine Smartwatch zuteilen und diese beispielsweise bitten, einzelne Sortimente aufzufüllen oder Kassen zu einem bestimmten Zeitpunkt zu besetzen.

Mit "Wanzl Connect" erhalten Manager einen Überblick, was in ihren geschäften gerade passiert und können entsprechend Personal und Waren steuern.
Mit "Wanzl Connect" erhalten Manager einen Überblick, was in ihren geschäften gerade passiert und können entsprechend Personal und Waren steuern.
Foto: Wanzl

Bei der Digitalisierung im Handel geht es in erster Linie um Daten, sagt Andreas Starzmann, Director Digital Office bei Wanzl. Damit könnten sich die Händler in Zukunft differenzieren, um ihren Kunden ein komfortables Einkaufserlebnis zu bieten. Im Mittelpunkt steht dabei die Ansprache der Kunden. Als Beispiel führt Starzmann intelligente Regalsysteme an, die dem Kunden über Displays mehr Informationen und ein erweitertes Sortiment anzeigen könnten. Im Idealfall könne der Kunde dort direkt ein gewünschtes Produkt aus dem online verlängerten Regal ordern und sich nach Hause liefern lassen.

Auch Aruba nimmt die Bewegungsmuster der Kunden in den Ladengeschäften ins Visier. Der Vernetzungsspezialist hat mit Meridian eine App-Plattform vorgestellt, die in Kombination mit Lokalisierungstechniken wie Beacons in der Lage ist, Kunden zu steuern und an den richtigen Stellen mit passenden Informationen, beispielswiese Zusatzangeboten oder Rabattaktionen, zu versorgen. Die App-Inhalte sollen Ladenbetreiber einfach via Cloud über den webbasierten Meridian-Editor verwalten können. Darüber hinaus bietet die Plattform der HPE-Tochter ein Software Development Kit (SDK), mit dessen Hilfe sich Meridian-Funktionen wie Gebäudepläne, Wegbeschreibungen und Push-Benachrichtigungen in den Apps ergänzen lassen.

Die Aruba-App weist Kunden den Weg - im Laden zu bestimmten Artikeln und zum Parkplatz, wenn man das Auto im unübersichtlichen Einkaufszentrum nicht mehr findet.
Die Aruba-App weist Kunden den Weg - im Laden zu bestimmten Artikeln und zum Parkplatz, wenn man das Auto im unübersichtlichen Einkaufszentrum nicht mehr findet.
Foto: Aruba

Kasse ist nicht nur Kasse

Auch am Point of Sale verändern sich die Abläufe. Einfache Kassensysteme, über die Waren eingescannt und abgerechnet werden, werden in Zukunft nicht mehr ausreichen. Auf die Kassen kommen immer mehr Aufgaben zu, zum Beispiel neue Funktionen rund um Click & Collect. Kunden ordern online Produkte und holen diese später im Laden ab. Der Bezahlvorgang kann bereits im Web erledigt sein oder die Kunden zahlen die Ware erst bei Abholung. Wichtig ist, dass die Kassensysteme über die richtigen Informationen verfügen.

Für immer mehr Händler bildet die Kasse den Dreh- und Angelpunkt für verschiedenste kanalübergreifende Kundenservices. Die Systeme müssen aktuelle aber möglichst auch kommende Payment-Anwendungen handhaben können, sei es mobil per Smartphone oder kontaktlos via Karte. Gleichzeitig müssen hier Services rund um die Kundenbindung integriert und abgebildet werden, beispielsweise Coupons, Boni und Rabattierungen aller Art.

Bilderkennungssysteme schlagen den Kunden beim Self Checkout auf den Kassenwaagen passende Artikel vor. Damit soll das langwierige Suchen nach dem richtigen Produkt ein Ende haben, sagt Hersteller NCR.
Bilderkennungssysteme schlagen den Kunden beim Self Checkout auf den Kassenwaagen passende Artikel vor. Damit soll das langwierige Suchen nach dem richtigen Produkt ein Ende haben, sagt Hersteller NCR.
Foto: NCR

Ein zunehmend wichtigeres Thema an der Kasse wird Self Checkout (SCO) - obwohl Selbstbedienungskassen mittlerweile 20 Jahre alt sind, wie Vertreter des SCO-Pioniers NCR anmerken. Der Hersteller hat eine neue Generation seiner Self-Checkout-Systeme vorgestellt, die Händlern neue, teilweise auf künstlicher Intelligenz basierende Funktionen bieten. Um Frischeprodukte wie Gemüse und Obst richtig abzurechnen, erkennt ein integrierter Bildscanner Farbe, Form und Größe. Legt ein Kunde Artikel auf die Waage eines SCO-Systems, schlägt dieses dazu passende Artikel aus dem Sortiment des Händlers vor. Der Kunde wählt die richtige Ware aus und das Produkt wird in der angeschlossenen Selbstbedienungskasse abgerechnet. Zudem verhindert die Technik dem Hersteller zufolge Etikettenschwindel: So wird erkannt, ob die Attribute des Artikels mit der ausgewählten Ware übereinstimmen oder nicht. Passen die Informationen nicht zusammen - beispielsweise eine teure Ananas als billiger Apfel deklariert - schlägt die Kasse Alarm und weist den Kunden auf den Fehler hin.

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