"Wer Visionen hat, sollte zum Arzt gehen." Der frühere Bundeskanzler Helmut Schmidt, der leider im November 2015 verstarb, soll diesen Satz während des Wahlkampfs 1980 geäußert haben. Pragmatisch. Praktisch. Bodenständig. Das mag in manchen Bereichen stimmen. In der Politik zum Beispiel wirkt ein bodenständiger Pragmatismus - statt einem von parteipolitischen Phrasen geprägten Geschwätz - oft erfrischend. Deshalb war "Schmidt Schnauze" ja so beliebt.
Bei meiner Arbeit mit Managern und Führungskräften erlebe ich jedoch zu viel bodenständigen Pragmatismus. Da begegne ich überwiegend soliden Machern, die versuchen, mit mehr vom Gleichen Veränderungen zu erreichen. Eher selten begegne ich hingegen Personen, die für neue, das Gewohnte über Bord werfende Ideen und Lösungen brennen und diese mit Energie vorantreiben.
Dabei sind die Männer und Frauen, die ich bei meinen Führungskräfte-Trainings und -Coachings treffe, fast ausnahmslos hoch qualifizierte und engagierte Führungskräfte. Viele sind jedoch in erster Linie Manager - also Erhalter und Verwalter. Nur ein Bruchteil von ihnen hat beziehungsweise zeigt das Potenzial, den ihnen anvertrauten Bereich nicht nur zu managen, sondern aktiv zu gestalten. Und nur ganz wenige haben den Mut, Muster zu brechen und wirklich Neues zu schaffen. Diese Personen fallen sofort auf, aufgrund ihrer analytischen Intelligenz, ihrer unbändigen Energie, Dinge zu verändern und zu bewegen, und ihres Selbstbewusstseins, mit dem sie für ihre Überzeugungen stehen.
Der nötige Zündfunke für Veränderung
Das sind die potenziellen Leader, die Organisationen in ihrer Entwicklung vorantreiben - sofern sie über eine weitere Fähigkeit verfügen: Sie wollen und können andere Menschen mit ihren Gedanken und Ideen infizieren. Im Stillen nenne ich diese Personen "the One", obwohl es in größeren Organisationen meist mehrere solcher Persönlichkeiten gibt. Und ich freue mich jedes Mal, wenn ich eine solche Persönlichkeit treffe. Denn sie faszinieren und infizieren auch mich.
Doch warum nenne ich diese Männer und Frauen "the One"? Ich glaube fest daran, dass meist Einzelne den Unterschied ausmachen - sei es auf der Unternehmens-, Bereichs- oder Teamebene. Natürlich braucht dieser Eine (oder diese Eine) stets Mitstreiter, also Infizierte, um das Neue, das Besondere zu schaffen. Doch der Zündfunke kommt in der Regel von einer Person: "the One". Diese Person hat den unzähmbaren Drang, etwas zu bewirken, und sie hat den Mut, mit Gewohntem zu brechen, denn sie hat eine Vision. Sie wird zudem getragen von der Zuversicht "Ich …" beziehungsweise "Wir schaffen das", und hiermit kann sie auch andere Menschen inspirieren beziehungsweise infizieren.
Ich behaupte, alle bahnbrechenden Veränderungen oder Erneuerungen brauchen "the One". Das sehen wir in der Kunst. Hier ist die Schaffenskraft individuell. Nehmen wir zum Beispiel Leonardo da Vinci, einen der berühmtesten Universalgelehrten aller Zeiten. Hätte sein Werk als Teamarbeit entstehen können? Vermutlich nicht! Hätte er jedoch nicht zugleich zumindest einzelne Menschen, für sich und seine Ideen begeistern können, dann hätte er auch keine Auftraggeber gefunden. Also wären viele seiner Werke nicht entstanden.
Oder gäbe es die Skulptur David, wenn Michelangelo Teil einer Gruppe gewesen wäre? Vermutlich nicht! Doch auch Michelangelo brauchte (finanzielle) Unterstützer, die an ihn glaubten. Sonst wären weder die Skulptur David noch die Deckengemälde in der Sixtinischen Kapelle entstanden. Trotzdem sind die bahnbrechenden Neuerungen in der Kunst primär das Ergebnis individuellen Schaffens.
Nicht jeder Visionär ist ein Leader
Doch wie sieht es mit bahnbrechenden Veränderungen in Gesellschaften und in sozialen Systemen wie Unternehmen aus? Markiert auch hier in der Regel ein Einzelner den Wandel? Wäre zum Beispiel das Christentum ohne Jesus entstanden? Gewiss nicht! Doch wäre der "Visionär" Jesus nicht zugleich ein "Leader" gewesen, der andere Menschen für sich und seine Ideen begeistern kann, hätte er keine Jünger gefunden. Und ohne die zwölf Apostel sowie den zum Paulus gewandelten Saulus hätten sich seine Ideen nicht verbreitet. Dann gäbe es das Christentum als Weltreligion nicht, und niemand würde heute noch die Person Jesus kennen.
Daraus erwachsen zwei Fragen:
1. Wie entstehen Visionen? Und:
2. Wie finden Visionäre ausreichend "Jünger", sprich von ihren Ideen infizierte Personen, so dass aus ihnen realisierbare Konzepte werden?
Visionen - im Schmidtschen Sinne - haben, glaube ich, viele Menschen irgendwann. Denn die Fähigkeit, Neues zu denken und Bekanntes in einer neuen Form zu verknüpfen, hat zunächst einmal jeder Mensch. Virulent werden Visionen aber nur, wenn sie von unruhigen Geistern Besitz ergreifen, die etwas bewegen und verändern wollen, und die bereit sind, für deren Realisierung auch gewisse Mühen und Risiken auf sich zu nehmen; des Weiteren, wenn diese Personen über die erforderlichen Leader-Eigenschaften verfügen, um andere Menschen mit ihren Ideen zu infizieren. Erst dann erwachen Visionen in sozialen Systemen wie Unternehmen zum Leben.