Auswanderer stellen nach ein, zwei Jahren in der Fremde oft erstaunt fest: Jetzt lebe ich zwar im Ausland, doch meine besten Freunde sind weiterhin Landsleute von mir. Dabei nahm ich mir vor dem Auswandern vor: Ich möchte enge persönliche Beziehungen zu den "Einheimischen" knüpfen.
Die meisten Personen, die bisher nur ihren Urlaub im Ausland verbrachten, unterschätzen, wie stark sie durch ihre Heimat geprägt sind. Sie unterschätzen auch, wie sehr es sie mit ihren Landsleuten verbindet, dass sie
dasselbe Schulsystem durchliefen,
von Kindesbeinen an dieselben Radiosender hörten,
es gewohnt sind, den Müll zu trennen,
und, und, und...
All diese Faktoren prägen unser Empfinden und Erleben und somit auch das, was uns wichtig ist. Deshalb haben Deutsche, Österreicher und Schweitzer im Ausland oft das Gefühl: Meine Landsleute verstehen mich besser und schneller als "Einheimische". Denn erst im tagtäglichen Miteinander registrieren sie die kulturellen Unterschiede im Empfinden, die zu einem unterschiedlichen Verhalten führen. Diese Unterschiede gilt es zu reflektieren. Sonst erwachsen hieraus Vorurteile, die sich mit der Zeit zu (Negativ-)Urteilen verfestigen.
Kulturelle Unterschiede werden meist unterschätzt
Zwei Beispiele: Oft wandern Personen aus dem deutschsprachigen Raum aus, um "stressfreier" zu leben. Doch schon nach kurzer Zeit klagen sie über die Laisser-faire-Mentalität ihrer neuen Mitbürger. Und Personen, die die ihrem Vaterland den Rücken kehrten, weil ihnen die Bürokratie "die Luft zum Atmen nahm"? Sie klagen häufig schon wenige Wochen später darüber, wie willkürlich und behäbig die Behörden in ihrer neuen Heimat agieren.
Ähnliche Prozesse registriert man auch in Unternehmen, deren Mitarbeiter plötzlich mit ausländischen Partnern zusammenarbeiten müssen - zum Beispiel, weil ihr Arbeitgeber in Spanien ein neues Werk eröffnete. Oder mit einem US-amerikanischen Mitbewerber fusionierte.
In solchen Situationen unterschätzen Unternehmen und ihre Mitarbeiter anfangs oft die kulturellen Implikationen der Zusammenarbeit - und zwar auch dann, wenn die neuen Partner keine "Exoten", sondern zum Beispiel Dänen oder Franzosen, Engländer oder US-Amerikaner sind. Denn gerade weil die westlichen Industrienationen gemeinsame kulturelle Wurzeln haben, erscheint an der Oberfläche vieles gleich.