Tim Cole über Innovation und Startup-Kultur

Deutsche Führungskräfte verschlafen die Digitalisierung

Christiane Pütter ist Journalistin aus München.
Wollen deutsche Unternehmen Innovationsfähigkeit entwickeln, sollten sie die eigenen Mitarbeiter in den hauseigenen Startup-Inkubator schicken. Das rät jedenfalls Buchautor Tim Cole. Seine Befürchtung: deutsche Führungskräfte können aber die verkrusteten Strukturen nicht loslassen.
 
  • Führungskräfte verhindern Home Office, weil sie ihre Mitarbeiter kontrollieren wollen
  • Ein guter Chef braucht nur noch als Troubleshooter zu fungieren
  • Cole führt diese Gedanken in seinem neuen Buch "Digitale Transformation" aus
Tim Cole beschreibt in seinem Buch "Digitale Transformation", warum die deutsche Wirtschaft "gerade die digitale Zukunft verschläft und was jetzt getan werden muss".
Tim Cole beschreibt in seinem Buch "Digitale Transformation", warum die deutsche Wirtschaft "gerade die digitale Zukunft verschläft und was jetzt getan werden muss".
Foto: Tim Cole/Jürgen Weller

Tim Cole trägt einen roten Janker mit Hirschhornknöpfen. "Ja, natürlich", sagt er lachend, "hier in Bayern laufe ich ja auch den ganzen Sommer in der Lederhose herum!" Amerikanische Flexibilität eben. Aus diesem Blickwinkel betrachtet Cole, in Moses Lake geboren und seit früher Jugend in Deutschland lebend, wie sich Entscheider hierzulande mit der Digitalisierung mühen. Sein Buch "Digitale Transformation" möchte er als Weckruf verstanden wissen. Er beschreibt, "warum die deutsche Wirtschaft gerade die digitale Zukunft verschläft und was jetzt getan werden muss". Anfang Oktober stellt er das Buch im Münchener Presseclub vor.

Seine These von der verschnarchten deutschen Wirtschaft untermauert Cole mit einigen Zahlen. So erklärten fast zwei von drei Teilnehmern einer Techconsult-Umfrage 2014, den Begriff Industrie 4.0 nicht zu kennen. Techconsult hatte mehr als 1.000 Unternehmen aus der Fertigungsindustrie befragt. Und was die Zahl an Breitbandanschlüssen betrifft, liegt Deutschland in einem OECD-Ranking auf Platz 29 von 30 Ländern - weit hinter den USA und noch weiter hinter Südkorea und Japan.

Dennoch stellt die Bundesrepublik eine ganze Reihe Hidden Champions - diesen Einwand kennt Cole. Und will ihn auch gar nicht zurückweisen. Er denkt aber, dass deutsche Firmen zu wenig von der Innovationskraft nutzen, die sie haben. Grundsätzlich sitze diese Innovationskraft weder in "den Konzernen" noch "im Mittelstand". Zu vielen Unternehmen fehlt Startup-Mentalität, sagt der Autor.

Chefs in Angst

Konkret meint er folgende Situation: Kommt ein Mitarbeiter zu seinem Chef und erklärt, er werde seinen Arbeitsvertrag kündigen, um mit einer eigenen Idee zu gründen. So etwas sei in Deutschland eine Vorstellung, die Angst erzeugt. Stattdessen müsste das jeweilige Unternehmen eben diesen Mitarbeiter in den hauseigenen Inkubator schicken, um ihn gründen zu lassen und von der Gründung zu profitieren. Immerhin kann Cole hier mit einem Positiv-Beispiel aufwarten, Robert Bosch nämlich. Der Traditionskonzern unterstütze Angestellte auf dem Weg in die Selbständigkeit. Denn dadurch bleibt der talentierte Mitarbeiter dauerhaft an Boschs Leine, wenn auch an einer langen.

Cole spricht hier von Beibooten, die auch dem - naturgemäß langsameren - Tanker helfen können, innovatives Potenzial zu nutzen. Das allerdings setzt radikale Änderungen in der Firmenkultur voraus. Und Cole sieht dafür schlechte Chancen. "Deutsche Manager sind sehr rückwärtsgewandt und hängen an Traditionen", sagt er.

Allerdings: Einen Ort im Lande hat Cole ausgemacht, an dem alles anders ist. In seinem roten Trachtenjanker mit den Hirschhornknöpfen schwärmt er von Berlin. "Berlin ist die Hauptstadt des Scheiterns", erklärt er fröhlich. Um gleich anzufügen: "Aber auch die Hauptstadt der Gründungen!" Von der Aufbruchstimmung an der Spree wünscht er sich mehr.

"Chefs müssen lernen loszulassen"

Seine Generalkritik am deutschen Unternehmen belegt der Autor mit Zahlen. In einer Studie des Bitkom erklärten drei von vier befragten Entscheidern, für alle ihrer Mitarbeiter gelte Anwesenheitspflicht. Warum? Weil Mitarbeiter im Home Office "nicht jederzeit ansprechbar" und "nicht zu kontrollieren" sind, so die Begründung. Wissensarbeiter verlangen aber nach flexiblem Arbeiten, mahnt Cole. Sie wollen zumindest mitbestimmen, wann und wo sie arbeiten. "Chefs müssen lernen loszulassen", so Coles Appell, "und das fällt Führungskräften am schwersten."

Ein guter Chef ist für den Autoren jemand, der das Unternehmen in seiner Ganzheit versteht. Der die Ziele und Strategien begreift und an sein Team kommunizieren kann. Sobald jeder Mitarbeiter versteht, warum er welche Rolle erfüllt, ist der Chef nur noch als Troubleshooter gefragt, so Cole. Er kann seine Mitarbeiter selbstständig arbeiten lassen.

Allein die neuesten Erkenntnisse stehen manchmal in den ältesten Büchern - und so zitiert Cole einen Schriftstellerkollegen, wenn auch aus einem ganz anderen Metier. Aus dem der Kinderbücher nämlich. In Alice hinter den Spiegeln (dem zweiten Teil von Alice im Wunderland) erlebt Lewis Carrolls kleine Heldin etwas Seltsames. Die Herzkönigin nimmt sie an die Hand und rennt mit ihr los, so schnell sie kann. Als die erschöpfte Alice endlich stehenbleiben darf, stellt sie überrascht fest, dass sie kein Stück vom Fleck gekommen ist.

"Bei uns kommt man meistens irgendwo hin, wenn man lange Zeit so schnell rennt wie wir gerade", sagt Alice zur Königin. Und die antwortet: "Ein langsames Land ist das! So schnell wie du muss man hier rennen, um bloß auf der gleichen Stelle zu bleiben. Wenn du irgendwo hinkommen willst, musst du mindestens doppelt so schnell laufen!"

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