Das amerikanische "Open Markets Institute" hat seinen zweiten Bericht zu Amazon vorgelegt. Darin zeigt es detailliert eine ganze Reihe von Praktiken auf, mit denen sich der Konzern Verbrauchern und Mitbewerbern gegenüber aggressiv und unfair verhält und mit denen er versucht, sich von Märkten fernzuhalten oder zu verdrängen, die für ihn selbst interessant sind. Dazu bedient er sich dem Bericht zufolge einer umfassenden Überwachungsinfrastruktur und sammelt in erheblichem Umfang Daten.
Die Autoren des Berichts schlagen dem US-Kongress und der daher US-Kartellaufsicht FTC mehrere Maßnahmen vor, mit denen die aus ihrer Sicht monopolistischen Strukturen und Aktivitäten eingedämmt werden könnten. Aus Händlersicht sind aber vor allem die beschriebenen Strategien interessant, mit denen Amazon Marketplace-Händler übervorteilt, wenn es glaubt, deren Geschäft selbst abwickeln zu können.
Wer hinter dem Open Markets Institute steckt
Die scharfe Kritik als solche kommt nicht unerwartet. Das Open Markets Institute ist als Gegner der großen Web- und Technologiekonzerne bekannt. Sein Director Barry Lynn, ein ehemaliger Wirtschaftsjournalist für wichtige US-Medien, arbeitetet zunächst für die 1999 gegründete New America Foundation. In diesem eigenen Bekunden nach unabhängigen Think Tank leitete Lynn bis 2017 die Gruppe "Open Markets". Als er Googles Monopolstellung kritisierte und für eine Zerschlagung des Konzerns plädierte, soll der damalige Google-Chef Eric Schmidt seinen Rauswurf veranlasst haben - was nachvollziehbar ist, wird Google doch erheblicher Einfluss auf "New America" nachgesagt.
Ruhigstellen konnte der Konzern Lynn dadurch nicht. Im Gegenteil: Mit dem Open Markets Institute hat Lynn zum Ende der Regierungszeit von Donald Trump hin insbesondere bei demokratischen Präsidentschaftskandidaten Gehör gefunden. Seine zuvor wenig beachtete Kritik an den Großkonzernen aus dem Silicon Valley sickert seitdem immer stärker in die politische Diskussion ein. Einige der Vorschläge finden sich etwa in einer Verfügung von Präsident Biden zu Wettbewerbsregelungen wider und werden im Kongress als Teil der dort verhandelten Antitrust-Gesetze besprochen.
Zum aktuellen Bericht des Open Markets Institute sagt dessen Autor Daniel Hanley: "Amazon ist in erster Linie ein Überwachungsunternehmen. Die Überwachung aller Parteien – von Arbeitnehmern über Wettbewerber bis hin zu Verbrauchern – ist ein grundlegender Aspekt der Geschäftstätigkeit des Unternehmens. Es verwendet invasive Überwachungstaktiken, um sein räuberisches Verhalten zu ermöglichen und zu erleichtern und seine Monopolmacht zu stärken.“ Einsicht erwartet Hanley von dem Konzern keine. Nur der Gesetzgeber könne ihm Einhalt gebieten. Bis dahin werde Amazon sein „Streben, jede einzelne Person seinen Überwachungspraktiken zu unterwerfen, unermüdlich und kraftvoll fortsetzen. Dadurch wird das Unternehmen nur noch mächtiger, gefährlicher und ausbeuterischer“, prophezeit Hanley.
Kritik des Open Markets Institute am Amazon Marketplace
Ein großer Teil der 6,2 Millionen registrierten und 1,6 Millionen aktiven Händler auf dem Amazon Marketplace nutzt zwar die Infrastruktur von Amazon - was sich der Konzern auch ansehnlich vergüten lässt - steht aber andererseits als Anbieter von Produkten mit dem Konzern in Wettbewerb. Wobei Wettbewerb vielleicht der falsche Begriff ist: Aufgrund der enormen Vorteile von Amazon durch seine Größe und die dadurch entstehenden Skaleneffekte sind sie eher vom Wohlwollen des Konzerns abhängig, als dass sie mit ihm ernsthaft konkurrieren könnten.
Hanley belegt das unter anderem damit, dass Händler die Kontrolle darüber abgeben müssen, wie sie ihre Produkte auf der Plattform präsentieren, wie sie die Preise gestalten und welche Versandoptionen sie anbieten. Dadurch, dass Amazon Marketplace-Händler bei der Aufnahme noch vertraglich die Möglichkeit nimmt, bei Schäden, die ihnen durch den Konzern entstehen, den Rechtsweg zu beschreiten, seien sie dem Unternehmen vollkommen ausgeliefert.
Amazons dominierende Position als Vermittlungsplattform zwischen Verkäufern und Käufern beschere dem Unternehmen bislang ungekannte Möglichkeiten, Daten über Produkte und Vertriebsprozesse zu sammeln. Und diese Möglichkeiten nutze Amazon weidlich aus. Das Unternehmen erfasst Daten nahezu aller Interaktionen zwischen Verkäufern und deren Kunden - und das nicht nur auf seiner Plattfirm, sondern unter dem Deckmantel "scheinbar unverfänglicher und kryptischer 'Regeln" und 'Nutzungsbedingungen' kann Amazon verlangen, Zugriff auf vertrauliche, wettbewerbsrelevante Informationen von der Webseite des Verkäufers zu erhalten", warnt Hanley.
Wer Erfolg hat, wird kopiert
Die so gesammelten Daten erlauben es Amazon auch zu entscheiden, in welchen Bereiche es sich lohnt, mit eigenen Produkten auf den Markt zu kommen und welche Funktionen und Preispunkte dafür im Markt erwartet werden. Hanley verweist dazu unter anderem auf das Schicksal der Firma Rain Design, die PC- und Notebook-Zubehör entwickelt und vertreibt. Ein von ihr über Amazon angebotener Laptop-Ständer aus Metall wurde schnell zum Bestseller. Die Freude über den Erfolg währte jedoch nur kurz - bis Amazon seine eigene Version des Produkts zum halben Preis auf den Markt brachte.
Aber nicht nur mit Informationen zu Einzelprodukten, auch über interessante Marktsegmente verschafft sich Amazon Wettbewerbsvorteile. Als Beispiel nennt der Bericht die gut dokumentierten Vorgänge rund um die unter der Marke Amazon Basics schon 2015 auf den Markt gebrachten Batterien und Feuchttücher für Babys. Da Dritte keinen Zugriff auf die von Amazon gesammelten Daten erhalten, müssen sie mit dem Unternehmen in einem Markt konkurrieren, in dem sie Amazon andererseits zumindest teilweise unterstützen. Das gelte auch für den Dienst AWS: Dort angebotene Software sei durch Analysen ausgeforscht und dann als Funktion der Plattform angeboten worden.
Amazon könne so in vielen Bereichen den Aufwand und die Risiken für Forschung und Entwicklung erfolgreich an Mitbewerber auslagern - und wisse nicht nur, welche Produkte im Markt gut ankommen, sondern auch warum. Zusätzlich nutze es dann seine enorme Größe und die vorhandene Infrastruktur, um die eigenen Produkte in einer aus wettbewerbsrechtlicher Sicht problematischen Weise in den Vordergrund zu rücken - ein Verhalten, dass seit Sommer 2019 auch von der Europäischen Kommission kritisch untersucht wird.
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