Der ungeregelte Austritt Großbritanniens aus der EU wird immer wahrscheinlicher. Nachdem Boris Johnson das Amt des Premierministers übernommen und vor allem Hardliner in sein Kabinett berufen hat, scheint ein Deal mit Brüssel weiter entfernt als je zuvor. Die politisch Verantwortlichen in London arbeiten nach eigenem Bekunden mit Hochdruck an einem Szenario, in dem es kein Austrittsabkommen mit Brüssel geben wird.
Johnson machte zuletzt unmissverständlich klar, dass Großbritannien die Europäische Union am 31. Oktober dieses Jahres verlassen werde. Sein Staatsminister Michael Gove sagte der "Sunday Time"s, man gehe nicht davon aus, dass Brüssel das von Johnson-Vorgängerin Theresa May ausgehandelte, aber vom britischen Unterhaus abgelehnte Vertragspaket noch einmal aufschnüren werde. Finanzminister Sajid Javid kündigte bereits an, beträchtliche finanzielle Mittel zur Verfügung zu stellen, um das Land auf einen No-Deal-Austritt vorzubereiten.
Neben dem Aufbau einer neuen Grenzinfrastruktur vor allem an Häfen und Flughäfen will die Regierung offensichtlich auch britischen Unternehmen dabei helfen, sich auf einen harten Austritt vorzubereiten. Die Wirtschaft befürchtet nun das Schlimmste. Eine Umfrage der Silicon Valley Bank ergab, dass fast drei Viertel aller Unternehmenslenker in Großbritannien bei einem EU-Austritt mit negativen Folgen für ihr Geschäft rechnen.
Schaden durch No-Deal-Brexit
Julian David, CEO des IT-Handelsverbands TechUK, forderte Johnson auf, einen Brexit ohne Vertrag zu vermeiden. "Die Mitglieder von TechUK haben wiederholt vor den schädlichen Auswirkungen gewarnt, die ein No-Deal-Brexit auf ihr Geschäft haben würde", sagte er. "Wir möchten Herrn Johnson dringend bitten, alles in seiner Macht Stehende zu tun, um das zu vermeiden." sagte er. Dies sei entscheidend, wenn die britische Wirtschaft nicht nachhaltig Schaden nehmen solle.
Auch hierzulande fürchtet die IT-Branche ein drohendes Brexit-Chaos. Als Anfang des Jahres der von Ex-Premierministerin May ausgehandelte Deal erstmals im Unterhaus durchfiel, warnte Bitkom-Präsident Achim Berg: "Mit der Ablehnung des Brexit-Deals droht Europa ein Datenchaos." Nach einem ungeregelten Austritt Großbritanniens müssten deutsche Unternehmen ihre britischen Geschäftspartner und Kunden sowie die dortige Rechenzentren und IT-Dienstleister behandeln, als säßen sie außerhalb der EU. "Der Datenverkehr mit einem Land wie zum Beispiel Uruguay ist dann einfacher als mit dem Vereinigten Königreich", beklagte sich der IT-Lobbyist.
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Kunden- oder Auftragsdaten im Vereinigten Königreich DSGVO-konform verarbeiten oder speichern darf laut Bitkom nach einem harten Brexit nur, wer die explizite Einwilligung jedes einzelnen Betroffenen einholt, unzählige Verträge mit sogenannten Standardvertragsklauseln anpasst oder sich als Konzern verbindliche interne Datenschutzvorschriften genehmigen lässt. "Diese Umstellungen sind enorm aufwendig und in der kurzen verbliebenen Zeit vor allem für Kleinbetriebe kaum zu schaffen", konstatierte Berg. "Wer sich auf diesen Fall nicht vorbereitet hat, für den heißt es: In den Notfall-Modus schalten und umgehend sämtliche Datenströme überprüfen, die in das Vereinigte Königreich führen könnten."
Kein EU-Land mehr am Tag X
Doch nicht nur die Datenströme müssen analysiert werden. Der gesamte Handel mit der Insel steht nach einem ungeregelten Brexit mit einem Mal auf einer vollkommen veränderten Basis. Das muss sich auch in den zugrundeliegenden IT-Systemen der Betriebe widerspiegeln, die mit britischen Firmen Handel treiben. Wichtig sei, dass die Änderungen konsistent im gesamten Datenbestand durchgeführt werden, rät der deutsche ERP-Anbieter proALPHA seinen Kunden bereits seit längerer Zeit. "Am Tag X ist es dann zum Beispiel nicht mehr möglich, eine Rechnung mit dem Status 'EU-Land' an einen britischen Kunden zu versenden."
Darüber hinaus müssten angesichts von Zöllen und den damit zusammenhängenden Formalitäten die Lieferbedingungen geprüft und angepasst werden, um längere Lieferzeiten zum Kunden zu berücksichtigen. Gleichzeitig sollten Unternehmen etwaige Umsatzeinbußen durch den verteuerten Warenaustausch einkalkulieren. In den Supply-Chain-Strategien sollten längere zeitliche und auch materielle Puffer eingeplant werden.
Während viele Unternehmen aus den klassischen Produktions- und Dienstleistungsbranchen mit Hochdruck an ihren Notfallplänen arbeiten, scheinen Startups wenig beeindruckt vom Brexit-Getöse. Laut einer Untersuchung der Beratungsgesellschaft Ernst & Young vom Frühjahr dieses Jahres behält London unangefochten den Spitzenplatz in Europa in Sachen Startup-Finanzierung. Mehr als fünf Milliarden Euro sammelten Gründer 2018 in der Metropole an der Themse ein - drei Prozent mehr als im vorangegangenen Jahr. Das ist etwa ein Viertel der gesamten Investitionen, die Geldgeber im vergangenen Jahr in europäische Gründungen gesteckt haben (21,3 Milliarden Euro).
Johnson will Internet-Konzerne besteuern
Tatsächlich hat sich London vor allem in den Jahren unter dem Bürgermeister Boris Johnson zu einem veritablen High-Tech-Standort entwickelt. Zwischen 2008 und 2016 startete der umstrittene Tory-Politiker zahlreiche Initiativen, um junge digital ausgerichtete Unternehmen in die britische Hauptstadt zu locken. 2012 wurde der Tech-City in London die weltweit drittgrößte Startup-Dichte bescheinigt - nach New York und San Francisco.
Johnsons Digital-Reputation bleibt indes umstritten. Für Kopfschütteln sorgte jüngst seine Idee, eine technische Lösung könnte Grenzbarrieren zwischen Nordirland und der Republik Irland verhindern - einer der Hautstreitpunkte zwischen der EU und Großbritannien im Brexit-Deal. Britische Polizeibehörden verwiesen derartige Ideen schnell ins Reich der Fantasie. Ein technisches System, das den "Irish Backstop" verhindern könne, sei Jahre wenn nicht sogar Jahrzehnte entfernt.
Auch Johnsons jüngste Forderung, die großen Internetkonzerne stärker zu besteuern, dürfte für Unruhe sorgen. "Ich denke, es ist zutiefst unfair, dass herkömmliche Unternehmen Steuern zahlen, während die Internet-Giganten, die FAANGs - Facebook, Amazon, Apple Netflix und Google - praktisch nichts bezahlen", sagte er. "Wir müssen einen Weg finden, die Internet-Giganten auf ihr Einkommen zu besteuern, denn im Moment ist es einfach unfair."
Belastungsprobe für transatlantische Freundschaft
Ein solche Digitalsteuer könnte indes die Beziehungen des britischen Premierministers zu seinem "Fan und Freund" Donald Trump auf eine harte Probe stellen. Nachdem kürzlich Frankreich im Alleingang eine Besteuerung global agierender Digitalkonzerne beschloss, stänkerte der US-Präsident, dies sei eine "Dummheit" des französischen Präsidenten Emmanuel Macron. Wenn jemand diese Konzerne mit Steuern belegen sollte, dann bitteschön die USA selbst. Als Vergeltungsmaßnahme brachte Trump höhere Steuern auf französische Weine ins Spiel: "Ich habe schon immer gesagt, dass amerikanischer Wein besser ist als französischer."
Wahrscheinlich denkt Trump im Zusammenhang mit UK bereits an Strafzölle auf Chutney und Cheddar-Käse. Das scheint Johnson egal zu sein. Seine deftige Äußerung "Fuck Business", als ihm jüngst Verbände und Organisationen wieder einmal vorhielten, welche Folgen ein Brexit für die Wirtschaft des Landes hätte, relativierte der Premierminister nur halbherzig. Ihm scheint es nur darum zu gehen, der Brexit abzuliefern, koste was es wolle. Zumindest bei seinen Anhängern kommt das an. Laut einer YouGov-Umfrage würden 61 Prozent der Mitglieder der Konservativen Partei für den EU-Austritt sogar "erhebliche Schäden für die britische Wirtschaft" in Kauf nehmen.