Vom Reifenflicken zum Smartphone

125 Jahre technisches Klebeband

04.08.2021
Ohne filigrane Klebebänder wären Smartphones nicht denkbar. Bis zu 70 teils hauchdünne Klebefilme stecken in einem modernen Telefon. Sie haben nichts mehr gemein mit dem grobschlächtigen Urahn des technischen Klebebandes, das auf einem Umweg an den Markt kam.
Heute gehören Klebebänder zu unserem Alltag. Bei deren Entwicklung fielen "Abfallprodukte" wie Speicherbänder oder Technologien zum Zusammenbau von Smartphones an.
Heute gehören Klebebänder zu unserem Alltag. Bei deren Entwicklung fielen "Abfallprodukte" wie Speicherbänder oder Technologien zum Zusammenbau von Smartphones an.
Foto: Milan Ilic Photographer - shutterstock.com

Ein Stück Technikgeschichte beginnt mit einem Flop: In der 1890er Jahren arbeitet der experimentierfreudige Apotheker Paul Beiersdorf in Hamburg an einem Wundpflaster. Das Pflaster soll hervorragend geklebt haben, allerdings wohl so gut, dass es die Haut schädigte. Oscar Troplowitz, ebenfalls Apotheker, der inzwischen Beiersdorfs kleines Labor übernommen hat, gibt der Erfindung dennoch eine Chance, wenngleich für einen ganz anderen Einsatzzweck: 1896, das genaue Datum ist unbekannt, bringt er das Pflaster auf den Markt. Als "Cito-Sportheftpflaster auf Spulen - für Radfahrer, Reiter u. Touristen" soll es zum Beispiel Radfahrern helfen, Reifen zu flicken.

Das Pflaster gilt damit als Urahn technischer Klebebänder, ohne die 125 Jahre später vom Smartphone bis zum Flugzeug praktisch kein Produkt denkbar wäre - und es ist die Wiege der heutigen Beiersdorf-Tochter Tesa SE, eines der weltweit führenden Unternehmen in Sachen Klebetechnologie.

Dass Fahrradreifen geflickt werden müssen, war damals ein neues Problem: Erst 1888 hatte der britische Arzt John Boyd Dunlop einen mit Luft gefüllten Fahrradreifen zum Patent angemeldet. Zuvor rumpelten Radfahrer auf Vollgummireifen über Wege und Straßen. Für Tesa-Sprecher Gunnar von der Geest ein Beispiel für Troplowitz' "gutes Gespür" für Trends und den Bedarf an Innovationen als Problemlöser. 1906 entwickelte Beiersdorf aus dem Cito-Pflaster das "Lassoband" zum Verschließen von Dosen. In den 1930ern bewarben die Hamburger "Beiersdorfs Federschutzgamaschen", Klebebinden, die Fahrzeugfedern vor Dreck und Rost schützen sollten.

Auch bei anderen Branchengrößen spielte der Zufall beim Einstieg in das Klebebandgeschäft eine Rolle, wie etwa in den 1920er Jahren beim US-Technologiekonzern 3M, dessen Anfänge seit 1902 in der Herstellung von Schleifpapieren wurzeln. "Beim Testen von Schleifmittelproben in einer Karosseriewerkstatt stellte Richard Drew, ein 3M-Laborassistent, fest, dass Lackierer Probleme beim Abkleben von Autoteilen hatten. Er kam auf eine Idee, die zur Erfindung des Abdeckbands führte", schreibt der Konzern in seiner Firmenhistorie. "Das Klebeband war ein Erfolg und die Produktlinie der Marke Scotch war geboren." 3M war bereits 1930 mit der Erfindung eines transparenten Klebefilms am Start - ein paar Jahre bevor in Hamburg "Beiersdorfs-Kautschuk-Klebefilm" eingeführt wird, der Urahn des "Tesafilms".

"Die Klebtechnik gilt heute als die innovative Verbindungstechnologie des 21. Jahrhunderts", heißt es beim Industrieverband Klebstoffe. "Das Potenzial der Klebstoffindustrie ist weder technologisch noch marktmäßig auch nur annähernd ausgeschöpft." Schließlich ist Kleben nicht nur eine elegante, platzsparende Alternative zum Schrauben, Schweißen, Löten, Nähen, Nageln oder Nieten. Anders als bei den herkömmlichen Fügetechniken wird der Werkstoff beim Kleben nicht "verletzt" und unter Umständen damit geschwächt.

Neben Klebstoffen kommen dabei zum Beispiel im Automobilbau, der Elektronik oder am Bau technische Klebebänder zum Einsatz, die nicht nur unsichtbare Verbindungen schaffen, sondern je nach Bedarf zum Beispiel auch isolieren, Strom leiten, Daten speichern oder Stöße abdämpfen können. "Klebeband ist oft der versteckte Motor, der Innovationen im Produktdesign ermöglicht. Mit Klebeband können Sie Produkte dünner, leichter und ansprechender machen oder funktionale Merkmale hinzufügen", heißt es beim Europäischen Klebebandverband Afera.

"Beispielsweise können allein in einem modernen E-Mobil mehr als 130 Klebebänder verbaut sein - und in einem Handy rund 70", sagt der Tesa-Sprecher. Heutige High-Tech-Klebebänder haben mit dem grobschlächtigen "Cito" von Beiersdorf nichts mehr gemein. Klebefilme, wie sie zum Beispiel Tesa für Smartphone-Hersteller entwickelt, sind "mit 0,003 bis 0,5 Millimetern hauchdünn, oft gerade mal so fein wie ein einzelnes Haar".

Daten zum Markt für technische Klebebänder und der Position einzelner Branchengrößen wie 3M oder Avery Dennison aus den USA, dem japanischen Nitto-Konzern oder Tesa sind kaum zu bekommen. Afera schätzt allein den europäischen Gesamtmarkt für Kleb- und Dichtstoffe auf 17 Milliarden Euro, mit einer geschätzten Wachstumsrate von jährlich vier Prozent. Heute werden dem Verband der Europäischen Klebstoff- und Dichtstoffindustrie (Feica) zufolge allein in Europa jedes Jahr etwa fünf Millionen Tonnen Kleb- und Dichtstoffe hergestellt und verwendet. Die Hersteller bieten demnach mehr als 250.000 verschiedene Produkte für die unterschiedlichsten Anwendungen an.

Allein in Deutschland wird die Produktion vom Industrieverband Klebstoffe auf jährlich mehr als 1,5 Millionen Tonnen sowie eine Milliarde Quadratmeter Klebebänder und -folien taxiert. "Die durch den Einsatz von Klebtechnik generierte Wertschöpfung beträgt - konservativ gerechnet - deutlich über 400 Milliarden Euro", schreibt der Verband. "Dieser Betrag entspricht knapp 50 Prozent des Beitrages des produzierenden Gewerbes und der Bauwirtschaft zum deutschen Bruttoinlandprodukt (BIP). Mit anderen Worten: knapp 50 Prozent der in Deutschland produzierten Waren und Baudienstleistungen stehen mit Klebstoffen in Verbindung." (dpa/rw)

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