Disruption bei Digitalagenturen

"Wer nicht wächst und selbst innoviert, wird verlieren"

Ronald Wiltscheck widmet sich bei ChannelPartner schwerpunktmäßig den Themen Software, KI, Security und IoT. Außerdem treibt er das Event-Geschäft bei IDG voran. Er hat Physik an der Technischen Universität München studiert und am Max-Planck-Institut für Biochemie promoviert. Im Internet ist er bereits seit 1989 unterwegs.
Immer mehr Digitalagenturen wandeln sich zu Technologie-Unternehmen. Darüber sprach ChannelPartner mit Alexander Janthur, dem Chef der Berliner Digitalagentur Turbine Kreuzberg.
Alexander Janthur, CEO bei Turbine Kreuzberg: "Als Technologieagentur entwickeln wir für unsere Kunden höchst individuelle Software-Lösungen, wie etwa Handels-, Service- oder Prozessplattformen, und schaffen Architekturen für ganze Systemlandschaften."
Alexander Janthur, CEO bei Turbine Kreuzberg: "Als Technologieagentur entwickeln wir für unsere Kunden höchst individuelle Software-Lösungen, wie etwa Handels-, Service- oder Prozessplattformen, und schaffen Architekturen für ganze Systemlandschaften."
Foto: Turbine Kreuzberg

Herr Janthur, was hat Sie dazu getrieben, Turbine Kreuzberg zu gründen?

Alexander Janthur, CEO bei Turbine Kreuzberg: Das begann recht unspektakulär - 1998 habe ich gemeinsam mit Kommilitonen zum ersten Mal im Internet Geld verdient - mit dem Aufbau der Online-Präsenz und -Kampagne für Siegfried Scheffler, dem Direktkandidaten der SPD in Treptow-Köpenick für den Bundestag. Auch wenn das technisch sicher nicht weltbewegend war, bedeutete es doch für uns den Stein des Anstoßes und einen Ansporn, eine Digitalagentur aufzubauen.

Welche Projekte waren Ende der 1990er en vogue?

Alexander Janthur, Turbine Kreuzberg: Zunächst einmal ging es um den generellen Aufbau digitaler Infrastrukturen in den Organisationen, hauptsächlich in Form von anfangs informativen und zunehmend auch vertriebsorientierten Websites. Man darf nicht vergessen: Die Bandbreite war sehr gering, die Komplexität ist erst nach und nach gestiegen, vor allem in Richtung Interaktion, Animation und Bewegtbild. Da sind dann aufwendige Präsenzen mit Flash entstanden oder die ersten wirklich nutzbaren Online-Shops.

Wie hat sich Ihr Tätigkeitsspektrum in den 20 Jahren danach entwickelt?

Alexander Janthur: Zunehmend ist die Basis bereits gelegt - heutzutage stehen wir Agenturen an einem Punkt, an dem die digitale Infrastruktur grundsätzlich besteht, aber von dieser Basis ausgehend neue Geschäftsmodelle entwickelt werden. Das muss technologisch umgesetzt werden - deshalb fokussieren wir uns immer stärker auf Technologie. Zur besonderen Herausforderung werden zunehmend die wachsenden Kundenanforderungen, die Unternehmen allein immer weniger erfüllen können - weswegen sie Partnerschaften mit anderen Unternehmen eingehen und ihr Plattformgeschäft ausbauen. Dieser Wandel macht auch vor Digitalagenturen selbst nicht halt: Der Markt ist geprägt von Ankäufen, es bilden sich Megaplayer, man geht Kooperationen ein.

Nun wandeln Sie sich selbst von einer klassischen Digitalagentur hin zu einem Technologieunternehmen, wie gestaltet sich denn dieser disruptive Prozess?

Janthur: Ja, dieser Wandel hat für uns eine sehr hohe Priorität. Wir verstehen uns ganz klar als Technologiepartner - und haben fünf zentrale Thesen zu diesem Wandel definiert.

Diese kann ich kurz umreißen:

1. Standards sind der entscheidende Faktor bei dem Wandel zur Tech-Company


Standards sind die wichtigste Währung der automatisierten Welt: Wer in der Lage ist, die technologischen Paradigmen zu bestimmen, sichert sich langfristigen Erfolg. Dazu muss man sich nur die rasante Entwicklung von Kubernetes anschauen - oder, um ein anderes Beispiel zu nennen, ein Plattform-Modell wie Airbnb. Entwickelt man die Schlagkraft und die Geschwindigkeit, um Schnittstellen zu besetzen, kann man damit überkommene Geschäftsmodelle ablösen. Für uns als Technologieagentur ist das eine Chance, weil wir die Logiken unterschiedlichster Märkte kennen. Wir wären also dazu fähig, wirklich branchenübergreifende Standards anzustoßen und zu etablieren. Gerade deshalb stecken wir momentan viel Energie in dezentrale Technologien.

2. Unternehmen müssen selbst Innovations-Inkubatoren werden

Um zur Tech-Company zu werden, brauchen Digitalagenturen eine solide Innovationsstrategie - nach innen und nach außen. Hier bieten sich zwei Herangehensweisen an: Zum einen können vielversprechende Start-ups als Corporate-Start-ups oder potenzielle Joint-Venture-Partner in die Agentur integriert werden,. Anderen raten wir, mehr Bereitschaft zur Kooperation bzw. "Coopetition" zu wagen. Zudem müssen Digitalagenturen als Tech-Unternehmen neben ihrer Beratungs- und Umsetzungskompetenz selbst neue, eigenständige Produkte entwickeln.

3. Durch IoT, AI und Blockchain werden Innovationen kalkulierbar

Wir erleben gerade, wie sich drei technologische Konzepte etablieren, die - vor allem verknüpft - das Potenzial haben, die Gesellschaft vergleichbar stark zu verändern wie etwa die Etablierung des Internets in den Alltag. Tech-Unternehmen sollten deshalb IoT, AI und Blockchain in ihren Werkzeugkasten integrieren und sie einzeln und verbunden anbieten, um damit Geschäftsmodelle neu erfinden zu können. Durch IoT-Sensorik lässt sich heute schon Beschaffung automatisieren, per Machine Learning Kaufverhalten prognostizieren und über Distributed-Ledger-Technologie Transaktionen festhalten und transparent machen.

4. Partnerschaften statt Pitches

Die Zeiten, in denen Digitalagenturen bei potenziellen Auftraggebern zum Pitch angetreten sind, gehören zunehmend der Vergangenheit an. Komplexe Aufgaben, wie das Re-Platforming ganzer Systemlandschaften oder auch die Integration aufkommender Technologien, müssen wirklich gemeinsam bearbeitet werden. Dabei rücken strategische Partnerschaften noch stärker in den Vordergrund.

5. Führung durch Fachwissen statt Hierarchien

Schnelllebige Produktzyklen, rasante Innovationen und ein neues Selbstbewusstsein in der nachrückenden Generation erfordern auch ein Upgrade des Führungsstils: Führung meint zunehmend natürliche Autorität, die sich aus fachlicher Expertise ableitet.

Indem keine Führungskraft mehr den eigenen Stil oder das individuelle kulturelle Verständnis einem ganzen Team vorschreibt, kann die Basis für Diversität, Kreativität und Innovation entstehen.

Damit treten Sie jetzt in unmittelbaren Wettbewerb mit klassischen Systemhäusern wie Bechtle, Computacenter oder Cancom?

Janthur: Das Selbstverständnis und die angebotenen Leistungen sind andere. Systemhäuser vertreiben Hard- und Software-Lösungen gebündelt, auch als betriebsfertige Komplettlösungen. Dafür gibt es zu Recht großen Bedarf. Als Technologieagentur entwickeln wir für unsere Kunden höchst individuelle Software-Lösungen, wie etwa Handels-, Service- oder Prozessplattformen, und schaffen Architekturen für ganze Systemlandschaften.

Welche Trends erwarten Sie noch 2021?

Janthur: Neben einem generellen Digitalisierungsschub im Zuge der Pandemie erwarte ich das Fortschreiten des Trends, bisherige Geschäftsmodelle abzulösen und neu zu denken. Die so entstehenden Szenarien beeinflussen nicht nur Unternehmen, sondern das Leben aller Menschen. Die städtische Mobilität ist vollkommen im Umbruch, nachhaltiges Wirtschaften gerät immer stärker in den Fokus, dezentrale Finanzlösungen werden die Alternativen zunehmend verschlucken. Und die Regeln verändern sich: Wer nicht wächst oder schnell sehr starke Partner findet und kontinuierlich innoviert, wird nicht bestehen. Das gilt nicht nur für den Agentursektor.

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