Open Text will Carbonite für 1,42 Milliarden Dollar übernehmen. Das Gebot liegt 78 Prozent über der aktuellen Marktkapitalisierung des Unternehmens. Es wird vom Carbonite-Vorstand unterstützt, der es als die beste Lösung für die Anteilseigner sieht. Das kann man in Hinblick auf den mittelfristigen Ertrag so unterschreiben.
Im dritten Quartal des Geschäftsjahres 2019, das am 30. September 2019 endete, erwirtschaftete das Unternehmen einen Umsatz von 125,6 Millionen Dollar. Obwohl das 62 Prozent mehr als im Vergleichsquartal des Vorjahres waren, stand unterm Strich ein Verlust von 14 Millionen Dollar, verglichen mit einem Überschuss von 0,6 Millionen Dollar im dritten Quartal 2018.
Was Carbonite einbringt
In den vergangenen Jahren hat sich Carbonite aus einem Backup- und Recovery-Spezialisten zu einem Komplettanbieter für Cyber-Resilienz gewandelt: 2014 wuurde der in Deutschland viel genutzte Mail-Archivierungsdienst MailStore akquiriert, und im Frühjahr 2019 kam der Security-Spezialist Webroot dazu; Kaufpreis damals: rund 618 Millionen Dollar. Außerdem übernahm Carbonite auch noch Double-Take, einen Spezialisten für Hochverfügbarkeitslösungen.
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Damit hatte sich Carbonite in einem vielversprechenden Marktsegment grundsätzlich gut aufgestellt und nach mehreren Anläufen durch eine neue Channel-Strategie außerdem eine solide Grundlage für den indirekten Vertrieb geschaffen. Teil dieser Bemühungen war auch ein Distributionsvertrag mit dem VAD Ebertlang, der sich sehr für Carbonite engagiert.
Open Text hat wenig Bezug zum Channel
Open Text hat einen ganz anderen Hintergrund. Das Unternehmen ist im Bereich Enterprise Content Management (ECM) unterwegs. Dort ist Open Text laut Gartner, das diesen Markt seit drei Jahren unter dem Begriff "Content Services Plattformen" beschreibt, mit einem Marktanteil von 24 Prozent der deutlich größte Anbieter - weit vor IBM (14 Prozent Marktanteil ).
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Außerdem betreibt das Unternehmen - nicht sehr bekannt, aber dennoch sehr wichtig - mit dem "Open Text Business Network" eine Plattform zur automatisierten Abwicklung von Geschäftsprozessen - ansatzweise vergleichbar mit EDI-Lösungen, allerdings nicht auf eine direkte Verbindung beschränkt, sondern durch eine Vielzahl von Anwenderunternehmen gleichzeitig nutzbar. Der Bereich wurde durch die Übernahme des in der Automobilindustrie breit genutzten Portals Covisint ausgebaut.
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Mit dem Channel hat Open Text bislang wenig am Hut. Die Website listet für den deutschsprachigen Raum exakt 72 Partner auf. Für einen Hersteller von Enterprise-Software ist das gar nicht wenig, angesichts der Breite des Portfolios und der vielen Marken ist es jedoch auch nicht viel. Zwar gab es immer wieder Vorstöße und Bemühungen, mit denen Open Text verstärkt auf Partner setzen oder mit denen Open Text den Anteil des indirekten Geschäfts erhöhen wollte, die blieben aber nach einer ersten Umsetzungsphase alle wieder stecken. Und selbst bei diesen Ansätzen war es lediglich das Ziel, den Channel-Anteil am Umsatz auf 30 oder 45 Prozent zu erhöhen. Eine strategische Hinwendung zum indirekten Vertrieb sieht anders aus.
Das neu erwachte Interesse von Open Text an Partnern
Im Geschäftsbericht für das Fiskaljahr 2019, das im August 2019 endete, gibt Open Text als Ziele für das Geschäftsjahr 2020 vor, durch organisches Wachstum, Innovationen, Übernahmen und Effizienzsteigerungen wachsen zu wollen. Dazu sollen sowohl direkte als auch indirekte Vertriebswege beitragen. Über den Anteil des indirekten Vertriebs macht das Unternehmen jedoch keine Angaben. Auch eine Antwort auf die Anfrage von ChannelPartner diesbezüglich steht noch aus.
Allerdings hat sich Open Text laut Geschäftsbericht (PDF-Datei) vorgenommen, einen Schwerpunkt auf wiederkehrende Einnahmen und die Steigerung der Margen zu legen - beides Aspekte, in denen Partner oft als störend empfunden werden.
Auch strategische Übernahmen wurden in dem Bericht angekündigt. Zu denen dürfte angesichts des Transaktionsvolumens auch die von Carbonite gehören. Die Akquisitionen sollen laut Geschäftsbericht allerdings dazu dienen, das Produktportfolio auszubauen, die Innovationsfähigkeit zu erhöhen und dadurch mit den Kunden zusätzliche Geschäfte zu machen. Von einer geplanten Diversifizierung oder Ausweitung des Geschäfts auf zusätzliche Felder steht dort nichts - und der Begriff "Partner" kommt nur im Sinne von "Technologiepartnern" vor.
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Auch mit der Integration zugekaufter Firmen hat sich Open Text in der Vergangenheit schwergetan. Zum Beispiel reagierten viele aus der Branche besorgt auf den Kauf von Documentum im Zuge des Zusammenschlusses von Dell und EMC. Auch nach der Übernahme des Münchner Anbieters Ixos lief nicht alles rund - und die Liste ließe sich nahezu ebenso lang fortsetzen, wie die Liste der Übernahmen durch Open Text ist. Aus diesen Erfahrungen heraus, sieht es erst einmal nicht rosig aus. Es gibt aber Anzeichen, dass beim Milliarden-Deal mit Carbonite einiges anders wird.
Wie geht es mit Carbonite weiter?
Alle Aussagen darüber, was mit Carbonite und MailStore unter dem Dach von Open Text geschehen wird, sind derzeit noch Spekulation. Angesichts der Historie von Open Text lässt sich jedoch vermuten, dass die übernommenen Technologien vereinnahmt werden, um die eigenen Angebote zu ergänzen. Die Argumentationslinie dürfte sein, dass die in ECM-Systemen vorhandenen Daten, die für das Funktionieren von Unternehmen unverzichtbar sind, entsprechend gesichert werden und bei Bedarf wiederherstellbar sein müssen. Das erinnert ein bisschen an die Story, die EMC nach dem Kauf von Documentum erzählte - nur eben in neuem Gewand.
Die Datensicherungsplattform von Carbonite, das Backup für Microsoft Office 365 (samt SharePoint) und die High-Availablitiy-Lösungen dürften für Open Text technisch von Interesse sein. Eventuell trifft das auch auf die Mail-Archivierung von MailStore zu. Die erfüllt technisch offenbar auch anspruchsvolle Voraussetzungen. Sonst hätte sich nicht kürzlich erst Datev dafür entscheiden, Kunden künftig MailStore statt der bisher verwendeten eigenen Mail-Archivierungslösung zu empfehlen.
Allerdings sind Ziele und Spezialisierungen von Carbonite auf die Entwicklung von E-Mail-Archivierungslösungen für kleine und mittelständische Unternehmen und auch auf die Vertriebsstrategie für diese Klientel ausgelegt. Für Open Text sind dieser Markt bisher böhmische Dörfer. Wenn dieser globaler Großkonzern kein Interesse haben sollte, sich um eine Produktlinie in Deutschland gesondert zu bemühen, wäre das für alle Betroffenen ausgesprochen bedauerlich.
Open Text will auch ins Cloud-Zeitalter
Mit seinem großen Marktanteil und seinem großen Kundenstamm bei den Top-10.000-Unternehmen hat Open Text ein Problem: Weiteres Wachstum wird langsam schwierig. Also muss man sich nach anderen Betätigungsfeldern umsehen. Das hat das Unternehmen in den vergangenen Jahren bereits getan, indem es relativ unbeachtete, einige hierzulande auch unbekannte, Unternehmen im Cloud-Bereich zugekauft hat, darunter EasyLink, GXS, ANX, Recommind, Hightail, Catalyst und Liaison.
Carbonite ist damit zwar die größte, aber längst nicht die erste "Cloud-Übernahme" von Open Text. Und Carbonite bringt als erste einen nennenswerten Channel mit: rund 14.000 Managed Service Provider, außerdem Kontakt zu 300.000 KMU-Kunden, Software auf 50 Millionen Endgeräten und durch die Angebote in Nordamerika auch 7 Millionen Privatkunden. Und: Bei Carbonite sind 90 Prozent der Erlöse sogenannte "wiederkehrende Umsätze", also Abonnements oder Einnahmen aus Managed Service-Verträgen. Genau das ist es, was Firmen heute in ihrer Bilanz haben wollen.
Fazit: Vorsichtig optimistisch
Es wäre bedauerlich, wenn nach dem Abschluss der Übernahme Anfang 2020 Open Text das Carbonite-Portfolio "ausmistet" und sich nur auf Aspekte konzentriert, die eigenen Produkte dienen. Auszuschließen ist es nicht, aber derzeit reine Spekulation.
Ansätze, dass Open Text auch in anderen Geschäftsfeldern als ECM tätig sein möchte, gibt es. Wenn die Carbonite-Übernahme der Startschuss dazu ist, dann wäre das aus Sicht der Carbonite-Partner zu begrüßen. Vielleicht lassen sich ja sogar einige traditionelle Open-Text-Produkte stärker über den Carbonite-Channel vertreiben - zunehmende Compliance-Anforderungen, Aufbewahrungs- und Nachweispflichten für Dokumente und Daten in Unternehmen jeder Größe bieten da einiges Potenzial.
Etwas Angst haben muss man um die Carbonite-Software zur Migration von Daten und Servern zu und von jeglichen Umgebungen (physischer, virtueller und Cloud) sowie umd die Hochverfügbarkeitssysteme von Carbonite. Wenn sie nicht mehr im Fokus der Entwicklung bei Open Text stehen und nicht mehr als Einzelprodukte angeboten werden, wäre das bedauerlich. Zwar sind diese Migrations-Tools derzeit noch wenig bekannt, sie haben aber viel Potenzial - gerade für Channel-Partner.
Unterm Strich ist der Verkauf von Carbonite also nicht nur für die Anteilseigner eine gute Lösung, weil sie damit schnell eine hervorragende Rendite einstreichen. Auch für Partner, viele Mitarbeiter und auch aus Sicht von Technikern bietet sie aller Voraussicht nach mehr Vor- als Nachteile. Was jetzt noch fehlt, ist ein klares Konzept für den indirekten Vertrieb: Welche Produkte und welche Zielgruppen sollen über Partner bedient werden? Wie schützt Open Text die neu erworben Bereiche vor Übergriffen des Direktvertriebs und vor den lange Armen der großen Systemintegratoren? Hier könnten Carbonite-Mitarbeiter helfen. Bleibt zu hoffen, dass man ihnen bei Open Text auch zuhört.