Ein gängiger Witz über die Planlosigkeit junger Menschen endete früher mit der Pointe, Berufsziel sei "irgendwas mit Medien". Nachdem die Medien durch Fake-News-Vorwürfe und Me-Too-Debatte etwas in Verruf geraten sind und sich die Erkenntnis durchgesetzt hat, dass man es bei YouTube auch ohne Ausbildung und Besetzungscouch zum Publikumsliebling schaffen kann, ist der Witz gestorben.
Aufbruchsstimmung bei KI und Machine Learning
Die Berufsziele haben sich geändert. Junge Menschen zieht es heute zu Startups. Die Welt neu erfinden und vielleicht auch ein bisschen zu verbessern, war schon immer das Ziel der Jugend. Dass Änderungen heute "disruptiv" sein müssen und in vielen Fällen nur wenigen Menschen nutzen, dafür aber vielen anderen schaden, ebe jenen, die nach der Disruption mit einem flexibleren, dafür aber geringerem und unsichererem Einkommen auskommen müssen, ist wahrscheinlich ein Kollateralschaden. Die jungen Leute wussten es halt nicht besser.
Die Investoren allerdings schon. Sie wissen schließlich, worauf sie sich einlassen und wofür sie ihr Geld arbeiten lassen. Sollte man meinen. Allerdings herrscht auch bei Investoren derzeit eine gewisse Torschlusspanik. Wohin mit dem ganzen Geld, wenn Banken mit Strafzinsen drohen? Immobilien kaufen? Dabei bindet man sich zu langfristig. Aktien? Hat man schon. Sich an Startups beteiligen? Klingt gut. Aber was verspricht schnellen und risikolosen Gewinn? Wo lauert die nächste disruptive Technologie? Die Antwort lautet - Sie haben es sicher schon erraten - "Irgendwas mit Künstlicher Intelligenz (KI)."
Die ist auch heute gar kein "Rocket Science" mehr. Firmen wie Amazon, Google und Microsoft bieten in ihren Clouds Dienste an, mit denen man alles Mögliche mithilfe von maschinellem Lernen und Künstlicher Intelligenz tun kann. Beispiele dafür sind Chatbots, Sprachassistenten, Simultanübersetzer oder Techniken zur Bilderkennung. Doch das ist nicht genug. Aufbruchsstimmung herrscht in der Branche.
"Wir stehen an der Schwelle zur zweiten Phase der KI-Entwicklung," stellte Alan Priestley, Senior Director Analyst bei Gartner, im Herbst 2018 fest. Nun gelte es, Anwendungen zu entwickeln, die Informationen aus den Sprach- und Bild-Applikationen erhalten und wiederum davon lernen. Die dritte Phase bestehe dann darin, ein breiteres Spektrum an Geschäftsaufgaben durch fortschrittliches "Machine Learning" zu unterstützen - optimalerweise durch "unbeaufsichtigtes" und "verstärktes" Lernen - also weitestgehend durch autonome KI.
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Da wollen viele mit dabei sein. In Europa mindestens 2.830 Startups, um genau zu sein. So viele Jungunternehmen, die sich "Artificial Intelligence" (AI) auf die Fahnen geschrieben haben, hat die Londoner Investmentfirma MMC Ventures jetzt unter die Lupe genommen. Das Ergebnis ist ernüchternd: Nach Sichtung der öffentlich zugänglichen Informationen und nach Gesprächen mit den Führungskräften dieser Firmen konnten die Investoren bei 40 Prozent dieser Unternehmen keinerlei AI-Funktionen in deren Produkten entdecken.
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Gegenüber der Financial Times schränkt David Kelnar, Leiter der Forschungsabteilung bei MMC, aber ein, dass sich viele der Unternehmen selbst als AI-fokussiert beschreiben und viele der Startups immerhin "Pläne haben, künftig einmal Programme für maschinelles Lernen zu entwickeln."
Einen Grund für die KI-Euphorie bei den Startups hat Kelnar auch ausgemacht. Firmen, die als AI-Unternehmen wahrgenommen werden, hätten in der Vergangenheit Finanzierungsrunden mit höheren Beträgen abgeschlossen als sonstige Startups im Software-Bereich. Seinen Zahlen zufolge lag der Wert um etwa 15 Prozent höher. Zudem kämen für viele Venture-Capital-Geber in Europa nur dann Unternehmen überhaupt in Betracht, wenn diese eine Finanzierung für AI-Projekte nachfragen, so Kelnar.
Geld alleine macht nicht intelligent
Was läge da näher, als den Begriff "Künstliche Intelligenz" etwas zu dehnen? Ist nicht ein Programm schon "künstlich intelligent", das bestimmte Aufgaben automatisiert? Nicht wirklich, sind ihm die Regeln dafür doch vom Entwickler vorgegeben und diese Regeln werden vom Programm selbst nicht mehr verändert. Aber "regelbasiert" klingt eben deutlich altbackener als "intelligent".
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Ein kleines bisschen Schadenfreude kann man sich da nicht verkneifen. Wie Ophelia Brown von Blossom Capital gegenüber der Financial Times erklärt, seien Investoren vor ihrer Investitionsentscheidung schon selbst dafür verantwortlich, zu prüfen, welches Potenzial das Unternehmen hat, in das sie ihr Geld stecken. Der Haken daran: Viele seien gar nicht in der Lage zu erkennen, ob ein Startup sich tatsächlich mit Künstlicher Intelligenz beschäftigt, vielleicht schon ein funktionierendes Produkt vorweisen kann, oder sich nur das Mäntelchen des AI-Pioniers umhängt.
Aber vielleicht ändert sich das ja bald. Irgendjemand wird sicher bald ein Startup gründen, dass mit AI erkennen kann, ob sich ein Startup wirklich mit AI beschäftigt, oder nur so tut.