Wie groß ist die Bereitschaft bei Unternehmen angesichts vieler wirtschaftlicher Unsicherheiten neue Wege im IT Sourcing zu gehen?
Paul Martin: sehr groß! Angesichts des wirtschaftlichen Abschwungs und der aktuellen unternehmerischen Unsicherheiten sind CIOs zum ersten Mal seit über 10 Jahren wirklich gezwungen, neue Wege zu gehen. Sie müssen ressourceneffizienter, flexibler und wesentlich schneller agieren als bisher und trotzdem extrem enduser-orientiert sein, damit das Unternehmen im War for Talent bestehen kann! Der Druck ist enorm! Das öffnet Tür und Tor für neue IT-Delivery-Modelle und auch neue Anbieter.
Deshalb kann man sich als IT-Dienstleister nicht auf den Erfolgen der Vergangenheit ausruhen. Da braut sich ein Unwetter zusammen!
Welche Folgen hat das für IT-Dienstleister?
Paul Martin: Das lockt aktuell neue Player aufs Spielfeld, die das Thema IT-Services komplett neu denken. Wichtig ist: Die Entwicklungen der MSPs waren in den letzten Jahren immer stark aus wirtschaftlichem Eigeninteresse motiviert: mehr Marge und höhere Skalierbarkeit durch Standardisierung und Automation.
Das hat oft nicht geklappt, weil die Kunden noch nicht bereit waren die Hand vom Steuer zu nehmen und auf Standards zu setzen. Wie oft habe ich vom Kunden gehört: "Tolle Idee, aber bei uns geht das leider nicht, wir haben ganz spezielle Anforderungen…". Folglich haben viele MSPs aufgegeben und sind einfach weiter Individual-Dienstleister geblieben.
Nur: Das Marktumfeld ändert sich jetzt eben radikal und die Karten werden neu gemischt. Kunden sind viel eher bereit auf Best-Practices zu setzen und effizient outzusourcen. IT-Dienstleister müssen also einen 2. Anlauf nehmen, sonst kommt der moderne Wettbewerber, der genau das anbietet, was beim Kunden bisher undenkbar war, jetzt aber dringend gebraucht wird.
Welche neuen Wettbewerber sind das konkret?
Paul Martin: Weniger die bekannten Systemhäuser. Ich sehe viele neue "IT as a Service" Startups, die hervorragend finanziert in den Markt eintreten, wie beispielsweise: Electric AI. Aber interessanter Weise auch viele Unternehmen, die eher aus dem Mobilfunk Bereich kommen und sich jetzt der IT-Domäne annehmen. Am Ende macht es heute wenig Unterschied, ob ein iPhone oder eben ein Notebook bereitgestellt und gemanaged werden muss und so können auch Everphone und Co. schnell zu ernstzunehmenden Wettbewerbern der MSPs werden.
Was machen diese Player anders?
Paul Martin: Sie alle sind vor allem hochstandardisiert und 100% "as a Service", d.h. der Kunde kann alles flexibel mieten und hat durch Service-Pauschalen absolute Entlastung und Planungssicherheit.
Diese "Newcomer" machen zwar viel weniger als das klassische Systemhaus, aber was sie anbieten, ist in der Regel extrem gut durchdacht, preiseffizient und vor allem einfach für den Kunden zu verstehen.
Zudem liefern sie nicht nur den inhaltlichen Service, sondern auch Portale und Prozesse, die es dem Kunden leicht machen, die Leistung zu buchen und transparent zu verwalten. Sie gehen also mit einem konsequent durchdigitalisiertem Geschäftsmodell in den antiquierten und meist viel zu komplizierten Systemhausmarkt. Und genau das wollen Kunden: Einfachheit! Aus diesem Grund haben wir übrigens equipme entwickelt, um auch klassischen MSPs eine Plattform an die Hand zu geben, mit der sie ihren Kunden diese Einfachheit ermöglichen.
Lässt sich das vergleichen mit dem Wandel in den Banken und Versicherungen: Während neue Fintechs die komplette Kunden-Reise - von Erstkontakt bis zur Abwicklung des Tagesgeschäfts - voll digitalisiert haben, kämpfen klassische Banken noch damit das lokale Filialnetz, bzw. bei Versicherungen den persönlichen Außendienst, am Leben zu erhalten, ohne den Sprung ins Online-Banking komplett zu verpassen?
Paul Martin: Ja absolut. Ihr Ballast, in Form ihres Bestandsgeschäfts, ist für die Systemhäuser ein riesiges Problem in der Transformation. Sie sägen ja quasi mit jedem Schritt in eine einfache, standardisierte Zukunft am komplexen Ast, der sie heute trägt. Nichtsdestotrotz haben Systemhäuser einen entscheidenden Vorteil: Sie haben weder "heavy" Filialen abzuwickeln noch müssen sie die Mitarbeiter auswechseln, um ihr Geschäft umzubauen, da ihre Engineers und Admins bereits die notwendigen Skills mitbringen. Alles was es braucht, ist das richtige Mindset, Kapital und natürlich unternehmerischer Mut zur Veränderung.
Wie Banken und Versicherungen auch, haben IT-Dienstleister aber nach wie vor Kunden, die von ihrem IT-Dienstleister nicht nur persönliche Betreuung, sondern auch Unterstützung bei hybriden IT-Landschaften, die auch on-premise-Anteile umfassen, erwarten. Sie starten nicht auf der grünen Wiese - es gibt noch Alt-Verträge, die erfüllt werden müssen etc. Diese "Altlasten" haben Startups nicht. Wie geht man als IT-Dienstleister / MSP damit um?
Paul Martin: Da gibt es verschiedene Philosophien, auch sehr extreme Ansätze, von der Gründung einer "as a Service" Tochter bis hin zum Verkauf des Altgeschäfts, um auf der grünen Wiese zu starten. Aber wie eingangs erwähnt, haben sich die Zeiten kürzlich verändert und es würde mich nicht wundern, wenn nun auch die stärksten on-Premise Verfechter in der Kundenkartei plötzlich offen sind, es mal mit einer kosteneffizienten Cloud-Lösung zu versuchen
Auch wenn diese Themen "durchgelutscht" scheinen mögen: Um Speed zu gewinnen müssen IT-Dienstleister dennoch ihre Managed Services skalieren, Prozesse verschlanken, automatisieren, und gleichzeitig viele Neukunden gewinnen. Wo und wie packt man das an?
Paul Martin: Als erstes müssen sich die IT-Dienstleiser fragen, was sie wirklich besser können als alle anderen und welche Kunden diese Leistung brauchen. Danach sollten sie die Hypothesen in Interview-Form mit potenziellen Kunden verproben, um keine Luftschlösser zu bauen. Eine klare Positionierung und ein definiertes Serviceportfolio ist Grundvoraussetzung für alles weitere - ähnlich der Speisekarte im Restaurant. Dann müssen die MSPs unbedingt Vertriebskapazität aufbauen, da sie in Zukunft einfach weniger Umsatz pro Kunde machen werden, wenn ihr Leistungsportfolio schmaler wird.
Woran hakt es hauptsächlich bei diesem Umbau?
Paul Martin: Viele Systemhäuser sind im Sales sehr schlecht aufgestellt. Teilweise haben sie gar keinen dedizierten Vertrieb, da sie historisch mit wenigen Kunden viel Geld verdient haben und es in ihrem klassischen Geschäft eher um breite und tiefe Lösungskompetenz als um schnelle Skalierbarkeit des Vertriebs ging. Das wird aber zunehmend relevanter, wenn die angebotenen Leistungen immer einfacher werden. Und dummerweise haben insbesondere die angesprochenen Wettbewerber aus Startup und Mobilfunk schon immer eine extreme Vertriebsfokussierung.
Viele IT-Dienstleister haben sich in den vergangenen 2-3 Jahren zusammengeschlossen zu neuen, größeren Konglomeraten, teils mit Investoren im Rücken, und der Trend hält weiter an, (netgo group, teccle group, MCL, Fernao, etc.). Bei allen Unterschieden der Modelle, verfolgen sie doch genau dieses Ziel: Strukturen und Abläufe zu schaffen für einen Anything as a Service, ganzheitlichen IT Delivery as a Service. Wie bewertest Du diesen Weg, sich - auch gegen neue Wettbewerber - durchaus sehr zukunftsfähig aufzustellen, wenn nicht sogar schlagkräftiger, da sie auch umfangreiche "On-premis"-Know-how mitbringen?
Paul Martin: Hier bin ich gespannt, in manchen Fällen auch sehr skeptisch, ob das am Ende wirklich funktioniert. Manche Probleme werden mit Größe auch einfach nur größer. Natürlich bringen diese Konstrukte eine extreme Ressourcenkapazität und Finanzkraft mit, aber eben auch einen Zoo an unterschiedlichen Unternehmern, Kulturen und Geschäftsmodellen. Am Ende muss das theoretische Synergiepotential auch gehoben werden und dafür braucht es ein starkes Management und die Bereitschaft radikal zu integrieren und neu auszurichten.
An welchem Punkt stößst Du mit diesen Einschätzungen im Markt auf den größten Widerspruch?
Paul Martin: Wie bei jeder der großen Disruptionen im Markt, realisieren viele Unternehmen die neuen Trends und Kundenbedürfnisse erst, wenn es schon zu spät ist. Gerade die Systemhäuser, denen es mit ihrem klassischen Geschäftsmodell noch sehr gut geht, sind anfällig dafür die Risiken der neuen Zeit (und natürlich auch die großartigen Chancen) zu übersehen. Diese anregenden und auch kontroversen Diskussionen schätze ich sehr.