Was bedeutet Digitalisierung für die Geschäftsprozesse eines mittelständischen Unternehmens?
Lutz Tilker: Die Stärke von mittelständischen Unternehmen liegt darin, dass sie größtenteils in integrierten und übergreifenden Wertschöpfungsketten agieren. Dies beinhaltet fast immer eine enge Verbindung zwischen Unternehmen und Kunden sowie Lieferanten. Insofern verlangt die Digitalisierungvom Mittelstand, die bestehende IT-Abstützung der Wertschöpfungskette aus der digitalen Perspektive zu analysieren. Dies betrifft Produktion, also Leistungserbringung, genauso wie die Prozesse mit Kunden und Lieferanten.
Uwe Bohnhorst: Aus meinen Diskussionen mit mittelständischen Unternehmern und Entscheidern höre ich immer wieder, dass der Bedarf und die Notwendigkeit zur Digitalisierung von Prozessen grundsätzlich erkannt sind. Auch mit vielen der damit einhergehenden Technologien haben sich die Verantwortlichen bereits beschäftigt. Viele Entscheider stehen heute jedoch vor der Frage, wie sie die Digitalisierung angehen und umsetzen sollen. Manche Unternehmen sehen sie als Projekt. Für wieder andere geht es einfach um Innovation der bestehenden Produkte und Dienstleistungen. Alle haben gemeinsam, sich erst daran gewöhnen zu müssen, dass Erfolg im Zeitalter der Digitalisierung nicht nur mit präziser Facharbeit und der Liebe zum Detail beim Produkt zu erreichen ist, so wie sie das über viele Jahrzehnte gewohnt waren.
Hat der Mittelstand verstanden, dass die Digitalisierung der eigenen Prozesse für seine Unternehmen überlebenswichtig ist?
Tilker: Grundsätzlich ja, auch wenn man hier den Mittelstand differenziert betrachten sollte. Es gibt sicher Branchen, für die das Potenzial der strategischen Weiterentwicklung mit Hilfe von Technologien und Techniken der Digitalisierung weitaus größer ist als für andere. In diversen Studien haben sich zwei Drittel der deutschen mittelständischen Unternehmen geäußert, dass Digitalisierung ein aktuelles Thema für ihr Geschäftsmodell ist. Über die Hälfte hat die Digitalstrategie in ihre Unternehmensstrategie eingebettet. Branchen wie Handel und Dienstleistung sehen hier nachvollziehbarerweise eine höhere Dringlichkeit als zum Beispiel das Baugewerbe.
Bohnhorst: Die Notwendigkeit hat der Mittelstand in der Tat verstanden. Mittelständische Betriebe wissen, dass sie agiler, schneller und innovativer werden müssen, um bei der Kundenakquise und dem Rennen um neue Geschäftsmodelle mit ihren Konkurrenten im globalen Wettbewerb mithalten zu können. Und der digitale Wandel trifft alle Branchen. Während Medien und IT längst den Wandel vollziehen, spüren Sparten wie Automobil- und Maschinenbau die Veränderung erst allmählich, sie ist in diesen Branchen aber nicht minder umwälzend und eine große Chance für einen starken deutschen Mittelstand.
Wie geht der Mittelstand mit den erforderlichen Veränderungen um, und woher kommt das dafür nötige Know-how?
Tilker: Mittelständische Unternehmen haben eine hohe Innovationskraft. Die Liste der Mittelständler, die in ihrem Segment weltmarktführend sind, ist beeindruckend. Dass es sich hierbei in erster Linie um Produktinnovationen handelt, sagt viel über die Fähigkeiten des Mittelstands aus, Veränderungen beziehungsweise Fortschritt herbeizuführen. Gleichwohl stellt die Digitalisierung durch die unternehmensübergreifenden Konsequenzen eine besondere Herausforderung dar. Hinzu kommt, dass mittelständischen Unternehmen oft die zeitlichen und personellen Ressourcen fehlen, um den großen Markt von Digitalisierungsprodukten und -lösungen effektiv zu sichten. Daraus folgt, dass die Bewertung für eine passende Digitalstrategie sowie Entscheidungswege für Investitionen oft schwierig sind.
Bohnhorst: Da ist genau das Problem, das ich eingangs erläuterte. Den mittelständischen Unternehmen - und besonders den erfolgreichen - gelingt es oft nicht, die richtigen Ansätze für die Digitalisierung zu finden. Zu sehr sind diese Unternehmen in ihren altbewährten Mustern, fest gelegten Regeln und bis dato funktionierenden Prozessen verhaftet. Sie konzentrieren sich primär darauf, bestehende Kundenbeziehungen und Produkte zu verbessern, anstatt zu verändern. Marktführerschaft ist im Zeitalter der Digitalisierung aber nicht nur über noch bessere und präzisere Produkte und Feinschliff in den Prozessen garantiert. Viele Unternehmen sehen hier auch vornehmlich den IT-Bereich in der Verantwortung. Dieser kann das aber nicht alleine leisten. Das Abteilungsdenken vieler Mittelständler ist in diesem Zusammenhang eher hinderlich.
Sind die vorhandenen Mitarbeiter die richtigen für Veränderungen, oder gibt es eine Tendenz, verstärkt mit Externen zu arbeiten?
Tilker: Nach meiner Beobachtung können in vielen Fällen die eigenen Mitarbeiter zu diesem Veränderungsprozess sehr viel beitragen, da sie das Geschäftsmodell und die Wertschöpfungskette des Mittelständlers im Detail kennen. Dies ist für eine Digitalisierungsstrategie unabdingbare Voraussetzung. Jedoch ist eine externe Unterstützung hilfreich, damit Fachwissen ins Unternehmen kommt, über das im Haus meist nicht verfügt wird.
Bohnhorst: Wie bereits erwähnt, sind mittelständische Unternehmen häufig in Altbewährtem verhaftet. Von daher ist es sinnvoll, neue Mitarbeiter an Bord zu holen; idealerweise aus anderen Branchen beziehungsweise mit einem anderen Hintergrund. In dieser technischen Revolution ist vieles anders und verlangt nach einer anderen Form von Teamarbeit und Kreativität. Auch das Ausprobieren und Verwerfen von Ideen ist Teil dieses Prozesses.
- Achillesferse der Digitalisierung
In dem Papier "Being digital: Embrace the future of work and your people will embrace it with you" bezeichnet Accenture die Belegschaft eines Unternehmens als "Achillesferse" der Digitalisierung. Das Papier basiert auf Angaben von rund 700 Entscheidern weltweit sowie circa 2.500 Angestellten. - Befürchtungen der Mitarbeiter
Eine Mehrheit von 70 Prozent der Angestellten befürchtet den Verlust von Teamgeist, wenn die Kollegen per Fernzugriff arbeiten und nicht mehr ins Büro kommen. Etwa jeder Achte (zwölf Prozent) erwartet, seine Job-Aussichten werde sich durch die Digitalisierung negativ entwickeln. - Vorteile der Digitalisierung
Gleichzeitig erwarten die Angestellten aber auch Vorteile in den Punkten Innovationsfähigkeit ihres Unternehmens (71 Prozent), Agilität (69 Prozent) und Produktivität (68 Prozent). Insbesondere jüngere Befragte mit überdurchschnittlich hoher Qualifikation sehen die Vorteile der Digitalisierung – "wenig überraschend", wie Accenture schreibt. - Katalog digitaler Skills
Accenture rät Entscheidern, einen Katalog mit den benötigten digital Skills samt dem jeweiligen Kompetenzniveau zu erstellen. - Keine Nebensache
Entscheider dürfen das Thema Mitarbeiter nicht als Nebenschauplatz behandeln, so der Appell von Accenture. Sie brauchen eine "Test and learn"-Mentalität.
Wie sieht die Personalentwicklung aus? Wie werden die guten Leute gehalten, damit sie in der derzeitigen Digitalisierungswelle nicht abgeworben werden?
Tilker: Der Mittelstand ist sehr erfolgreich darin, seinen Mitarbeitern eine langjährige Perspektive zu bieten und sie dementsprechend im Unternehmen zu halten. Dies gründet zum einen auf der familiären Unternehmenskultur und zum anderen auf der Möglichkeit für Mitarbeiter, Verantwortung zu übernehmen und am Erfolg der eigenen Arbeit zu partizipieren.
Bohnhorst: Die Digitalisierung erfordert eine starke Zusammenarbeit in Teams; die sollten möglichst interdisziplinär gemischt sein, so dass Fach-, Branchen- und IT-Know-how sich ergänzen. Dann gibt es eine gegenseitige Befruchtung und gemeinsame und sinnstiftende Weiterentwicklung. Dies bietet Mitarbeitern meiner Erfahrung nach eine befriedigendere Perspektive als reine Geld-Boni. Zudem finden digitale Innovationen nicht digital statt, sondern indem die richtigen Teams physisch zusammenarbeiten.
Welche Erfahrungen mit neuen Modellen machen Ihre Kunden?
Tilker: Die Planung und Implementierung einer Digitalstrategie ist ein strategisches Projekt, welches auch in Projektform organisiert werden sollte. Bewährt hat sich die Schaffung eines Ressorts oder Bereichs mit Verantwortung für die unternehmensübergreifende Digitalisierung. Zwar ist der Begriff des Chief Digital Officer manchmal auch ein Buzz-Word, aber zur Sicherstellung eines digitalen Lern- und Umsetzungsprozesses im Unternehmen ist eine solche Person notwendig. Digitalisierung sollte natürlich kein Selbstzweck sein; die digitalen Aktivitäten sollten kontinuierlich hinsichtlich Effizienz und Effektivität kontrolliert und evaluiert werden. Zuletzt gilt es auch, die bei einem Lernprozess leider zwangsläufig auftretenden Fehler zu akzeptieren und zu korrigieren, auch wenn dies mit Fehlinvestitionen einhergeht.
- 9 Wege zur Digitalisierung
Eine neue Studie zum Thema Digitalisierung identifiziert neun Handlungsfelder in denen Unternehmen tätig werden müssen, um die Digitalisierung erfolgreich voranzutreiben und Digitale Exzellenz zu erlangen. - Digital Leadership
Die digitale Transformation muss von der Unternehmensspitze priorisiert und vorangetrieben werden. - Digital Empowerment
Die Qualifizierung von Mitarbeitern für die digitale Transformation sollte unternehmensweit von statten gehen. - Customer & Partner Engagement
Kunden und Partner sind die treibenden Kräfte der digitalen Transformation. Das Ziel für Unternehmen ist es folglich, deren Erwartungen und Anforderungen zu verstehen und diesen möglichst schnell gerecht zu werden. - Business Model Innovation
Digitale Exzellenz erfordert die fortlaufende Überprüfung bestehender Geschäftsmodelle auf Digitalisierungspotenziale und -notwendigkeiten. Unternehmen sollten neue digitale Geschäftsmodelle aktiv entwickeln. - Digital Platform Management
Im digitalen Raum haben verschiedene Plattformen eine zentrale Rolle übernommen. Unternehmen müssen auf diesen Plattformen präsent sein, Einfluss auf sie nehmen oder sogar selbst eine Plattform entwickeln und betreiben. - IT Architecture Transformation
Veraltete IT-Architekturen müssen komplett überarbeitet und erneuert werden. Die auf Stabilität und Sicherheit ausgelegten Backend-Systeme sollten so optimiert werden, dass sie die Frontend-Systeme in ihrer schnellen Weiterentwicklung unterstützen können. - Process Digitisation & Automation
In der klassischen IT-Disziplin der Prozessoptimierung und Effizienzsteigerung erfordert Digitale Exzellenz ein permanentes IT-Engagement. - Data-driven Agility
Digitale Exzellenz erfordert die stetige Auswertung von entstehenden Daten. Diese sollten anschließend in die steuernden Prozesse zurückgeführt werden, wo sie unmittelbar für die Weiterentwicklung und Gestaltung des digitalen Angebotes zur Verfügung stehen. - Digital Security & Compliance
Digitale Exzellenz ist nur zu erreichen und aufrechtzuerhalten wenn Systeme und Prozesse kontinuierlich in Bezug auf Sicherheit und Compliance überprüft und weiterentwickelt werden.
Bohnhorst: Wir stellen bei unserer mittelständischen Klientel, vornehmlich aus dem Maschinenbau, einen starken Trend zur Vernetzung von Maschinen in die Prozesse fest, das sogenannte Internet of Things (IoT). Die Maschinen werden mit Sensoren versehen und liefern enorme Mengen von Daten, die wiederum für völlig neue Geschäftsprozesse genutzt werden, zum Beispiel im Bereich Predictive Maintenance oder für neue Abrechnungssysteme mit den Kunden (Pay per Use etc.). Dieser Trend mit all seinen damit verbundenen Neuerungen, Entwicklungen und Veränderungen birgt enorme Chancen und natürlich die bereits erwähnten Risiken und Herausforderungen. (pg)