Frankfurt liegt im Herzen von Europa, so sagt man dort - und Visionen wachsen am Main sowieso gerne in luftige Höhen. Da wäre das angrenzende Bad Vilbel vielleicht wirklich ein geeigneter Ort für das, was es zwischen Atlantik und Ural tatsächlich nicht gibt: "Silicon Valley - das klingt nach Ideen, Träumen und großen Innovationen", schrieb unlängst Jens Joachim in der FAZ. "Was in Kalifornien funktioniert, will ein Unternehmer nun auch in Europa realisieren - im beschaulichen Bad Vilbel."
Der Hintergrund der Geschichte: Der Bad Homburger Unternehmers Jörg-Peter Schultheis hat vor, bis 2019 im Bad Vilbeler Quellenpark einen Campus für Start-up-Unternehmen nach kalifornischem Vorbild zu etablieren. Ob das Projekt tatsächlich realisiert wird und ob es dann tatsächlich die angekündigten wegweisenden Dimensionen erreicht, steht indes noch in den Sternen.
Ein europäisches "Digital Valley"
Die Meldung aus dem Rhein-Main-Gebiet trifft aber in jedem Fall einen Nerv. Denn exakt für eine Plattform wie das Silicon Valley auch in Europa machen sich renommierte Berater stark angesichts der diagnostizierten Defizite bei der digitalen Transformation. So fordert Roland Berger die Gründung eines europäischen "Digital Valley", um die digitale Wirtschaft besser zu unterstützen. "Verglichen mit den USA ist die digitale Landschaft in Europa in hohem Maße zersplittert, geprägt von der Heterogenität seiner Akteure", sagt Stefan Schaible, CEO für Deutschland und Central Europe von Roland Berger Strategy Consultants.
Vor allem die Vernetzung dreier wesentlicher Bestandteile sei für den Erfolg digitaler Plattformen wie im amerikanischen Silicon Valley oder in Shanghai Shenzhen in China wesentlich: Innovatoren, Venture Capital und Talente. "Aber auch weitere Stakeholder wie Unternehmen, Forschungseinrichtungen und Entscheidungsträger müssen Teil eines großen europäischen Netzwerks werden", so Roland Berger Consultants weiter.
Studien von Roland Berger und McKinsey
Der Nachholbedarf in Sachen Digitalisierung erscheint in jedem Fall enorm. In Zusammenarbeit mit dem Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) untersucht Roland Berger in der Studie "Die digitale Transformation der Industrie" Ursachen und Auswirkungen der Digitalisierung auf die Industrie in Deutschland und Europa und erkennt beträchtliche Defizite bei der digitalen Reife.
Neben Roland Berger bläst auch McKinsey in dieses Horn. McKinsey stellt in einer eigenen Studie "Industry 4.0 - How to navigate digitization of the manufacturing sector" fest, dass sich nur sechs von zehn Unternehmen in Deutschland gut auf Industrie 4.0 gut vorbereitet fühlen. "Viele Unternehmen fangen erst jetzt an, sich konkret mit Industrie 4.0 auseinanderzusetzen", sagt McKinsey-Berater Detlef Kayser. "Vorteile neuer Technologien wie 3D-Druck, Big Data und Internet der Dinge werden zu oft als Risiko und nicht als Chance gesehen, die Wettbewerbsfähigkeit zu erhöhen."
Die größten Hindernisse für Industrie 4.0
300 Entscheider aus Deutschland, Japan und den USA befragte McKinsey. Als größte Hindernisse auf dem Weg zur Industrie 4.0 wurden hierzulande das Wissen der Mitarbeiter, Datensicherheit und einheitliche Datenstandards gesehen. Knapp 60 Prozent aller Unternehmen würde ihre Systeme zwar outsourcen, 81 Prozent aber nur innerhalb Deutschlands. Für ein Drittel der Befragten kommt eine Auslagerung nur innerhalb Europas in Frage.
91 Prozent betrachten die Digitalisierung der industriellen Produktion als Chance. Von Angriffen aufs Kerngeschäft durch branchenfremde Konkurrenz - zum Beispiel aus der IT-Branche - rechnen in der Bundesrepublik hingegen nur rund 50 Prozent. In Japan sind es demgegenüber 63 Prozent, in den USA sogar 92 Prozent.
Zu wenig Investitionen in Forschung für Industrie 4.0
Diese Sorglosigkeit ist offenbar nur ein Teil des Problems. Laut McKinsey investieren deutsche Unternehmen nur 14 Prozent ihres jährlichen Forschungsetats in für Industrie 4.0 relevante Themen. Es klaffe eine zweifache Lücke: "Zum einen geben US-Unternehmen mehr als doppelt so viel Geld aus. Zum anderen sind die 14 Prozent auch ein Unterinvestment gemessen an den eigenen Umsatzerwartungen, da sich die deutsche Industrie im Durchschnitt ein Umsatzwachstum von 20 Prozent dank der neuen Technologien erhofft."
Gemeinsame Initiativen und Standards innerhalb der Industrie könnten nach Einschätzung von McKinsey ein Weg sein, Vorteile von Industrie 4.0 zu realisieren. Genau dieses Rezept empfiehlt auch die Roland Berger-Studie, um die Herausforderung der digitalen Transformation zu bewältigen.
Die Berater von Roland Berger prognostizieren bis 2025 ein zusätzliches kumuliertes Wertschöpfungspotenzial von 425 Milliarden Euro alleine in Deutschland durch die Digitalisierung der Industrie. Für Europa seien es sogar 1,25 Billionen Euro. Die möglichen Einbußen durch ein Misslingen der digitalen Transformation beziffert Roland Berger auf bis zu 605 Milliarden Euro europaweit.
Digitale Reife wenig ausgeprägt
Eine Umfrage unter 300 Top-Managern der deutschen Wirtschaft habe ein Erkenntnis- und Durchdringungsproblem offenbart, wird in der Roland Berger-Studie ausgeführt. Nur gut die Hälfte der befragten Unternehmen habe sich intensiv mit dem Thema der digitalen Transformation beschäftigt. Lediglich ein Drittel der deutschen Unternehmen schätzt seine digitale Reife als hoch oder sehr hoch sein.
"Immerhin 62 Prozent der Unternehmen mit einer EBIT-Marge von über 15 Prozent bescheinigen sich eine hohe oder sehr hohe digitale Reife", heißt es in der Studie. Nach Branchen betrachtet, liegen Chemie, Logistik und Energie vorne. "Das Schlusslicht in Sachen digitaler Reife bilden - nach eigener Einschätzung - viele mittelgroße Unternehmen der Elektroindustrie sowie des Maschinen- und Anlagenbaus." Konkret bedeutet das, dass sich Firmen aus diesen Branchen als besonders anfällig für Störungen durch digitale Technologie betrachten.
Als "Durchdringungslücke" definiert Roland Berger die Differenz zwischen den Werten für die digitale Reife und der Relevanz für die eigene Branche. Mit 28 Prozentpunkten ist sie besonders ausgeprägt in der Energietechnik. Über 15 Prozentpunkten liegt sie außerdem in den Branchen Logistik, Automobil, Maschinen- und Anlagenbau sowie in der Elektroindustrie.
Falsche Ziele und Schwerpunkte
"Viele Unternehmen scheinen im Hinblick auf ihre Anstrengungen zur digitalen Transformation falsche Schwerpunkte zu setzen", kommentieren die Studienautoren. "Anstatt verstärkt auf die Entwicklung neuer Produkte und Kundenschnittstellen zu setzen, sieht ein Großteil das primäre Ziel in der Effizienzsteigerung."
Europäische Unternehmen müssten ein tieferes Verständnis der digitalen Transformation entwickeln und neue, tragfähige Geschäftsmodelle erarbeiten, so die Berater. Sonst könnten branchenfremde Marktteilnehmer, die über eine hohe Digitalisierungskompetenz verfügen, sie aus lukrativen Teilen der Wertschöpfung verdrängen. "Ob vor einigen Jahren durch Amazon oder zuletzt Uber - diese Beispiele zeigen, wie radikal Marktumbrüche durch die digitale Transformation ausfallen können", sagt Schaible.
Auf dieses neue Wettbewerbsumfeld müssten sich Dienstleister und Industrie zügig einstellen. "Neue, unternehmensübergreifende Kooperationen sind hierfür nötig - durchaus auch mit Wettbewerbern, zum Beispiel bei der Pilotierung und beim Aufbau gemeinsamer digitaler Plattformen und Geschäftsmodelle", erläutert Schaible.
Automobil und Logistik spüren die Wucht
Die Digitalisierung trifft die verschiedenen Branchen der europäischen Industrie laut Roland Berger zeitversetzt und unterschiedlich intensiv. Die Branchen Automobil und Logistik seien schon jetzt mit großer Wucht betroffen. Bis 2015 gebe es hier ein Wertschöpfungspotenzial von 445 Milliarden Euro.
Der zweiten Digitalisierungswelle mit Maschinen- und Anlagenbau, Elektroindustrie sowie Medizintechnik schreiben die Berater ein zusätzliches Wertschöpfungspotenzial von 630 Milliarden Euro zu. 175 Milliarden sind es in einer dritten Welle für Chemieindustrie und Luftfahrttechnik.
3 Ratschläge von Roland Berger
Bei der Erhöhung der digitalen Reife in den Unternehmen geht es laut Studie vor allem um die Erschließung neuer Wertschöpfungspotenziale. "Dafür sollten sich die Unternehmen ein tieferes Verständnis für die digitale Thematik und ihre Marktfolgen aneignen", so Roland Berger. Für die Entwicklung eines digitalen Masterplans empfehlen die Berater ein dreistufiges Vorgehen:
1. Analyse des Einflusses digitaler Technologien auf die Industrie: Hierbei geht es um das Aufzeigen eintretender Veränderungen. Zu fragen ist etwa nach veränderten Wertschöpfungsketten und dem Entstehen neuer, skalierbarer Plattformen.
2. Abgleich mit aktueller Position des eigenen Unternehmens: Zu bestimmen sind Umsetzungs- und Kompetenzlücken. Es gilt unter anderem, vorhandene personelle Ressourcen und die organisatorische Verankerung der digitalen Geschäftsstrategie zu beleuchten.
3. Entwicklung einer Umsetzungslandkarte: Die Entwicklung einer Roadmap für die digitale Transformation geht einher mit einer Reihe von zu beantwortenden Fragen. Für welche Zukunftsszenarien müssen wir uns bereits heute Optionen sichern? Welche Fähigkeiten müssen wir aufbauen (Datenverarbeitung, Automatisierung, Vernetzung, Kundenschnittstelle)?
Mit welchen Marktteilnehmern sollten wir uns zusammenschließen (strategische Partnerschaften, "Coopetition")? Welche Plattformen/Standardisierungsprozesse müssen wir aktiv mitgestalten? An welchen Stellen sollten wir politischen Einfluss nehmen? Wie müssen wir unsere Cyber Security weiterentwickeln?
Die Unternehmensspitze sollte die digitale Reife des Unternehmens in den Mittelpunkt der Strategie rücken, rät Roland Berger. Digitalisierung sei Chefsache. "Die Techniker, selbst jene aus den IT-Abteilungen, müssen an die digitale Zukunft herangeführt werden", heißt es weiter in der Studie. "Sie sind vielfach für Instandhaltung und Verbesserung bestehender Systeme ausgebildet und eingesetzt und sollten die Chance erhalten, neue Wege zu entdecken."
5 Tipps von McKinsey
McKinsey hat - bei Beratern kaum überraschend - ebenfalls Tipps parat. In der Studie werden fünf Handlungsfelder identifiziert, auf denen Industrieunternehmen nach Einschätzung der Consultants aktiv werden sollten:
1. Daten besser nutzen: "Unternehmen sollten die komplette Wertschöpfungskette und den gesamten Lebenszyklus eines Produkts digital abbilden", so McKinsey. Bisher werde nur rund ein Prozent der in der Produktion anfallenden Daten genutzt - ein enormes Potenzial liege damit brach: "Softwaregestützte, präzise Wartungsvorhersagen können beispielsweise helfen, Maschinen besser zu nutzen - und so die Produktivität um bis zu 30 Prozent steigern. Insgesamt bietet Industrie 4.0 die Chance, systematisch alle Kostenpositionen auf den Prüfstand zu stellen."
2. Fähigkeiten aufbauen: Die Digitalisierung erfordere von den Mitarbeitern neue Fähigkeiten. Spezialisten, beispielsweise für die Analyse großer Datenmengen, seien aber rar gesät. "Firmen müssen sich jetzt darum kümmern, diese Mitarbeiter zu finden und an sich zu binden", empfiehlt McKinsey.
3. Zugang zum Kunden sichern: "Unternehmen müssen entscheiden, welche strategischen Schnittstellen sie kontrollieren müssen, um den Kontakt zum Kunden zu behalten und sich gegen neue Wettbewerber zu behaupten", lautet Ratschlag Nummer Drei.
4. Schneller werden: "Im IT-Sektor sind schnelle Updates und ständige Produktverbesserungen an der Tagesordnung", wissen die Berater. "Industrieunternehmen sollten im Sinne einer 'Two-speed IT' neben ihrer bestehenden IT-Struktur gezielt Möglichkeiten eröffnen, Schnelligkeit wie in Startups abzubilden."
5. Datensicherheit erhöhen: Die Abwehr von Cyberangriffen sei - zumal in einer komplett vernetzten Produktion - eine Aufgabe, die nicht in der IT-Abteilung allein gelöst werden kann, sondern auf die Vorstandsagenda gehört, so McKinsey.
Während sich diese Handlungsfelder klar in der Hand der einzelnen Firmen liegen, nimmt Roland Berger stark die Politik in die Pflicht - mit Unterstützung prominenter Top-Manager. "Europa ist in der Lage, als Systemarchitekt seine eigene sichere Backbone-Struktur zu schaffen", wird Infineon-Chef Reinhard Ploss in der Studie zitiert. "Jetzt geht es darum, branchenübergreifend und in enger Zusammenarbeit mit den Behörden EU-weite Standards und Gesetze voranzutreiben."
Den Investitionsbedarf für die digitale Transformation der deutschen Industrie veranschlagt Roland Berger mit 35 Milliarden Euro bis 2025. "Eine erhebliche Summe also, vergleichbar mit den Kosten für den bis 2018 geplanten flächendeckenden Breitbandausbau", heißt es in der Studie. "Aber doch zu stemmen, gegeben einen bestehenden Kapitalstock von rund 500 Milliarden Euro."