Die Bedeutung globaler Lieferketten wurde in den vergangenen Monaten für Industrie, Handel oder Kunden erstmals sichtbar wie erlebbar: pandemiebedingte Lücken beziehungsweise Ausfälle in der Lieferkette aufgrund einer Zero-Covid-Strategie in China, Verzögerungen durch die Havarie der „Ever Given“ im Suezkanal oder Verwerfungen durch die Ukraine-Krise machen deutlich, dass in der Vergangenheit mehr Wert auf Kostenvorteile als auf Resilienz und Alternativen im Sourcing gelegt wurde.
Aufgrund über viele Jahre hinweg nahtlos funktionierender Lieferketten wurden von einer Reihe von Unternehmen Risiken billigend nach dem Motto „es wird schon irgendwie funktionieren“ in Kauf genommen. Diese einseitige Kostenfokussierung wurde zu einer der zentralen Herausforderungen im Supply Chain Management der letzten Monate und zeichnet mit für den teilweise dramatischen Anstieg von Transportkosten und Lieferausfällen verantwortlich.
Was viele Jahre an Diskussionen rund um das Thema „Lieferkettengesetz“ nicht gelang, schafften die disruptiven Ereignisse der letzten Monate und Quartale überraschend schnell und deutlich: Das Supply Chain Management fokussiert sich auf Aspekte jenseits von Kosten und Zeit. Die Frage war in vielen Fällen nicht, zu welchen Kosten, sondern ob überhaupt beziehungsweise zu welchem Zeitpunkt Produkte lieferbar wie verfügbar sein würden und wie eine zukunftsfähige und resiliente Supply Chain zu gestalten sei.
Das iSCM-ITK-Stimmungsbarometer spiegelt diese Situation wider. Seit Mai 2021 bis April 2022 war und ist mangelnde Produktverfügbarkeit das zentrale Thema der ITK-Branche. Der Wert ist im Vergleich zu den Höchstwerten im November (78 Prozent) und Dezember 2021 (76 Prozent) zwar rückläufig, dennoch gaben im April noch 63 Prozent an, dass Produktverfügbarkeit weiterhin die Hauptherausforderung der Branche sei. Die Situation verbessert sich zwar, aber wegen des aktuell abwartenden Investitionsverhaltens (43 Prozent) und der unzureichenden Nachfragesituation (18 Prozent) erreicht die Sorge um mangelnde Produktverfügbarkeit derzeit den höchsten Wert seit Ende 2020.
Komplex & bürokratisch, richtig & gut
Die Herausforderungen der letzten Jahre hatten eine positive Konsequenz. Sie haben der Einführung des Lieferkettengesetzes den Weg bereitet. Ab Januar 2023 werden rund 900 Unternehmen mit mehr als 3.000 Mitarbeitern, und ab Januar 2024 mehr als 4.800 Unternehmen mit über 1.000 Beschäftigten vom Lieferkettengesetz betroffen sein. Es ist daher sinnvoll, nach knapp einem Jahr die Situation in der ITK-Branche erneut zu evaluieren (Abbildung). Im Vergleich zu den Einschätzungen aus 2021 ergeben sich erhebliche Unterschiede.
Die Aussagen „führt zu mehr Bürokratie“ und „Einführung ist richtig“ erhielten mit 63 bzw. 57 Prozent im letzten Jahr die höchsten Zustimmungswerte. In 2022 fallen diese deutlich geringer aus – lediglich 55 Prozent für „Bürokratie“ und 47 Prozent für „ist richtig“. Die Skepsis hat – aufgrund der Erfahrungen – einerseits zugenommen, andererseits wird der „Bürokratie-Effekt“ deutlich positiver eingeschätzt.
Die Aussage „verkompliziert Logistik“ hat mit 57 Prozent den höchsten Zustimmungswert und somit ein Plus von 28 Prozentpunkten erhalten. Auch „deutlicher Mehraufwand“ wird von mehr als 50 Prozent und nicht mehr lediglich von 40 Prozent wie im Vorjahr erwartet. Aufgrund dieser Aussagen scheinen folgende Annahmen gerechtfertigt: dass sich die Branche verstärkt mit neuen Aspekten ihrer Lieferketten beschäftigt. Und dass in der Vergangenheit die Fokussierung auf Kosten und Effizienz doch manchen Kollateralschaden wissentlich wie unwissentlich – bzw. nicht wissen wollend – in Kauf genommen hatte, um aus Wettbewerbssicht im internationalen Kontext bestehen zu können.
Hochinteressant ist in diesem Zusammenhang ein weiterer Aspekt: der Aussage „führt zu höheren Kosten“ stimmen mit 34 Prozent etwas weniger zu als noch vor einem Jahr mit 36 Prozent. Die Branche scheint somit (digitale) Prozesse und Wege gefunden zu haben – u.a. durch die Reduktion von Lieferanten – um einen Kostenanstieg in vertretbarem Rahmen zu halten.
Menschenrechte & Nachhaltigkeit
Das gesetzte Ziel scheint die Einführung des Lieferkettengesetzes zu erreichen: Den Aussagen
„verbessert die Menschenrechtssituation“ und
„führt zu mehr Nachhaltigkeit“
stimmen immer mehr der Befragten zu.
Wenngleich das Gesetz nicht alle Aspekte abzudecken scheint – eine Verbesserung der Lohnsituation, eine Rückverlagerung von Produktion nach Deutschland oder eine Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit erreichen lediglich geringe Zustimmungswerte – bewerten in Summe knapp die Hälfte der Befragten (47 Prozent) seine Einführung als richtig. Die Vorteile des Gesetzes in puncto Rechtssicherheit, der Berücksichtigung von Nachhaltigkeitsaspekten sowie sicherlich auch eine positive Marketingwirkung gegenüber Partnern und Kunden dürften mit zu dieser Einschätzung beitragen.
Die pandemiebedingte Beschleunigung der digitalen Vernetzung entlang der Lieferketten hat zu steigenden Umsätzen der ITK-Branche geführt und für Transparenz der Supply Chain gesorgt. Deutschland als Import- wie Exportnation hat hier bereits erheblich „digital nachgerüstet“ und somit an Wettbewerbsfähigkeit gewonnen. Dieses Investment wird sich in den kommenden vier bis fünf Jahren fortsetzen und einen lieferkettenbedingten Anstieg von Kosten begrenzen. Die Wettbewerbssituation wird sich für den Standort Deutschland aufgrund der hohen lokalen Nachfrage und der Positionierung in der Mitte Europas verbessern.
Die ITK-Branche wird von der Gesetzeseinführung aufgrund zusätzlicher Investitionen weiterhin profitieren. Für Hersteller, Distributoren, Reseller und MSPs werden sich zusätzliche Umsatzpotenziale in den Segmenten Vernetzung, Cloud & Services eröffnen. Die Chance „Lieferkettengesetz“ gilt es zu nutzen, die ITK-Branche sollte auch vor dem Hintergrund „zusätzliche Umsatzpotenziale“ die branchenübergreifende Einführung in Industrie und Handel aktiv unterstützen!
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