Das Wort "Datenbrille" hört Michael Krämer, Regional Director Germany bei Realwear, gar nicht gerne. Sein Unternehmen spricht lieber von einem "Wearable Tablet Computer", wenn es sein Produkt beschreibt. Nur ein Marketing-Gag? Keineswegs, denn während die Realwear-Produkte auf den ersten Blick wie die Datenbrillen von Google, Epson, Vuzix oder Brother aussehen, unterscheiden sie sich doch in vielen Aspekten davon. Und während es um die Angebote von Google oder Brother sehr still geworden ist, können Krämer und Realware sich über mangelndes Interesse nicht beklagen: 2020 konnte das Unternehmen die verkauften Stückzahlen versechsfachen. Daher sollen der in Deutschland bereits länger bestehende, zweistufige Vertrieb im IT-Channel (zusammen mit Also und Westcon-Comstor) nun ausgebaut werden.
Einen Schub hat das Interesse an den mittels Sprache steuerbaren Realware-Headsets auch durch die Reiseeinschränkungen während der Pandemie bekommen. Dadurch seien viele Unternehmen in zahlreichen Branchen gezwungen worden darüber nachzudenken, wie sie das Know-how und die Expertise ihrer Techniker und Spezialisten dahin bringen können, wo es benötigt wird, berichtet Krämer. Lösungen, die darauf setzen, Daten, Anleitungen oder Baupläne im Gerät zu hinterlegen, sind da zu unflexibel. Schließlich müssen sie erst auf das spezielle Einsatzszenario abgestimmt werden. Außerdem erfüllen sie oft nicht die in der Industrie alltäglichen Anforderungen: Helmpflicht gilt nahezu überall, oft sind auch Schutzbrillen Vorschrift und manuelle Bedienung ist mit Handschuhen und bei starkem Schmutz oft nur eingeschränkt möglich. Zusätzlich kann Explosionsschutz verlangt sein, darf also ein in den entsprechenden Bereichen verwendetes Gerät kein Zündrisiko darstellen.
Auf diese Anforderungen hat sich Realwear mit seinem "Head Mounted Tablet" HMT-1 und der explosionsgeschützten Variante HMT-1Z1 eingestellt. Und während sich die Konkurrenten vor allem darauf konzentrierten, Inhalte für den Nutzer zu visualisieren, bemühte sich Realwear in erster Linie darum, eine auch unter ungünstigen Bedingungen gute Bild- und Videoübertragung zu erreichen. Das hat sich nun ausgezahlt: Mit seinen Produkten ermöglicht Realwear Experten aus dem Büro Einblicke in die Situation vor Ort, als ob sie selbst dort wären. Damit können sie Techniker live beraten und unterstützen, weil sie exakt das sehen, was der Kollege vor Ort gerade sieht.
Für die visuelle Zusammenarbeit können Realwear-Kunden zahlreiche branchenspezifische oder auch übergreifend gängige Tools nutzen - von der von Teamviewer mit der Übernahme von Ubimaxx erworbenen Augmented-Reality-Software über AMA Experteye bis Microsoft Teams und Webex Expert on Demand. Die große Zahl an Technologiepartnern und Android als Betriebssystem erlaubt die einfache Integration. "Üblicherweise überzeugt die Kunden bereits ein kurzer Proof-of-Concept", berichtet Realwear-Manager Krämer. Anschließend dauere es dann nur sechs bis acht Wochen, bis die Gesamtlösung einsatzbereit sei. Neben der leicht ausrechenbaren Zeit- und Kostenersparnis schätzen viele Kunden auch die Möglichkeit, damit direkt CO2-Einsparungen durch weniger Reisetätigkeiten abbilden zu können.
"Wir sind motiviert und erwarten daher auch von unseren Partnern ein gewisses Maß an Eigeninitiative", erklärt Krämer. Je nach Stufe (Silver oder Gold) erwartet Krämer den Verkauf von rund 50 respektive 200 Geräten pro Jahr. Die Stückzahlen sind aber untergeordnet, denn wer die Zertifizierungsanforderungen erfüllt hat (fünf Vertriebler und zwei Techniker, respektive zehn und drei), der dürfte sie ohnehin erreichen. Für den Einstieg in das Geschäft mit Realwear als registrierter Reseller sind bereits zwei vertriebliche und eine technische Zertifizierung erforderlich. Alle Partner bekommen NFR-Geräte, haben Zugriff auf die Projektregistrierung, können beim Verkauf auf Unterstützung durch den Hersteller zählen und dürfen mit Lead-Weitergabe rechnen. Je nach Partnerstufe unterscheiden sich die gewährten Rabatte, die Marketing-Unterstützung und die Möglichkeit, weitere NFR-Kits zu vergünstigten Preisen zu erwerben.
Wichtig ist Krämer, dass neue Partner einen Fokus auf das Geschäft legen und es aktiv vorantreiben. Schließlich legt er es ihnen als Einstieg in die Beschäftigung mit dem gesamten Bereich Virtual Reality nahe. Oft finde sich Realwear in Unternehmen zum Beispiel gemeinsam nur in anderen Bereichen mit Microsoft Hololens. Expertise und Branchenkenntnisse aufzubauen, lohne sich also auch über das Geschäft mit Realwear hinaus.
Das Potenzial sei groß - nicht nur bei großen Firmen, wie Audi, MAN, Caterpillar, Shell, Bayer, DHL, Maersk, Vodafone, Vestas oder Coca-Cola, die bereits zu den Realwear-Kunden in EMEA zählen. Insgesamt gebe es in Europa rund 40 Millionen "Frontline-Worker" - also Personen, die vor Ort auf Windanlagen, an Produktionsstraßen, Maschinen, Einrichtungen oder Anlagen Reparaturen vornehmen, Einstellungen ändern oder sie neu einrichten. Die seien eigentlich alle potenzielle Nutzer. Videos mit dem Smartphone aufzunehmen und die mit den Kollegen im Chat zu teilen und zu besprechen sei da nur ein schwacher Notbehelf. Denn neben Expertenunterstützung aus der Ferne sowie Kurztrainings oder Einweisungen, lassen sich die Realwear-Headsets auch dazu nutzen, Aufnahmen direkt in digitale Worksflows zu übergeben, per Sprache innerhalb von Dokumenten zu navigieren und sich die anzeigen zu lassen, während man mit beiden Händen arbeitet, oder um sich IoT-Daten zu gerade begutachteten Maschinen anzeigen zu lassen.
"Die Einsatzszenarien entwickeln sich täglich weiter", freut sich Krämer. Und die Kosten spielten in der Industrie kaum eine Rolle, denn die Anschaffungen amortisierten sich schnell, wenn dadurch Ausfallzeiten von Maschinen und Reisezeiten von Experten und Techniker reduziert werden können. Das bestätigt auch Dallas Olson, Vice President of Global Manufacturing and Engineering beim Realwear-Referenzkunden Goodyear: "Wir haben vorher zwei Tage gebraucht, um Ingenieure zu den Produktionsanlagen zu schicken. Mit dem Einsatz von Microsoft Teams und HMT-1 sparen wir tausende Dollar ein und beheben die Probleme deutlich schneller. Unsere Ingenieure werden in Zukunft wesentlich weniger reisen müssen."
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