Während der Entwicklung der neuen Windows-Version Vista ist Microsoft im vergangenen Jahr offensichtlich an seine Grenzen gestoßen. Das Wall Street Journal berichtet, Windows-Manager Jim Allchin habe im Juli vergangenen Jahres das Microsoft-Management an den Rand der Verzweifelung getrieben mit der lapidaren Feststellung: "Es wird nicht funktionieren".
Die Komplexität sei so groß, dass die verantwortlichen Programmierer auf Basis der damaligen Pläne niemals in der Lage sein würden, einen brauchbaren Windows-XP-Nachfolger zu stricken. Allchin beschrieb die Lage als hoffnungslos. Das übliche Vorgehen, wonach Tausende von Programmierern sich die Arbeit teilen und ihre Entwicklungsergebnisse später zu einem stimmigen Bild zusammenfügen, funktioniere in dieser Dimension nicht mehr. Wolle man ein vernünftiges System bauen müsse man noch einmal ganz von vorn anfangen.
Daraufhin soll Gates Allchin ermutigt haben, sich für die einzelnen Bestandteile des Systems mehr Zeit zu nehmen. "Alle Beteiligten hatten ein wenig Angst", kommentiert Gates die Situation gegenüber der US-Wirtschaftszeitung. Er habe es als seine Aufgabe angesehen, die Verantwortlichen aufzufordern, nicht darauf zu schauen, welche Entwicklungsergebnisse unbrauchbar sind, sondern worauf man weiter bauen könne.
Den größten Kummer bereitete Microsofts Programmierern das geplante Dateisystem "WinFS", von Gates selbst im Vorfeld der Entwicklung als "Heiliger Gral" bezeichnet. WinFS sollte der Nachfolger des aktuellen File Systems NTFS werden und relationale Datenbanktechnik nutzen, die Microsoft aus dem SQL Server 2005 entnehmen wollte. Ziel war es, Suchmöglichkeiten und die Organisation von Daten auf ein neues Niveau zu heben.
Dazu kam es aber nicht: Einen Monat nach Allchins Warnung verschob Microsoft die Auslieferung von Vista auf die zweite Hälfte 2006 und WinFS auf einen unbekannten Zeitpunkt. Inzwischen ist WinFS zumindest als Beta verfügbar.
Die Arbeiten an dem Dateisystem sollen so schlecht vorangekommen sein, dass Programmierer nur noch davon gesprochen hätten, wie man das "Schwein doch noch zum Fliegen" bringen könne. Angeblich tauchten die fliegenden Schweine bei Microsoft sogar in diversen Präsentationen und als Photos an Bürowänden auf.
Paradigmenwechsel: Ab jetzt nur noch modulare Bausteine
Am Ende verdankt es Microsoft zwei Topmanagern, das Projekt wieder in die Spur gebracht zu haben. Brian Valentine hat als erfahrener Troubleshooter und Motivationskünstler entscheidend zum Gelingen beigetragen. Dasselbe gilt für Amitabh Srivastava, der erst einmal mit einfachsten Mitteln Ordnung in das Projekt brachte. Er ließ sein Team eine Art Landkarte von 1,50 mal 2,40 Meter Größe anfertigen, auf der alle Windows-Bestandteile zusammengeführt und die vielfältigen Abhängigkeiten untereinander ins Bild gesetzt wurden.
Die Probleme mit dem Vista-Projekt im vergangenen Jahr haben dem Wallstreet-Journal-Bericht zufolge zu einem Paradigmenwechsel in der Microsoft-Entwicklung geführt. Die Ära der gigantischen Projekte, in denen die Verschleppung einzelner Komponenten die Verzögerung des gesamten Vorhabens bedeuten kann, ist zu Ende.
Windows wird künftig als stabiles, funktional schlankes Kernsystem entwickelt, für das ständig neue Features angeboten werden. Von Updates und Erweiterungen soll das Kernsystem unbeeinträchtigt bleiben. Die Verschmelzung der Windows-Geschäftseinheit mit dem Online-Dienst MSN gilt als Hinweis darauf, dass der Online-Vertrieb solcher Funktionsbausteine an Gewicht gewinnen wird. (computerwoche/cm)