Um die Bedeutung des gegenwärtigen Wandels im Einzelhandel zu beschreiben, griff Alexander Margaritoff, Chef von Deutschlands größtem Weinhändler Hawesko, am Jahresanfang in einem Interview mit der Welt am Sonntag zu einem drastischen Bild: „Das ist kein Online-Boom, das ist ein Tsunami, der derzeit über die Handelswelt hinwegfegt und nahezu alles verändert.“ Bemerkenswert ist diese Aussage nicht nur, weil Sie vom Geschäftsführer eines Unternehmens kommt, der für seine Experimentierfreude in Sachen E-Commerce bekannt ist, sondern auch weil sie aus einer Branche stammt, in welcher der Online-Umsatzanteil noch deutlich unter zehn Prozent liegt.
Deutlich höher ist der Online-Anteil dagegen in der Unterhaltungselektronik-Branche. Dennoch wollen die Chefs der großen CE-Verbundgruppen nichts von einem großen E-Commerce-Umbruch wissen. „Im TV-Bereich beispielsweise liegt der Online-Anteil heute branchenweit bei rund 12 Prozent“, erklärte dazu am Rande des diesjährigen Euronics-Kongress Verbundgruppen-Chef Benedict Kober: „Zu den Glanzzeiten von Quelle, Neckermann und Co. war der Versandhandelsanteil wahrscheinlich sogar etwas höher.“ Die Taktik, den Online-Handel auf das Niveau der Versandhandelsumsätze kleinzureden, verfolgt auch Volker Müller, Vorstandschef der Kooperation Expert – und greift dabei zu noch eindrücklicheren Zahlen: „Das Versandhandelsgeschäft hatte immer einen Umsatzanteil von 25 Prozent. Diesen Anteil muss die Internetbranche nach dem Wegbrechen der Katalogversender erst einmal erreichen.“
Die Zahlen sprechen eine andere Sprache
Schreitet man zum Fakten-Check, zeigt sich, dass die Verbundgruppen-Chefs nur bedingt Recht haben. Je nach Rechenweise lag der Versandhandelsanteil im Unterhaltungselektronikbereich in den 90er Jahren tatsächlich bei zwischen 15 und 20 Prozent und hat sich dieser Wert nach einem Einbruch gegen Mitte der 2000er Jahre inzwischen wieder auf das „Normalniveau“ bewegt. Doch lassen sich in den letzten Jahren auch zwei Phänomene beobachten, die alles andere als „normal“ sind: Zum einen weist der Versandhandelsverband bvh in seiner jährlichen Marktstudie einen markanten Anstieg der E-Commerce-Umsätze im CE-Bereich aus. Das Online-Wachstum hat sich in den letzten Jahren von 11 Prozent (2010) über 17 Prozent (2011) auf ganze 24 Prozent (2012) erhöht. Inzwischen ist der Online-Handel für fast 90 Prozent der Versandhandelsumsätze mit Unterhaltungselektronik verantwortlich.
Dabei tritt der Online-Handel nicht nur an die Stelle antiquierter Versandhandelsmodelle, sondern beschert dieser der Versandbranche insgesamt einen kräftigen zusätzlichen Wachstumsschub: Dank der starken Online-Zuwächsen kletterte der Versandhandelsanteil am Gesamtvolumen der CE-Branche von 18 Prozent (2010) über 21 Prozent (2011) auf den 2012 erzielten Rekordwert von 24 Prozent. Betrachtet man, wie dynamisch sich auch in der ersten Hälfte des laufenden Jahres das E-Commerce-Segment entwickelt, wird unübersehbar, dass im Unterhaltungselektronikbereich eine deutliche Umsatzverschiebung in Richtung Online im Gange ist.
Umsatz-Explosion bei den Elektronikversendern
Wenn sich bereits im CE-Bereich eine Umsatzverschiebung erkennen lässt, ist diese bei Weißer und Brauner Ware umso ausgeprägter. Denn während viele Kunden beim Kauf eines teuren neuen Fachbildschirmfernsehers weiterhin auf das persönliche Einkaufserlebnis setzen, sind Produktbereiche wie IT und Haushaltselektronik mit ihren standardisierten und gut vergleichbaren Geräten für den Online-Handel geradezu prädestiniert.
Dass das Online-Geschäft mit Elektronikgeräten blendend funktioniert, zeigt die Umsatzentwicklung der Elektronikversender: Vor 10 Jahren kamen Notebooksbilliger.de und Cyberport zusammengenommen gerade auf ein Umsatzvolumen von 100 Millionen Euro. Heute dagegen beträgt der zusammengerechnete Umsatz der fünf größten Elektronikversender – Cyberport, Notebooksbilliger.de, Redcoon, Getgoods und Media-Saturn – mehr als zwei Milliarden Euro. Auch hier markiert das Jahr 2010 eine wichtige Schwelle: Erstmals übersprangen die Top 5 in diesem Jahr die Umsatzhürde von einer Milliarde Euro und wuchsen seitdem jeweils um mindestens 30 Prozent.
Vor diesem Hintergrund wird noch einmal verständlicher, warum selbst Notebooksbilliger-Chef Arnd von Wedemeyer nach dem Ende des Jahres 2011 gegenüber ChannelPartner erklärte, der Shift von Offline zu Online bei den Konsumenten erfolge schneller und konsequenter als erwartet. Auch aktuell sieht Wedemeyer kein Ende dieser Entwicklung – trotz einer allgemein eher schwierigen Marktlage: „Wir spüren in einem generell schwachen Marktumfeld einen stärken Switch von Offline zu Online als in einem starken Markt.“ Der Hauptgrund dafür sei das sich weiter wandelnde Verbraucherverhalten, das im Online-Handel noch einmal zu einer ganz speziellen Dynamik führe.
Kein Ende des Trends absehbar
Bedenkt man, dass es neben den wachstumsstarken Elektronikversendern auch noch Amazon gibt, das ebenfalls einen beträchtlichen Anteil seines Umsatzes mit dem Handel mit Elektronik und IT erzielt, wird erst das ganze Gewicht der Online-Branche deutlich. Wie aus den in diesem Jahr erstmals öffentlich gemachten Umsatzzahlen des E-Commerce-Marktführers hervorgeht, hat Amazon in Deutschland 2012 einen Umsatz in Höhe von 6,4 Milliarden Euro erreicht. Amazon selbst schlüsselt die Umsatzzahl nicht weiter nach Produktsegmenten auf, doch gegenüber ChannelPartner haben sich im Frühjahr einige Online-Fachleute an einer Umsatzschätzung versucht: Cyberport-Chef Olaf Siegel taxiert Amazon im Elektronikbereich auf ein Umsatzvolumen von 2,8 Milliarden Euro. Und Michael Gerke, COO des Aschaffenburger E-Commerce-Dienstleister 004, billigt dem Online-Händler sogar Elektronikumsätze zwischen 3,5 und 4 Milliarden Euro zu.
Zusammengenommen machen die in diesem Beitrag präsentierten Zahlen eines klar: Die Online-Entwicklung im deutschen Elektronikhandel ist weit von einer bloßen Modeerscheinung entfernt. Angesichts der zu beobachtenden Umsatzverschiebung in Richtung online und des weiter anziehenden Wachstumstempos im E-Commerce kann hier klar von einem tiefgreifenden Wandel gesprochen werden – oder eben von einem „Tsunami“: Denn wenn man beobachtet, wie sich Rewe von seiner Elektronik-Tochter ProMarkt verabschiedet, mit welcher Vehemenz sich Media-Saturn Marktanteile im Online-Geschäft dazukauft und wie sich PC-Spezialist, EP und Euronics zunehmend auf das Service-Geschäft verlegen, wird deutlich, wie sehr die Elektronikbranche inzwischen in Bewegung gekommen ist. (mh)