Derzeit entwickeln sich auf Basis intelligenter, vernetzter Produkte (Smart Connected Products) grundlegend neue Wertschöpfungsmöglichkeiten für die Wirtschaft. Speziell im Fertigungssektor, aber auch in allen anderen Sektoren, wie z.B. dem Dienstleistungs- oder dem Informationssektor, findet eine Revolution statt. Die erweiterten Fähigkeiten der neuen vernetzten Produkte werden dabei nicht nur tiefgreifende Auswirkungen auf Marktstrategien und Branchenstrukturen haben.
Auch intern im Fertigungsunternehmen wird praktisch jede der Kernfunktionen, wie z.B. Produktentwicklung, IT, Fertigung, Marketing oder Vertrieb/Service, neu definiert. Zusätzlich werden völlig neue Funktionsbereiche entstehen. Diese Veränderungen bei Produkten und Organisationsstrukturen sind nicht einfach und bergen Unwägbarkeiten. Aber Unternehmen, denen die Umstellung gelingt, werden langfristig stark davon profitieren.
Das sind Thesen von Prof. Michael E. Porter (Harvard Business School) und James E. Heppelmann, Präsident und CEO von PTC, die in einer Grundsatzabhandlung im Harvard Business Manager (Ausgabe 12/15) die organisatorischen Veränderungen und Herausforderungen beschreiben, die die Herstellung und der Vertrieb von intelligenten vernetzten Produkten im Unternehmen selbst verursachen werden. Für viele Unternehmen, die mit dem Übergang zu smarten Produkten zu kämpfen haben, sei der Wandel beunruhigend oder destabilisierend, brächte er doch interne Anpassungen, Wettbewerbsprobleme und Sicherheitsbedenken mit sich.
Die Autoren schildern eine Reihe von technisch-organisatorischen Ansätzen, wie sich die Transformation vom Hersteller konventioneller Produkte zum Anbieter anspruchsvoller Internet-der-Dinge (IoT)-Lösungen in den einzelnen Abteilungen/Funktionen des Fertigungsunternehmens auswirkt bzw. erfolgreich bewältigt werden kann. Im Vordergrund stünde aktuell die Organisationsstruktur, denn die seit Jahrzehnten etablierten Organigramme beginnen aufzubrechen und sich zu verändern.
Die Funktionsbereiche werden auf neue Art und Weise zusammenarbeiten und sich in jedem Fall enger abstimmen müssen, als bisher. Man stehe aber erst am Anfang und deshalb gebe es auch noch keinen Königsweg zur Realisierung der neuen Strukturen. Auf die vielen Beispiele vernetzter Produkte in der Praxis, die im Ursprungstext zu finden, kann hier aus Platzgründen nur ab und an eingegangen werden.
Vernetzte Produkte werden nach Ansicht von Porter und Heppelmann also nicht nur den Wettbewerb auf den Märkten neu sortieren (siehe dazu auch den ersten Artikel der Autoren in HBM-12/14), sondern auch das Wesen, die Arbeit und die Strukturen der Fertigungsunternehmen. Zur Charakterisierung der neuartigen Produktlösungen, die eine bisher nicht gekannte, enge und direkte sowie zeitlich unbegrenzte Beziehung zum Kunden herstellen, definieren sie drei Kernelemente:
physische Komponenten mit mechanischen oder elektrischen Bauteilen,
intelligente Komponenten, wie Sensoren, Aktoren, Mikroprozessoren, Datenspeicher, Software/Betriebssystem und eine digitale Bedienoberfläche sowie
Vernetzungskomponenten, z.B. Schnittstellen, Antennen und Netzwerke, die die Kommunikation zwischen Produkt und Cloud sicherstellen.
Die Cloud wird in vielen vernetzten Produktlösungen ein zentrales Element für die Software/das Produkt-'Betriebssystem' sein, die z.B. ein Big-Data-Datenbanksystem, eine Regel-/Analyse-Engine oder intelligente Produktanwendungen, die die Funktionen des Produktes überwachen, steuern und optimieren, beheimatet.
Neuer Unternehmensbereich zur Speicherung und Bearbeitung der 'Datenseen'
Überhaupt die Daten. Sie fallen bei IoT-Lösungen kontinuierlich und in großen Mengen an. Ihr volles Informationspotenzial auszuschöpfen, wird zu einem entscheidenden Wettbewerbsfaktor. Deshalb sei für die Kontrolle, Analyse und vor allem auch die Sicherheit der Daten eine wichtige neue Unternehmensfunktion unerlässlich. In solchen 'Datenabteilungen' werden nicht nur wie bisher einzelne Messwerte verarbeitet, sondern Daten unterschiedlichster Herkunft lassen sich kombinieren/korrelieren oder aus großen Mengen, die über Zeiträume gesammelt werden, mit geeigneten Algorithmen bestimmte Erkenntnisse aus Datenmustern ermitteln, etc.
Das Problem dabei ist, dass die Daten als ein Sammelsurium verschiedenster Formate vorliegen, wie Sensor- und andere Zustandsdaten, Standortinformationen, Wetterangaben, Vertriebs- oder Garantiehistorien, etc. Sie werden in sogenannten Datenseen (Data Lakes) in ihrem Rohformat gespeichert und mit neuen Analysetools untersucht. Um mit der Fülle an Daten besser umgehen zu können, setzen Unternehmen vermehrt sogenannte digitale Zwillinge ein, eine 3-D-Nachbildung des physischen Produkts (ursprünglich von der Forschungsabteilung des US-Verteidigungsministeriums, DARPA, entwickelt). Mit dieser Art Avatar werden in der virtuellen Realität der Status, die Veränderungen oder die Betriebsbedingungen des realen Produktes visualisiert. Die Hersteller können von einem solchen 3D-Zwilling auch Know-how für eine bessere Konstruktion, Fertigung oder Betreibung/Wartung ableiten.
Welche Veränderungen der 'alten' Unternehmensfunktionen werden nun von den Daten und Fähigkeiten intelligenter, vernetzter Produkte verursacht? Für Porter und Heppelmann beginnt diese Transformation im Bereich der Produktentwicklung, sie habe sich aber mittlerweile auf die gesamte Wertschöpfungskette ausgedehnt. Vernetzte Produkte stellen ganz andere Anforderungen an den Design- und Entwicklungsprozess. Sie sind komplexe Systeme mit Software im Gerät selbst und umfangreicher Software in der Cloud. Der bisherige maschinenbaugetriebene Entwicklungsprozess wandelt sich deshalb vermehrt zum interdisziplinären Systems Engineering, bei dem neben Maschinenbauingenieuren mindestens genauso viele Softwareentwickler (und andere Fachleute) beteiligt sind.
Konstruktion und Fertigung werden zu kontinuierlichen 'Evergreen'-Prozessen
Die Autoren formulieren sieben neue Grundprinzipien bei der Entwicklung und Konstruktion vernetzter Produkte:
Variabilität zum kleinen Preis: Bei konventionellen Produkten sind Variationen teuer, erfordern sie doch jeweils ein neues physisches Bauteil. Mit dem intensiven Einsatz von Software lässt sich eine Produktvielfalt bei smarten Produkten wesentlich einfacher und billiger erreichen. Der Landmaschinenhersteller John Deere produziere z.B. nicht mehr verschiedene Leistungsversionen eines Motors, sondern stelle nur noch eine Standardgröße her und variiere die PS-Zahl dann je nach Bedarf per Software.
Kontinuierliche Weiterentwicklung von Produkten: Bei vernetzten Produkten ist es nicht mehr nötig, mit Verbesserungen bis zur nächsten Produktgeneration zu warten. Der Hersteller kann mittels Software und oft per Fernwartung eine Funktion des Produktes auf den Markt bringen, dessen Entwicklung beim Verkauf noch nicht abgeschlossen war. E-Autohersteller Tesla z.B. wolle seine Autopilotfunktionen im Laufe der Zeit mit Softwareupdates ausbauen.
Neue Benutzeroberflächen und Augmented Reality: Digitale Benutzeroberflächen ermöglichen auf Tablet oder Smartphone dem Nutzer mehr Mobilität, als Knöpfe, Anzeigen und Schalter am Gerät. Bei der Augmented Reality werden auf Tablet oder in einer besonderen Brille Zusatzinformationen am digitalen Produkt angezeigt, die z.B. Wartungen oder Reparaturen erleichtern.
Kontinuierliches Qualitätsmanagement: Vernetzte Produkte ermöglichen die kontinuierliche Rückmeldung der Leistungsdaten während der Nutzung. Diese Daten aus der Praxis können direkt wieder Eingang finden in die Konstruktion und helfen Produktprobleme zu beheben, die in den Tests der Prototypen noch nicht aufgetreten waren.
Vernetzter Kundendienst: In der Konstruktion muss auch berücksichtigt werden, dass zusätzliche Instrumente, Datenerfassungstools und Diagnosefunktionen zur Zustands- und Leistungsüberwachung, die drohende Ausfälle im Voraus anzeigen, notwendig werden.
Grundlage für neue Geschäftsmodelle: Mit smarten Produkten ist der Hersteller in der Lage, nicht mehr einfach das Produkt zu verkaufen, sondern dessen Funktion als Dienstleistung. Eine Umstellung auf das neue Geschäftsmodell Dienstleistung kann dann auch einzelne Designparameter betreffen. Z.B. müssen verschiedene Nutzerdaten/-verbräuche erfasst werden, damit mit dem Kunden exakt abgerechnet werden kann.
Verknüpfung mit anderen Systemen: Ist das Produkt Teil eines größeren Systems, multiplizieren sich auch die Möglichkeiten, Hard- und Software über Produktkategorien hinweg gleichzeitig zu entwickeln und zu verbessern.
Auch im Fertigungsbereich wird sich ein tiefgreifender Wandel vollziehen. Zum einen wird in der intelligenten, vernetzten Fabrik der Einsatz von smarten Werkzeugen und Maschinen vorangetrieben werden. Initiativen wie Industrie 4.0 in Deutschland und Europa oder Smart Manufacturing in den USA haben nichts weniger als die voll automatisierte und möglichst sich selbst steuernde Produktion als Ziel. Z.B. versehe General Electric im Rahmen seiner 'Brilliant-Factories'-Strategie Maschinen entweder nachträglich oder bereits beim Produktdesign mit Sensoren. Die Rückmeldedaten werden ausgewertet, um Stillstandzeiten zu verringern bzw. die Effizienz zu erhöhen. Einem der Werke sei es damit gelungen, die Produktion fehlerfreier Einheiten zu verdoppeln.
Neben den vernetzten Maschinen und Tools, die zur Produktion eingesetzt werden, wird natürlich auch das eigene smarte Produkt die Strukturen der Fertigung verändern. Die mechanische Fertigung wird einfacher, da mehr Funktionen am Produkt durch Software erledigt werden können. Und zur Fertigung gehört neu die Erstellung der Software und der Aufbau des cloudbasierten Systems. Durch die Software können Individualisierungen des Produktes immer später im Montageprozess erfolgen. Das kann so weit gehen, dass die Endmontage beim Kunden vorgenommen wird oder auch nach der Auslieferung noch Anpassungen erfolgen können. In dem Sinne wird auch die Fertigung durch die Produktupdates via Software zu einem kontinuierlichen Prozess.
Logistik, Vertrieb und Service verändern ihr Gesicht radikal
Über Konstruktion und Fertigung hinaus profitieren auch alle anderen Bereiche von vernetzten Produkten und werden dort die Abläufe entsprechend angepasst werden müssen. In der Logistik wird es u.a. eine lückenlose Überwachung der gesamten Fahrzeugflotte geben, mit der Möglichkeit Wetter- und Verkehrsbedingungen oder auch technische Werte/Zustände des Fahrzeugs bei einem optimalen Lieferfahrplan zu berücksichtigen.
Die Möglichkeit, fortwährend das Produkt zu kontrollieren, wird im Marketing und Vertrieb die Kundenbeziehung völlig neu definieren: entscheidend ist nicht mehr der Verkauf des Produkts, sondern die Maximierung des Wertes für den Kunden über die gesamte Nutzungsdauer hinweg. Aufgrund der Produktdaten und des andauernden Kontaktes mit dem Kunden, kann der Hersteller mit einem Zusatznutzen bzw. neuen Geschäftsmodellen die Zufriedenheit des Kunden maximieren. Damit wird auch die Marktforschung sich in weiten Teilen neu aufstellen müssen.
Auch im Aftersales/Service wird sich die Effizienz entscheidend verbessern und von einem reaktiven auf einen vorbeugenden und aktiven Kundendienst umorganisiert. Was per Ferndiagnose oder z.B. Installieren eines Softwareupgrades nicht behoben werden kann, wird mit einem einmaligen Besuch des Technikers erledigt, weil er alle Informationen über den Zustand des Produktes immer vorliegen hat und deshalb bereits optimal vorbereitet zum Kunden kommt. Augmented-Reality-Lösungen können ihn dabei unterstützen, indem sie Reparaturbedarf anzeigen oder mit einer Schritt-für-Schritt-Anleitung durch die Reparatur führen.
Nebeneinander alter und neuer Strukturen
Wie wird das neue Fertigungsunternehmen aussehen? Für Porter und Heppelmann werden selbst bei den progressivsten Industrieunternehmen noch auf Jahrzehnte hinaus weniger als die Hälfte der hergestellten Produkte intelligent und vernetzt sein. Das heißt, ein Nebeneinander von alten und neuen Strukturen wird die Organisation zusätzlich erschweren. Smarte Produkte erfordern eine bereichsübergreifende Koordination, von der Produktentwicklung über den Betrieb der Cloud, die neuen Servicestrukturen bis zum Kundenkontakt nach dem Verkauf. Alle Funktionsbereiche müssen sich intensiv abstimmen, mit den herkömmlichen Übergaben an die nächste Abteilung ist es nicht mehr getan. Dabei überschneiden sich die Aufgaben und die ehemals klaren Grenzen zwischen den Funktionen lösen sich auf.
Die Autoren erwähnen vier aus ihrer Sicht wichtige Veränderungsansätze. Der erste ist eine vertiefte Integration zwischen IT- und F&E-Bereich. Beide müssen ihre Funktionen zusammenführen, da momentan nur die IT in der Lage ist, die IT-Hardware und die Software basierten Teile zu entwickeln und zu unterstützen. Dabei zeichnen sich verschiedene Praxismodelle ab: z.B. werden IT-Teams in die F&E-Abteilung integriert oder Unternehmen bilden funktionsübergreifende Produktentwicklungsteams, in denen auch IT-Mitarbeiter vertreten sind.
Vertiefte Integration zwischen allen Funktionen
Um den Anforderungen vernetzter Produkte gerecht zu werden, entwickeln Unternehmen zudem drei neue Funktionsbereiche. Das ist:
eine zentrale Datenabteilung, um die 'neue' Ressource Daten optimal zu erheben, zu analysieren und funktionsübergreifend bereitzustellen
eine aus der IT-Branche bekannte Zwitterfunktion aus Entwicklung und Produktion mit der Abkürzung Dev-Ops. Diese Abteilung soll Teams organisieren, die Produkteinführungszyklen verkürzen, Produktupgrades und das Korrigieren von Fehlern vornehmen oder nach Verkauf neue Dienstleistungen bereitstellen.
ein Kundenerfolgsmanagement, welches für das Kundenerlebnis verantwortlich ist und dafür, dass der Kunde einen maximalen Nutzen aus dem Produkt erzielt. Die Abteilung trägt nach dem Verkauf die Hauptverantwortung für die Beziehung zum Kunden.
Eine absolute Querschnittsfunktion, die für alle Bereiche von der Entwicklung bis zum Kundendienst relevant ist, ist das Thema Sicherheit. Die große Bedeutung, die der Sicherheit der Produktdaten und der beteiligten Unternehmen zukommt, habe sich aber noch nicht in klaren Strukturen manifestiert und entwickele sich erst noch. Klar ist, dass jeder Bereich seinen Teil zur Lösung der Sicherheitsfrage beitragen muss.
Wie kann der Wandel gelingen? Nach Ansicht der Autoren sind Übergangsstrukturen unausweichlich. Viele Unternehmen haben ihre Initiativen für vernetzte Produkte auf Geschäftsbereichsebene angesetzt, entweder mit einem eigenständigen Geschäftsbereich, einem Center of Excellence (Konzernbereich als Cost-Center ohne Ergebnisverantwortung) oder mit einem bereichsübergreifenden Lenkungsausschuss mit den Vordenkern verschiedener Geschäftsbereiche.
Ein Beispiel für eine eigenständige Einheit ist die seit 2008 bestehende Bosch Software Innovations. Sie hilft den produktbasierten Bereichen und den externen Kunden der Bosch-Gruppe, Strukturen für intelligente, vernetzte Produkte aufzubauen. ("Wie smarte Produkte Unternehmen verändern" auf http://de.ptc.com/internet-of-things/harvard-business-review/download-article-2 herunterladen) (mb)