Viele Tätigkeiten in Unternehmen, die ihre Mitarbeiter sozusagen Tag für Tag verrichten, sind das Resultat von Gewohnheiten, die sich die Mitarbeiter im Verlauf vieler Jahre angeeignet haben - bewusst oder unbewusst. Sie wurden so oft wiederholt, dass sie
- in der DNA der Mitarbeiter verankert sind und
- sich in den Abläufen und Prozessen sowie Strukturen der Organisation widerspiegeln.
Entsprechend selbstverständlich werden sie ausgeführt.
Solche Routinen genannten Denk- und Verhaltensgewohnheiten halten den Betrieb am Laufen. Personen und Organisationen benötigen sie, um ihren Alltag zu meistern. Denn sonst würden sie endlos viel Zeit und Energie auf Standardaufgaben verwenden. Zum Problem werden Routinen erst, wenn die damit verbundene Art, Aufgaben zu lösen,
- nicht mehr hinterfragt wird und
- auch beibehalten wird, wenn ein anderes Vorgehen nötig wäre.
Dann entwickeln sich die Routinen zum Hemmschuh für die Entwicklung einer Person oder Organisation.
Die Komfortzone verlassen
Personen und Organisationen fällt es meist schwer, Routinen aufzugeben, denn sie vermitteln ihnen Sicherheit. Sie haben zudem eine identitätsstiftende Funktion. Hinzu kommt: Wenn Personen(-gruppen) ihre Denk- und Verhaltensmuster verändern möchten, müssen sie ihre Komfortzone verlassen und sich auf unbekanntes Terrain begeben. Das löst bei ihnen Unsicherheit aus. Ohne ein Verlassen der Komfortzone ist jedoch kein Lernen möglich.
Wie kann man dieses Dilemma überwinden? Das Unternehmen Toyota erkannte bereits vor Jahrzehnten: Wenn wir langfristig zu den Spitzenanbietern in unserem Markt zählen möchten, müssen wir als Organisation im Uns-Verändern und -Verbessern eine ähnliche Routine entwickeln, wie - bildhaft gesprochen - Menschen beim Autofahren oder Zähneputzen. Und die mit dem Streben nach Verbesserung verbundenen Tätigkeiten? Sie müssen unseren Mitarbeitern so in Fleisch und Blut übergegangen sein, dass sie von ihnen fast automatisch ausgeführt werden. Dann flößt ihnen das Sich-verändern auch keine Furcht mehr ein. Im Gegenteil! Es ist ein Teil ihrer beruflichen Identität, ihres beruflichen Selbstverständnisses geworden.
Routine im Entwickeln von Lösungen erwerben
Routinen sind das Ergebnis eines längeren Prozesses des fortlaufenden Wiederholens und (Ein-)Übens. In der musikalischen Erziehung ist dieses permanente Üben üblich. Ebenso im Sport. Turner trainieren Bewegungsabläufe so lange, bis sie diese verinnerlicht haben. Und danach wenden sie sich schwierigeren Übungen zu, sodass ihr sportliches Können sukzessiv steigt. Doch nicht nur dieses! Durch das permanente Üben und Reflektieren, was wie noch besser gemacht werden kann, erwerben (angehende) Profisportler und Berufsmusiker zunehmend die Kompetenz, eigenständig ihre Leistung zu steigern - unter anderem, weil sie wissen, welches Verhalten zielführend ist. Sie werden sozusagen zum Coach ihrer eigenen Person.
Genau dieses bewusste Einüben von Routinen - und zwar für das Entwickeln neuer Lösungen - ist das zentrale Element des Toyota Produktionssystems. Und eine Kernaufgabe der Toyota-Führungskräfte ist, ihre Mitarbeiter als Coach beim Entwickeln dieser Kompetenz zu unterstützen. Das heißt: Sie geben ihnen bei neuen Aufgaben nicht die Lösung vor. Sie leiten ihre Mitarbeiter vielmehr bei deren Entwicklung an - mit dem übergeordneten Ziel, dass ihre Mitarbeiter selbst die hierfür nötige Kompetenz erwerben. Für diese systemische Erweitern der Problemlöse-Kompetenz seiner Mitarbeiter hat Toyota ein spezielles Verfahren entwickelt: die sogenannte Toyota-Kata.
Die Toyota-Kata
Als Kata werden im asiatischen Kampfsport Verhaltensweisen bezeichnet, die durch stetiges Üben und Anwenden soweit verinnerlich wurden, dass sie beinahe reflexhaft ausgeführt werden. Um dieses Ziel zu erreichen, bringt der Meister seinen Schülern zunächst einfache Bewegungsabläufe bei. Diese üben die Schüler, bis sie ihnen in Fleisch und Blut übergegangen sind. Danach folgen schwierigere Aufgaben, die den Schüler zum Beispiel seinem Ziel, ein Samurai zu werden, Schritt für Schritt näher bringen.
Um die Kompetenz von Menschen so systematisch zu entwickeln, sind beim Kata drei Dinge nötig:
1. Ich muss wissen, welches übergeordnete Ziel ich erreichen möchte. Ich benötige also eine Vision.
2. Ich muss wissen, was ich lernen muss, um das angestrebte Ziel zu erreichen. Und:
3. Ich muss einen Weg, eine Methode kennen, um mir die noch fehlende Kompetenz anzueignen.
Genau diese drei Elemente findet man bei der Toyota-Kata. Über allem schwebt die Nordstern genannte Vision von Toyota - das vom Konzern angestrebte Idealbild. Hieraus leitet sich die sogenannte Verbesserungs-Kata ab, mit deren Hilfe Toyota erreichen möchte, dass sich die Prozesse dem Idealzustand nähern. Und ihr zur Seite steht die Coaching-Kata, mit deren Hilfe Toyota die (Problemlöse-)Kompetenz seiner Mitarbeiter systematisch ausbaut - in vielen kleinen Schritten und Projekten.
Die Verbesserungs-Kata
Die Verbesserungs-Kata ist eine Führungsroutine - also ein Verfahren, das von den Führungskräften stets angewendet wird, wenn es im Betriebsalltag darum geht, eine Herausforderung zu meistern und sich schrittweise einem angestrebten Ziel-Zustand zu nähern. Dann wird den Mitarbeitern der optimale Weg dorthin nicht vorgegeben. Sie sollen ihn vielmehr selbst im Rahmen eines experimentellen Vorgehens ermitteln. Dabei werden sie von ihren Führungskräften mittels der Coaching-Kata unterstützt. Wichtige Voraussetzungen hierfür sind eine genaue Beschreibung des Ist- und des Ziel-Zustands. Die definierten Ziel-Zustände sollen die Mitarbeiter ermutigen, sich in ihre Lernzone zu begeben und so Schritt für Schritt ihre Komfortzone zu erweitern.
Schritt 1: Sein Ziel ist es, die von der Vision vorgegebene Richtung für die langfristige Entwicklung grob zu verstehen.
Schritt 2: In ihm wird der Ist-Zustand analysiert und beschrieben.
Schritt 3: In ihm werden neue Ziel-Zustände auf dem Weg zum Soll-Zustand definiert. Zudem wird ermittelt, welche "Hindernisse" zu beseitigen sind, um den Ziel-Zustand zu erreichen. Dabei lautet die Maxime: Die definierten Ziel-Zustände müssen herausfordernd, aber erreichbar sein. Und: Für ihr Erreichen darf es nach keine bekannte Lösung geben.
Schritt 4: Nun wird im PDCA-Verfahren (Plan, Do, Check, Act) schrittweise auf das Erreichen des Ziel-Zustands hingearbeitet. Das heißt, nach einer ersten (Maßnahmen-)Planung werden die Mitarbeiter aktiv. Dabei checken sie regelmäßig, inwieweit ihr Vorgehen zielführend ist, bevor sie es in ihr Alltagshandeln überführen, so dass es zum neuen Standard wird, auf dessen Basis weitere Verbesserungen erfolgen. Die Führungskräfte begleiten diesen Prozess.
Die Coaching-Kata
Die Führungskräfte sind also nicht Vordenker und Vormacher für ihre Mitarbeiter. Sie sind primär ihre Lernbegleiter und Coachs. Sie unterstützen ihre Mitarbeiter beim Entwickeln neuer Routinen und zwar ebenfalls mittels eines systematisierten Verfahrens, der Coaching-Kata.
Dieses orientiert sich an fünf Fragen, die die Führungskraft ihrem Mitarbeiter (beispielsweise ihren Mitarbeitern) in regelmäßigen Treffen immer wieder stellt.
Frage 1: Was ist der Ziel-Zustand des Prozesses?
Der Ziel-Zustand soll zu Beginn jedes Treffens beziehungsweise jeder Coachingsitzung vom Mitarbeiter stets aufs Neue beschrieben werden. Das Ziel hierbei: Der angestrebte Ziel-Zustand soll verinnerlicht werden und dem Mitarbeiter im weiteren Coachingprozess stets bewusst sein - sozusagen als Prüfstein beispielsweise beim Bewerten des aktuellen Ist-Zustands und möglicher Entscheidungen.
Frage 2: Was ist der aktuelle Ist-Zustand?
Aktuell bedeutet: Was ist der Zustand heute - zum Beispiel, nachdem erste Maßnahmen zum Erreichen des Ziels ergriffen wurden? Dieses Reflektieren des jeweils aktuellen Ist-Zustands in den Coachingsitzungen setzt dessen kontinuierliche Erfassung mit Zahlen oder Darstellung in Diagrammen voraus.
Frage 3: Was hindert Sie daran, den Ziel-Zustand zu erreichen?
Der Mitarbeiter soll ermitteln, welche Hindernisse dem Erreichen des Ziel-Zustands im Wege stehen, um hieraus die noch vorhandenen Handlungs- und Lernfelder abzuleiten.
Frage 4: Welches Hindernis gehen Sie als nächstes an und was ist der nächste Schritt?
Das Ziel hierbei: Der Mitarbeiter soll sein weiteres Vorgehen planen - zum Beispiel abhängig von der Relevanz der möglichen Maßnahmen für die Zielerreichung oder den vorhandenen Ressourcen und Kompetenzen. Zugleich wird hiermit ein neuer PDCA-Zyklus gestartet.
Frage 5: Bis wann können wir uns ansehen, was Sie aus dem letzten Schritt gelernt haben?
Diese Frage soll die erforderliche Verbindlichkeit erzeugen - auf der Handlungs- und der Lernebene
Ziel: Mitarbeiter sollen Selbstentwickler werden
Das beschriebene Verfahren zur Mitarbeiterführung und -entwicklung praktiziert Toyota seit Jahrzehnten mit dem Ziel, die vorhandene Kultur der kontinuierlichen Verbesserung noch stärker in der DNA der Mitarbeiter zu verankern. Dahinter steckt folgende Erkenntnis: Der Changebedarf in den Unternehmen ist heute oft so groß und vielschichtig, dass er immer schwieriger top-down erfasst und gemanagt werden kann. Also müssen sich die Mitarbeiter in Richtung Selbstentwickler entwickeln, die selbst erkennen,
- was es aufgrund des angestrebten Ideal-Zustands zu tun gilt,
- wo bei ihnen noch ein Entwicklungsbedarf besteht und
- wie sie diesen selbst (oder mit selbst organisierter Unterstützung) befriedigen können.
Diese Kompetenz bei Mitarbeitern zu entwickeln, erfordert Zeit, Geduld und Liebe zum Detail; außerdem Führungskräfte, die ein entsprechendes Selbstverständnis haben. Sie müssen sich unter anderem als Coach und Lernbegleiter ihrer Mitarbeiter verstehen und bereit sein, sich intensiv mit ihren Mitarbeitern und den wertschöpfenden Prozessen zu befassen - und zwar kontinuierlich. Deshalb lautet eine Faustregel bei Toyota: Lieber ein Mal zehn Minuten pro Tag coachen als ein Mal pro Woche eine Stunde.
Das Coachen der Mitarbeiter setzt eine Investition von Zeit seitens der Führungskräfte voraus. Das klingt nach einer Mehrbelastung für sie. Faktisch führt das Kata Coaching jedoch mittelfristig zu einer Entlastung der Führungskräfte. Denn je mehr Routine die Mitarbeiter im eigenständigen Lösen von Problemen haben, umso seltener ist die Führungskraft als Unterstützer und "Trouble-Shooter" gefragt. (OE)