Mexiko-City 1968. Erstmals überspringt der US-amerikanische Hochspringer Richard Douglas Fosbury, bei olympischen Spielen rückwärts die Hochsprunglatte. Kann man so hoch springen? Die Experten sind skeptisch. Zu komisch, weil ungewohnt sieht es aus, wenn ein Hochspringer mit dem Rücken zur Latte abspringt. Doch die Skepsis verfliegt schnell - vor allem, weil Fosbury mit der von ihm kreierten, neuen Sprungtechnik die Goldmedaille gewinnt. In kurzer Zeit wird der Fosbury-Flop zur Standardtechnik im Hochsprung. Unter anderem, weil Fosburys Springer-Kollegen erkennen: Mit der neuen Technik lässt sich der seit Jahren gültige Weltrekord von 2,28 m knacken - was auch geschah. Heute liegt der Hochsprungweltrekord bei 2,45 m - erzielt mit einem Fosbury-Flop.
Ähnliche Prozesse lassen sich im Wirtschaftsleben konstatieren. Jahre-, oft sogar jahrzehntelang nutzen fast alle Unternehmen dieselben Methoden und Verfahren - sei's in der Fertigung, beim Aufbau ihrer Organisation oder im Vertrieb. Und sie verfeinern diese immer weiter - durchaus mit Erfolg. Doch dann stellen sie fest: Die Möglichkeiten der bisherigen "Technik" sind ausgereizt. Mit ihr lassen sich zwar noch kleine Verbesserungen erzielen, aber nicht nötigen Quantensprünge, um zum Beispiel auch künftig wettbewerbsfähig oder der Technologieführer zu sein. Sie gelangen zunehmend zur Erkenntnis: Um dieses Ziel zu erreichen, bedarf es eines fundamentalen Wandels. Zum Beispiel in unserer Art zu produzieren oder unsere Organisation zu führen oder unseren Markt zu bearbeiten.
Einen Musterwechsel vollziehen
Vor dieser Herausforderung stehen die Unternehmen heute immer häufiger. Denn die Rahmenbedingungen ihres Handelns verändern sich immer schneller. Also müssen die Unternehmen auch in kürzeren Zeitabständen ihre Strategien, Abläufe und Verfahren sowie ihre Art, (Kunden- und Markt-)Informationen zu bewerten, überdenken und sich fragen: Können wir durch ein Optimieren des Bestehenden, also eine "Funktionsoptimierung", unsere Ziele noch erreichen? Oder müssen wir ganz neue Lösungen entwickeln. Zum Beispiel für das Qualifizieren unserer Mitarbeiter. Oder die Auswahl unserer Lieferanten. Oder für die Kommunikation mit unseren Kunden.
Organisationsberater nennen einen solchen Wandel einen Musterwechsel, weil hierbei nicht nur die gewohnten Verfahren auf den Prüfstand stehen. Auch die Art, wie die Realität betrachtet und bewertet wird, wird hinterfragt, um zu ganz neuen Lösungsansätzen zu gelangen. Ein solcher Musterwechsel setzt voraus, dass sich in der Organisation beziehungsweise bei deren Lenkern das Gefühl verdichtet: "Wir befinden uns an einer Grenze oder wir nähern uns einer Grenze? Wenn wir an unseren bisherigen Denkmustern und Verfahrenweisen festhalten, scheitern wir auf Dauer." Nur wenn dieses Bewusstsein existiert, drängt sich die Frage nach einem Musterwechsel auf.
Die Situation sprachfähig machen
Ein solches gemeinsames Empfinden selbst in ihren Führungsgremien zu schaffen, fällt vielen Unternehmen schwer - unter anderem, weil aufgrund ihrer Funktion in der Organisation die Führungskräfte die Ist-Situation partiell anders erleben. Also sehen sie auch die Herausforderungen verschieden. Dies gilt speziell dann, wenn zum Beispiel die Unternehmensführung pro-aktiv handeln möchte - also einen Musterwechsel bereits erwägt, wenn die Organisation auf den ersten Blick noch gut dasteht. Die Zahlen stimmen, die Kunden sind zufrieden und von den Mitbewerbern geht keine sichtbare Bedrohung aus. Dann ist für viele die Notwendigkeit eines Musterwechsels nicht erkennbar, selbst wenn erste Indikatoren bereits auf eine Gefährdung hinweisen. Also müssen in einer solchen Situation in der Organisation zunächst die Voraussetzungen dafür geschaffen werden, dass über die Frage "Musterwechsel - ja oder nein?" überhaupt gesprochen werden kann. Ohne externe Unterstützung gelingt dies selten. Also engagieren Unternehmen oft externe Berater, um das Thema "Musterwechsel" in ihrer Organisation überhaupt erst einmal sprachfähig zu machen und die Meinungsbildung und Entscheidungsfindung zu moderieren.
Zeigt sich hierbei, ein Musterwechsel ist nötig, stellt sich die Frage: Wie könnte das neue Muster aussehen? Sie ist nicht leicht zu beantworten - vor allem, weil das Ziel eines Musterwechsels stets ist, das Unternehmen (oder Teile von ihm) zukunfts-fit zu machen. Die Zukunft ist aber noch nicht Gegenwart. Also kann die Frage, was ist nötig und sinnvoll, nicht allein anhand von Zahlen, Daten und Fakten beantwortet werden. Auch Einschätzungen und Annahmen spielen eine wichtige Rolle. Zum Beispiel darüber: Wie entwickelt sich der Markt? Wie entwickelt sich die Technik? Was werden unsere Mitbewerber tun? Wenn ein Unternehmen einen Musterwechsel vollzieht, nimmt es sozusagen die Zukunft in seinen heutigen Entscheidungen vorweg. Entsprechend viele Unwägbarkeiten sind hiermit verbunden.
Nicht blind zur Standardlösung greifen
Das verunsichert selbst gestandene Manager. Also suchen sie nach Richtschnüren, an die sie sich bei ihren risikobehafteten Entscheidungen halten können. Das lässt sich, wenn man die Wirtschaft beobachtet, immer wieder feststellen; und zwar daran, dass die obersten Lenker der Unternehmen fast wortgleich dieselben Management-Credos verkünden - oft branchenübergreifend. Zum Beispiel "Wir müssen uns auf unser Kerngeschäft besinnen" Oder: "Wir müssen uns vom Produktlieferanten zum Systemanbieter entwickeln." Sie verfolgen also dieselbe Strategie. Doch nicht nur dies. Auch bei deren Umsetzung beschreiten sie weitgehend identische Wege.
Diese Gleichförmigkeit hat mehrere Ursachen. Zum einen fehlen den Unternehmen vielfach Alternativen zu den gängigen Lösungskonzepten. Sie haben sozusagen keine eigenen Ideen, wie das neue Muster aussehen könnte. Zuweilen fehlt der Unternehmensführung auch der Mut, neue eigene Wege zu beschreiten - insbesondere, wenn die Unternehmen Kapitalgesellschaften sind. Denn wenn alle Welt - inklusive der Finanzanalysten - verkündet "Besinnt Euch auf Eure Kernkompetenzen", erntet man wenig Widerspruch, wenn man ins selbe Horn bläst. Zudem lassen sich dann einfacher Koalitionen schmieden, als wenn man das Gegenteil oder einen ganz anderen, dritten Weg vorschlägt.
Entscheidungsalternativen erarbeiten
Dies wäre aber oft nötig. Denn wenn fast alle Unternehmen einer Branche weitgehend dieselbe Strategie verfolgen und dieselben Lösungswege beschreiten, steht von Beginn an fest: Einen entscheidenden Wettbewerbsvorteil können sich hierdurch maximal ein, zwei Unternehmen verschaffen. Aber der Rest... Also lautet eine weitere Kernaufgabe, wenn es um einen Musterwechsel geht, sich mehrere Entscheidungs- und Handlungsalternativen zu erarbeiten - denn nur dann ist ein echtes Entscheiden möglich. Auch dies stellt für viele Unternehmen eine Herausforderung dar - unter anderem, weil ihre obersten Entscheider oft so stark in der Struktur und Kultur ihrer Organisation verhaftet sind, dass ihnen viele praktizierte Verfahren als selbstverständlich und unumstößlich erscheinen. Sie übersehen, dass hinter ihnen Annahmen und Denkmuster stehen, deren (Noch-)Gültigkeit hinterfragt werden kann. Deshalb bleiben auch ihre Lösungsideen dem System verhaftet. Und wagt jemand einen Vorschlag, der von der Norm abweicht, dann wird dieser von den Kollegen oft mit dem Attribut "spinnert" versehen. Schließlich widerspricht er der gemeinsamen Erfahrung. Entsprechend schnell ist der Vorschlag, wenn er überhaupt artikuliert wird, vom Tisch - und man geht wieder zum Optimieren des Bestehenden über. Deshalb kooperieren Unternehmen auch beim Erarbeiten von Entscheidungs- und Handlungsalternativen oft mit externen Beratern. Ihr distanzierter Blick soll ihnen helfen, Annahmen, die den Internen selbstverständlich erscheinen, sichtbar zu machen, um das Erarbeiten wirklich neuer Lösungen zu ermöglichen. Ihre Aufgabe ist es aber auch, wenn ein scheinbar wenig zielführender Vorschlag formuliert wird, zu sagen "Lasst uns, egal wie spinnert dies zunächst klingt, einmal länger darüber nachdenken. Vielleicht..."
Sind die Alternativen auf dem Tisch, gilt es die Beste zu realisieren. Das klingt einfach. In sozialen Systemen wie Unternehmen gestalten sich Musterwechsel aber meist schwieriger als der Musterwechsel, den Fosbury im Hochsprung vollzog. Denn hierfür musste nur Fosbury zur Einsicht gelangen: "Ich brauche eine neue Sprungtechnik, um meine Ziele zu erreichen." Und nachdem er oder seine Trainer diese gefunden hatten, musste er sich nur noch entscheiden: So mache ich's. Und schon war der Musterwechsel vollzogen.
Anders ist dies bei Musterwechseln in größeren Unternehmen. Hier müssen stets zumindest Teile der Mitarbeiter als Mitstreiter gewonnen werden. Und wenn der Wandel auch Auswirkungen auf die Kunden, Lieferanten und sonstigen Kooperationspartner des Unternehmens hat? Dann müssen auch sie Mitstreiter werden. Sonst gelingt der Wechsel nicht.
Einen Handlungsrahmen abstecken
Dieses Gewinnen der Mitarbeiter erfordert viel Überzeugungsarbeit - unter anderem, weil die Mitarbeiter in der Regel eine noch begrenztere Sicht aufs Ganze als die Führungskräfte haben. Deshalb erkennen sie auch die Notwendigkeit des Musterwechsels oft nicht. Hinzu kommt: Bei jedem Musterwechsel gibt es Gewinner und Verlierer (und noch mehr Mitarbeiter, die befürchten, sie könnten zu den Verlierern zählen). Denn mit jedem Musterwechsel ist ein Neuverteilen von Aufgaben und Verantwortlichkeiten und somit auch Macht und Einfluss verbunden. Er bedeutet zudem ein Abschiednehmen von gewohnten Denk- und Verhaltensmustern. Entsprechend wichtig ist es, dass die Verantwortlichen klar kommunizieren,
- warum der Musterwechsel nötig ist,
- dass ihre Entscheidung, den Wechsel zu vollziehen, unumstößlich ist,
- welche Chancen sich aus ihm für die Organisation ergeben und
- dass der mit dem Musterwechsel verbundene Veränderungsprozess gemeinsam gemeistert werden soll und kann.
Wege zum Ziel definieren
Doch dies allein genügt nicht. Denn jeder Musterwechsel läutet eine Phase der Instabilität ein - weil zum Beispiel mit der neuen Art, Aufgaben zu lösen und Herausforderungen zu meistern, noch keine Erfahrung gesammelt wurde. Deshalb benötigen die Beteiligten einen Orientierungsrahmen. Ihnen muss sozusagen ein Weg aufgezeigt werden, wie das angestrebte Ziel erreicht werden kann. Das heißt, aus dem Basisentschluss "Wir wollen einen Musterwechsel vollziehen" müssen die nötigen Folgeentscheidungen abgeleitet werden - sowohl auf der Unternehmens-, als auch Bereichsebene. Denn nur dann können Meilensteine auf dem Weg zum großen Ziel definiert werden und konkrete Aufgaben hieraus abgeleitet werden, die zu erfüllen sind, damit diese Etappenziele erreicht werden. Und dies ist wiederum eine Voraussetzung dafür, dass die Mitarbeiter die nötige Veränderungsenergie entfalten (können).
Hieraus resultiert ein weiteres Problem. Wenn ein Unternehmen einen Musterwechsel vollzieht, kann es in der Regel den Beteiligten nur das Ziel nennen - und selbst dieses steht unter Vorbehalt. Den exakten Weg dorthin kann es nicht beschreiben. Es kann bestenfalls die Marschrichtung vorgeben - so wie Kolumbus, als er einen neuen Seeweg nach Indien suchte und zufällig Amerika entdeckte. Er konnte seinen Leuten (und Auftraggebern) nur sagen: Wenn die Erde eine Kugel ist, dann müssten wir auch nach Indien kommen, wenn wir statt ums Kap Horn in Richtung Westen fahren. Er hatte aber noch keine Seekarten, aus denen hervor ging: So müssen wir segeln. Er konnte nur die Richtung nennen. Und landete schließlich nicht in Indien, sondern auf den Bahamas.
Definierte Ziele und Wege regelmäßig überprüfen
Ebenso ist es, wenn Unternehmen Musterwechsel vollziehen. Auch dann können sie den Mitstreitern meist nur sagen: "Wir streben an .... Beim Versuch, dieses Ziel zu erreichen, müssen wir dieses vermutlich aber mehrfach modifizieren. Zum Beispiel, weil die Technik, auf die wir setzen, nicht das leistet, was wir erwartet haben. Oder weil ein Mitbewerber einen unerwarteten Schachzug macht. Oder weil einige unserer Annahmen nicht ganz zutreffend sind." Entsprechendes gilt selbstverständlich für den Weg zum Ziel. Auch er muss regelmäßig überprüft und gegebenenfalls korrigiert werden, da dem Unternehmen, wenn es Neuland betritt, noch Erfahrungswerte fehlen. Entsprechend wichtig ist es, dass die Verantwortlichen eine klare und überzeugende Vision haben und glaubwürdige Persönlichkeiten sind. Sonst macht sich bei ihren Mitstreitern schnell der Gedanke breit "Die haben den Überblick verloren und wissen selbst nicht mehr, wo's lang geht" oder "Die erzählen uns Märchen".
Den Verantwortlichen sollte auch bewusst sein, dass mit jedem Musterwechsel eine Phase des gezielten Ausprobierens einhergeht. Sonst besteht die Gefahr, dass sie ein partielles Nicht-Erreichen der Ziele und ein notwendiges Abweichen vom skizzierten Weg (automatisch) als ein Versagen der Mitarbeiter interpretieren. Dies führt zu einem Phänomen, das man oft in Unternehmen findet: An den definierten (Teil-)Zielen und Lösungswegen wird sklavisch festgehalten, selbst wenn jeder (unausgesprochen) weiß "Wir müssten sie modifizieren" - zum Beispiel, weil sich die Rahmenbedingungen geändert haben. Die Folge: Das Engagement richtet sich vor allem darauf, den Projektplan einzuhalten. Das eigentliche Ziel hingegen, das Unternehmen zukunfts-fit zu machen, gerät aus dem Blick.
Reflexionsschleifen in den Prozess integrieren
Entsprechend wichtig ist es, in die Prozess-Architektur Reflexionsschleifen zu integrieren, bei denen sich die Verantwortlichen fragen:
- Kann an den ursprünglich definierten Zielen festgehalten werden oder sollten sie modifiziert werden? Und:
- Erweist sich der eingeschlagene Weg als der richtige, um die (modifizierten) Ziele zu erreichen?
Auch bei dieser Reflexion ist meist eine externe Unterstützung sinnvoll. Unter anderem, damit sich die Internen nicht darüber streiten, wer daran Schuld ist, dass Teilziele nicht erreicht wurden, sondern sich primär fragen: Haben sich Annahmen von uns beim Projektstart als unzutreffend erwiesen, und (wenn ja) was müssen wir tun, um die (modifizierten) Ziele trotzdem zu erreichen? Nur dann ist ein gezieltes Steuern des Prozesses möglich. (mf)