Ein Beitrag von Andreas Neef und Willi Schroll.
Die Jahre der großen Utopien, der Hype, das Börsenfieber, der kollektive Kater nach dem bösen Erwachen - all das liegt noch gar nicht so lange zurück. Heute reiben wir uns ungläubig die Augen, denn wie damals bevölkern viele bunte Start-Ups das Web und jede Menge euphorischer Verheißungen schwirren durch die Luft, Evangelisten, Analysten und Investoren des neuen Web sammeln sich unter der wenig aussagekräftigen Flagge "Web 2.0".
Der Versionssprung von 1.0 auf 2.0 suggeriert Umwälzendes und zeugt von erstaunlichem Selbstvertrauen. Tatsache ist, dass auf der Basis offener Webtechnologien viele hundert neuer Anwendungen, Geschäftsideen und zahllose Web 2.0-Portale entstanden sind. Fakt ist auch, dass einige Portale ein Millionenpublikum eingesammelt haben.
Auch in der Goldfieber-Phase von Web 1.0 wurden jedoch beeindruckende User-Volumina und traumhafte User-Zuwächse präsentiert. Das Spiel mit den User-Zahlen erwies sich allerdings allzu oft als Hütchenspiel - hinter dem Millionenheer der User standen selten nennenswerte Umsatzpotenziale. So erwiesen sich die steilen Exponentialkurven als Sättigungskurven mit Abwärtstrend, ein "Business" nach dem anderen kollabierte - nur wenige überlebten die harte Auslese. Es ist höchste Zeit für eine kleine Inventur.
Wie fing eigentlich alles an mit Web 2.0? Dale Dougherty von O’Reilly Media war auf der Suche nach einem passenden Titel für eine Entwicklerkonferenz für das Jahr 2004. Es braute sich etwas zusammen - die Veränderungen im Web waren vielschichtig und kaum auf einen Nenner zu bringen. Der Begriff "Web 2.0" wurde geboren. Seitdem tobt die Debatte um den Wesenskern dieser webtechnologischen Epoche. Die Definitionsversuche kommen selten über eine wolkige Zusammenstellung von visionären Zielbegriffen einerseits und Technikvokabeln der Webentwickler andererseits hinaus. Wer nicht weiß, was Abkürzungen wie API, AJAX, SVG und XUL bedeuten, kann mit den Definitionen wenig anfangen.
Seit 2004, als die erste Web 2.0-Konferenz stattfand, hat sich Einiges getan. Die Konturen jenes neuen Web treten klarer hervor, Schlüsseltrends, Funktionsprinzipien und Geschäftsmodelle lassen sich erkennen. Wir lassen das Gestrüpp aus unverständlichem Technik-Slang auf der einen und "prophetischem Marketing" auf der anderen Seite hinter uns und beleuchten das unbekannte Wesen Web 2.0 aus drei Perspektiven: aus der Technologie-, der User- und der Business-Sicht.
Die Vernetzung zweiter Ordnung
Offensichtlich grenzt das Web 2.0 sich selbstbewusst gegen das "alte" Web 1.0 ab und erhebt den Anspruch, dieses zu beerben. Hier lohnt es, kurz innezuhalten und sich zu vergegenwärtigen, worin das "alte Web" besteht. Die Situation "vor dem Web" war zunächst diese: Jahrzehntelang war das Internet ein Verbund vernetzter Server, das lediglich als weltweites Forschungsnetz genutzt wurde - von Forschern, für Forscher.
Gleichzeitig existierten bereits so genannte Hypertext-Syteme als lokale Anwendungen. Tim Berners-Lee zündete Anfang der 90er Jahre am Genfer CERN den Big Bang des Web 1.0, indem er beide Welten kurzschloss. Er baute den ersten Browser und entwickelte die HTML-Syntax mit dem Hyperlink-Prinzip, wobei mit Links jedes beliebige HTMLDokument auf jedem beliebigen Server weltweit aufgerufen werden kann. Seitdem surft der User durch das "worldwide" Web. Das "Web 1.0" ist demnach ursprünglich eine Gesamtheit von Milliarden statischer Webseiten, die via Hyperlinks angesteuert werden.
Während Berners-Lee als "Gutenberg des Web" berühmt wurde und das Web 1.0 eine Basisinnovation ersten Ranges darstellt, finden wir beim Web 2.0 weder einen Urvater noch eine zentrale Innovation. Es handelt sich vielmehr um eine Vielzahl von Beiträgen und Verbesserungen. Die neuen offenen Webtechnologien und Standards (AJAX, XML, RSS etc.) erzeugen im Zusammenspiel einen neuen Möglichkeitsraum für die Programmierung und damit neue Formen und Qualitäten der Informationsbereitstellung.
Überdies wird mittels sogenannter Mashups die beschleunigte Programmierung von Websites möglich, die die Datenströme aus verschiedenen Quellen kombinieren. So kann etwa der gigantische Geo-Datenbestand von Google oder der Warenbestand von Amazon für die eigene Website "im Handumdrehen" nutzbar gemacht werden, alles kann mit allem vernetzt werden - dank offener Webtechnologien in kurzer Zeit.
Es resultiert eine Art von "Vernetzung zweiter Ordnung", die in der User-Erfahrung mehr Dynamik und Interaktivität bedeutet. Insbesondere kann diese Basis genutzt werden, um die soziale Dimension auf neuem Niveau nutzbar zu machen. Eine zentrale Rolle kommt hier dem Leitbegriff von einer "Architektur der Partizipation" zu. Im Web 1.0 gab es zwar auch jede Menge Foren, Chats und Communities, aber die Technologien des Web 2.0 haben geradezu eine eingebaute Tendenz Inhalte, Orte, Menschen, Meinungen, Ereignisse zu vernetzen und so einen ganz neuen Raum von Produktivität, Interaktion und Miteinander aufzuspannen.
Die Autoren: Andreas Neef ist geschäftsführender Gesellschafter des Think Tanks Z_punkt. Willi Schroll ist Research Analyst mit Schwerpunkt Emerging Technologies und Internetentwicklung bei Z_punkt. (CIO/sic)