Im Herbst 2020 ist das Gesetz zur Umsetzung der Abfallrahmenrichtlinie der Europäischen Union vom 23. Oktober 2020 in Kraft getreten. Mit diesem Gesetz sind umfangreiche Änderungen des Kreislaufwirtschaftsgesetzes (KrWG), also dem abfallrechtlichen "Grundgesetz" in der Bundesrepublik Deutschland, in Kraft getreten.
Unter anderem hat der Deutsche Bundestag mit dem Änderungsgesetz die sog. Produktverantwortung, die jeden Hersteller von Produkten trifft, die zum Ende ihrer Lebenszeit zu Abfall werden können, mit einer Obhutspflicht ergänzt. Mit der Obhutspflicht soll verhindert werden, dass unbeschädigte, nicht verkaufte Neuware sowie unbeschädigte Rücksendungen vernichtet werden.
Sie stellt insbesondere eine Antwort des Gesetzgebers auf in der Presse bekanntgewordene Fälle von Retourenvernichtungen großer Internetversandhändler dar. Die Obhutspflicht gilt auch für die Hersteller von Elektro- und Elektronikgeräten - unabhängig davon, dass die treffende Produktverantwortung spezialgesetzlich im Elektro- und Elektronikgerätegesetz (ElektroG) geregelt ist. Der folgende Beitrag ordnet die erwähnten gesetzlichen Neuerungen aus der Perspektive von Herstellern von IT-Systemkomponenten in das abfallrechtliche Koordinatensystem ein.
Die rechtliche Systematik hinter der Obhutspflicht
Mit dem Gesetz vom 23. Oktober 2020 sind die in den §§ 23 bis 25 KrWG geregelten Anforderungen der Produktverantwortung grundlegend neu gefasst worden. Nach der Grundnorm des § 23 Abs. 1 KrWG trägt derjenige, der Erzeugnisse
entwickelt,
herstellt,
be- oder verarbeitet
die Produktverantwortung zur Erfüllung der Ziele der Kreislaufwirtschaft. Erzeugnisse sind dabei möglichst so zu gestalten, dass bei Herstellung und Gebrauch das Entstehen von Abfällen vermindert wird und sichergestellt ist, dass die nach ihrem Gebrauch entstandenen Abfälle umweltverträglich verwertet oder beseitigt werden.
Neben weiteren, gesetzlich nicht abschließend zu verstehenden Konkretisierungen, sieht § 23 Abs. 2 Nr. 11 KrWG vor, dass die Produktverantwortung eine Obhutspflicht hinsichtlich der vertriebenen Erzeugnisse umfasst. Dazu gehört insbesondere die Pflicht, beim Vertrieb der Erzeugnisse - auch im Zusammenhang mit deren Rücknahme oder Rückgabe - dafür zu sorgen, dass die Gebrauchstauglichkeit der Erzeugnisse erhalten bleibt und diese nicht zu Abfall werden.
Für die Hersteller von Elektro- und Elektronikgeräten (im Folgenden einheitlich: Elektrogeräte) gilt daneben beziehungsweise primär das ElektroG. Das legt in § 1 entsprechende Anforderungen an die Produktverantwortung nach § 23 KrWG fest. Es bezweckt vorrangig die Vermeidung von Abfällen aus Elektrogeräten, die Vorbereitung zur Wiederverwendung, das Recycling und andere Formen der Verwertung. Ziel ist es, die zu beseitigende Abfallmenge zu reduzieren und dadurch die Effizienz der Ressourcennutzung zu verbessern.
Unter das ElektroG fallen (wenig überraschend) auch Großrechner sowie PCs als kleine IT-Geräte, jeweils einschließlich ihrer Komponenten. Das ElektroG bildet damit die sogenannte Abfallhierarchie des § 6 KrWG ab, indem es auch für Elektrogeräte die Vorgabe ausgibt, dass Abfälle vorrangig vermieden, zur Wiederverwendung vorbereitet oder jedenfalls recycelt werden sollen.
Hersteller und Vertreiber von Elektrogeräten haben demnach mit Blick auf Inverkehrbringen, Rücknahme und Entsorgung ihrer Produkte die Vorgaben von zwei Gesetzen zu beachten. Daneben gelten natürlich noch - soweit einschlägig - die Regelungen zu Verpackungen und zur Produktsicherheit. Aus juristischer Sicht gelten vorrangig die Regelungen des ElektroG; das KrWG gilt nur, wenn und soweit das ElektroG keine Spezialregelungen vorsieht. Dies ist etwa bei der Obhutspflicht der Fall, weil sie auf einem imaginären Zeitstrahl eines Produktlebenszyklus die im ElektroG nicht weiter geregelte Abfallvermeidung als oberste und damit vorzugswürdige Stufe der Abfallhierarchie betrifft.
Die "Idee" der Obhutspflicht
Die Obhutspflicht soll im Wesentlichen der Vernichtung von Waren entgegenwirken. Sie betrifft sämtliche Erzeugnisse - angefangen von Lebensmitteln bis hin zu Kleidungsstücken und eben auch Elektrogeräten. Insoweit geht es auch und gerade darum zu vermeiden, dass Retouren, Lagerbestände oder Warenüberhänge "einfach so" vernichtet werden, etwa weil deren Kommissionierung und Wiederveräußerung rein monetär betrachtet teurer sind, als die Produktion und der Verkauf eines völlig neuen Produkts.
Von der Wertung her liegt der Obhutspflicht folgender Ansatz zugrunde: Wenn der Hersteller schon dazu verpflichtet ist, ein Produkt auf den Markt zu bringen, das am Ende seines Lebenszyklus zu möglichst wenig Abfall führt, dann muss dies erst recht für das unverkaufte oder zurückerhaltene "tadellose" Erzeugnis gelten.
Die Obhutspflicht richtet sich also an Hersteller und Vertreiber. Die werden dafür bestimmte betriebliche und organisatorische Vorkehrungen treffen müssen. Dies betrifft zunächst Transport und Logistik, aber beispielsweise auch Formen eines ermäßigten Verkaufs über andere beziehungsweise besondere Vertriebskanäle, unter Umständen sogar eine Spende (was aber wiederum entsprechende steuerrechtliche Rahmenbedingungen erfordern wird). Alles steht unter der Überschrift "nachhaltiger Konsum".
Wie die Rangfolge der zu einem späteren Zeitpunkt eingreifenden Abfallhierarchie auch, steht die Obhutspflicht unter dem Vorbehalt der Verhältnismäßigkeit. Sie hat sich am bestmöglichen Schutz von Mensch und Umwelt zu orientieren. Der von der Obhutspflicht Verpflichtete soll demnach nicht um jeden Preis dazu verpflichtet sein, die Gebrauchstauglichkeit eines Erzeugnisses aufrechtzuhalten oder es in jedem Fall wiederzuverwenden. Ergänzend sind im Europäischen Binnenmarkt natürlich die Rahmenvorgaben der Europäischen Union zum freien Warenverkehr zu beachten (§ 23 Abs. 3 KrWG).
(Keine) aktuelle Rechtsverbindlichkeit der Obhutspflicht
Die Obhutspflicht ist - wie die sonstigen Vorgaben und Konkretisierungen der Produktverantwortung - im Wesentlichen eine "latente Grundpflicht". Sie entfaltet zwar gewisse (wertungsmäßige) Vorwirkungen für die betroffenen Akteure oder soll diese zu entsprechenden Selbstverpflichtungen motivieren. Das ist jedenfalls die Hoffnung des Gesetzgebers. Es bedarf aber zu ihrer "Aktivierung" konkreter Rechtsverordnungen. Mit anderen Worten:
Die Obhutspflicht erlegt den verpflichteten Herstellern und Vertreibern erst dann konkrete Verhaltenspflichten auf, wenn die Bundesregierung durch entsprechende Rechtsverordnung bestimmt hat, wer genau die Pflichten zu erfüllen hat, welches Erzeugnis konkret betroffen ist und wie der jeweiligen Verhaltenspflicht nachzukommen ist (vgl. § 23 Abs. 4, § 24 Nr. 10 KrWG).
Der Bundesgesetz- oder -verordnungsgeber ist demnach aufgefordert, für den jeweiligen Sach- und Problembereich geeignete, dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz entsprechende Maßnahmen beziehungsweise Verhaltensweisen zu bestimmen, mit denen die Obhutspflicht erfüllt werden kann. Erst danach können Rechtsverstöße überhaupt als Ordnungswidrigkeit geahndet werden (vgl. § 69 Abs. 1 Nr. 8 KrWG).
Gleichsam zur Abrundung des Ganzen - und um die Effektivität der angeordneten Maßnahmen überprüfen zu können - hat der Bundesgesetzgeber eine weitere Ermächtigung zum Erlass einer Rechtsverordnung geschaffen. Mit der kann festgelegt werden, dass und für welche von der durch Rechtsverordnung konkretisierten Obhutspflicht erfasste Erzeugnisse die Erstellung eines Transparenzberichts gefordert werden kann (vgl. § 25 Abs. 1 Nr. 9 KrWG). In dem Transparenzbericht werden die Verpflichteten künftig aufzuzeigen haben, in welcher Menge Erzeugnisse von der Obhutspflicht erfasst worden sind und welche Maßnahmen zu ihrer Umsetzung unternommen worden ist.
Ausblick zur weiteren Entwicklung der Obhutspflicht
Dem für die Erarbeitung entsprechender Rechtsverordnungen zuständigen Bundesumweltministerium ist bewusst, dass vor dem Erlass der Rechtsverordnung(en) zunächst Daten zum tatsächlichen Umfang stattfindender Warenvernichtungen und zu den Gründen dafür zu erheben sind. Dazu hat das Bundesumweltministerium bereits vor dem Inkrafttreten des Änderungsgesetzes vom 23. Oktober 2020 mitgeteilt, dass es zunächst Eckpunkte für die Obhutspflicht beziehungsweise die Rechtsverordnungen erarbeiten will. Dabei soll ein besonderer Fokus auf Kleidung und Elektrogeräte gelegt werden. Dafür sucht das Ministerium aktuell noch den Dialog mit Handelsverbänden, Online-Händlern, Drittverwertern und weiteren kreislaufwirtschaftsrechtlich relevanten Akteuren.
Bei alldem ist dem Ministerium bewusst, dass der Obhutspflicht nur dann zur vollen Effektivität verholfen werden kann, wenn dazu auch die übrigen rechtlichen Rahmenbedingungen passen. Es wird es also neben der Konkretisierung der Obhutspflicht und der "Aktivierung" der damit einhergehenden Verhaltenspflichten darum gehen, bestehende Regelungen so anzupassen, dass weitere Anreize gesetzt werden, - etwa zur erneuten Veräußerung von Retouren auf Zweitmärkten oder zu deren Spende.
Es bleibt daher abzuwarten, wie die Obhutspflicht letzten Endes konkret aussehen wird. Klar ist allerdings bereits jetzt, dass Elektrogeräte und damit auch IT-Systemkomponenten in einen besonderen Fokus rücken werden. Daher ist zu empfehlen, die Rechtsentwicklungen genau im Blick zu behalten. Im Übrigen ist jeder Verpflichtete dazu aufgerufen, sich frühzeitig kreative Gedanken zu machen, auf welche Art und Weise den hergestellten beziehungsweise vertriebenen Produkten auf freiwilliger Basis zu einer längeren Lebenszeit verholfen werden kann. (bw)
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