Die Hälfte der Deutschen wünscht sich mehr Weiterbildung im Job, hat dafür aber weder genug Zeit noch Geld. Das ist das Resultat einer Meinungsumfrage, die das Job-Netzwerk XING gemeinsam mit dem Marktforschungsinstitut Appinio erhoben hat. Mit 94 Prozent gaben fast alle Befragten an, dass Weiterbildung eine positive Auswirkung auf die persönliche Entwicklung habe.
Die Umfrage zeigt: In Zeiten des fortschreitenden Fachkräftemangels sind Unternehmen gefordert, massiv in die Personalentwicklung zu investieren. Branchenübergreifend sind vor allem hoch qualifizierte Mitarbeiter - zu denen neben Akademikern auch Absolventen einer Fortbildung wie Meister, Fachwirte oder Techniker zählen - besonders schwer zu finden. Im Zeitraum von 2013 bis2022 ist die Fachkräftelücke in dieser Gruppe um 405 Prozent gestiegen, ermittelte das Institut der deutschen Wirtschaft.
Flexiblere Bewerbungsverfahren erreichen größere Zielgruppe
Wenn Firmen feststellen, dass sie weniger Bewerbungen erhalten, sollten sie zuerst ihr Recruiting ändern. SAP ist mit gutem Beispiel vorangegangen: Der Softwarekonzern verkündete vor einigen Monaten, künftig auch Bewerberinnen und Bewerbern ohne Hochschulstudium zu Vorstellungsgesprächen für IT-Jobs einzuladen. Bei der Besetzung von Fach- und Führungspositionen setzen Arbeitgeber generell noch zu sehr auf formale Qualifikationen, wie einen bestimmten Studienabschluss, gute Noten sowie einen geradlinigen Lebenslauf. Diese Anforderungen erfüllen vor allem Bewerber, die aus gutem Elternhaus kommen und sich dank finanzieller Unterstützung voll auf ihr Studium oder ihre Ausbildung konzentrieren konnten.
Mitbewerber, die sich ein Studium mit Nebenjobs selbst finanzieren mussten oder neben ihrer Vollzeitstelle noch eine Weiterbildung absolviert haben, fallen wegen ihrer ungeraden Vita oft durchs Raster. Dabei haben sie mit ihrem besonderen Engagement bereits bewiesen, wie motiviert und diszipliniert sie sind. Unternehmen sollten sich diese Bewerbergruppe nicht entgehen lassen und mithilfe von Tests nach den besten Talenten suchen.
Potenzielle Bewerber könnten zunächst in einer kurzen E-Mail mit wenigen Sätzen beschreiben, warum sie den Job haben wollen, was sie dafür mitbringen und wo sie ihre Fähigkeiten bereits demonstriert haben. Anschließend erhalten die Kandidaten Probeaufgaben, wobei sie etwa beschreiben sollten, wie sie ein fiktives Problem lösen würden. Über solche Auswahlverfahren können Personalverantwortliche gut erkennen, ob sich auch jemand ohne einen formalen Abschluss als Mitarbeiter eignen würde.
Mit Aus- und Weiterbildung die Personalsuche verkürzen
Mit entsprechenden Aus- und Weiterbildungsmaßnahmen lassen sich auch Bewerber, deren Qualifikation noch zu gering ist, zu den dringend benötigten Fachkräften entwickeln. Das zeigt ein Beispiel aus dem Handel, wo der Personalmangel seit Jahren spürbar ist. Um auch weiterhin Fach- und Führungspositionen besetzen zu können, ging ein Handelskonzern dazu über, Aus- und Weiterbildungsprogramme für Quereinsteiger und Studienabbrecher zu etablieren. Sowohl in Stellenausschreibungen als auch in der Öffentlichkeitsarbeit kommunizierte das Unternehmen, dass es offen für Bewerber aus verschiedenen sozialen Schichten ist - auch, wenn diese noch nicht alle Stellenanforderungen erfüllen.?Der Konzern hatte für sich erkannt: Geringer Qualifizierte einzustellen und weiterzubilden, ist günstiger, als monatelang erfolglos nach dem Wunschkandidaten zu suchen.
Eine Berechnung des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung unterstützt diese Aussage. Demnach stiegen die betrieblichen Recruiting-Kosten von Juni 2010 bis Juni 2022 um durchschnittlich 13,7 Prozent, was unter anderem auf eine längere Suchdauer sowie eine höhere Zahl an Suchkanälen zurückzuführen ist. Eine Analyse des Jobportals StepStone kam zu dem Ergebnis, dass eine unbesetzte Stelle im Schnitt 29.000 Euro kostet; bei Unternehmen mit mehr als 250 Beschäftigen steigen die Kosten auf über 73.000 Euro.
Fortbildungsangebot kann über Arbeitgeberwahl entscheiden
Wer Fachkräfte finden und halten will, sollte auch in Krisenzeiten in Weiterbildung investieren. Benefits wie Dienstwagen oder Jobticket spielen bei der Entscheidung für einen Arbeitgeber, wenn überhaupt, nur noch untergeordnete Rollen. Neben einem?guten Gehalt und flexiblen Arbeitszeiten wünschen sich Berufstätige in ihrem Job etwas zu erreichen, sie wollen ihr Wissen erweitern und sich weiterentwickeln. Das bestätigt eine von Bitkom und HR Pepper durchgeführte Umfrage unter 1300 Berufstätigen aller Branchen, darunter Geschäftsführende, leitende Angestellte sowie Angestellte ohne leitende Funktion: 89 Prozent finden Weiterbildungsmöglichkeiten wichtig, für 84 Prozent sind sie sogar ein relevantes Kriterium bei der Wahl des Arbeitgebers.
Mit individuellen Entwicklungsmaßnahmen und Karrierepfaden können Unternehmen ihre Fach- und Führungskräfte nicht nur langfristig fördern, gut ausgebildete Beschäftigte sind in der Regel produktiver, was sich in den Geschäftsergebnissen widerspiegeln kann. Für Vorgesetzte sollte es daher selbstverständlich sein, in Mitarbeitergesprächen aktuelle Jobrollen zu analysieren und künftige Anforderungen zu identifizieren.
Zur Sprache kommen sollte ebenfalls, was jemand im aktuellen Job besonders gern macht, welche Aufgaben er vielleicht lieber abgeben oder welche er gern übernehmen würde. Im besten Fall vereinbaren Führungskräfte mit ihren Teammitgliedern individuelle Lernziele, für deren Erreichen die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter dann selbst verantwortlich sind. Vorgesetzte sollten lediglich dabei unterstützen, passende Lernangebote zu finden. Das kann ein Wochenendkurs mit IHK-Abschluss sein, ein E-Learning, dasim eigenen Tempo absolviert werden kann oder ein Mentoring. Mitarbeiterbefragungen zeigen, dass Angestellte nicht nur zufriedener sind, wenn ihr Arbeitgeber in ihre persönliche und berufliche Entwicklung investiert, sie identifizieren sich auch stärker mit dem Unternehmen und denken weniger über einen Jobwechsel nach. (pg)