Das Simultan-Visualisieren ist eine Methode der Gesprächsführung, bei der während des Dialogs unterstützende Visualisierungen entstehen - zum Beispiel am Flipchart. Dabei sind den visuellen Ausdrucksmöglichkeiten kaum Grenzen gesetzt. Man kann Worte (zum Beispiel Schlüsselbegriffe und Ziele) visualisieren, mit Farben spielen, Formen einsetzen (wie geometrische Figuren und stilisierte Personen) und spontan Bilder zu Papier bringen. Dabei sollte jedoch der Bezug zum Gesprächsthema deutlich bleiben.
Wirkungsvoll lässt sich diese Methode in Meetings, Teamsitzungen und Workshops, aber auch Coachings nutzen. Denn dadurch, dass ansonsten flüchtige Gesprächsbeiträge festgehalten und für alle Beteiligten transparent gemacht werden, wird die Visualisierung zum Mittelpunkt des Gesprächsprozesses. Sie kann provozierend, erhellend, problematisierend und konsensbildend wirken. Und dem Simultan-Visualisierenden, fortan Leiter genannt, dient das Simultan-Visualisieren unter anderem als Werkzeug zum Klären von Sachverhalten, Positionen und Beziehungen sowie Erklären komplexer Sachverhalte.
Ein mächtiges Instrument der Gesprächsführung
Gute Simultan-Visualisierungen vermitteln Struktur. Sie beleben die Atmosphäre und Kreativität und fördern das Verständnis und die Akzeptanz. Und der Dialogprozess? Er gewinnt an Tiefe und die Ergebnisse werden verbindlicher. Damit erhalten speziell Leiter, die Prozesse ohne institutionelle Macht gestalten wollen, wie Projektleiter eine leistungsfähige Methode der Gesprächsführung an die Hand. Und zugleich erledigt sich das Thema Protokollführung. Denn wirken die Teilnehmer am Entstehen der Visualisierungen mit, akzeptieren sie auch eine Fotodokumentation der Gesprächsergebnisse als Protokoll.
Für die Visualisierungen benötigt man ein Medium - zum Beispiel einen Flipchart. Und für eine ansprechende Gestaltung von ihnen geeignete Stifte. Stifte mit kantigen Spitzen ermöglichen es, kalligrafisch zu schreiben. Die beim Simultan-Visualisieren genutzte Schrift ist als Moderationsschrift bekannt und beliebt wegen ihrer ansprechenden Wirkung.
Manche Personen scheuen Visualisierungen, weil es ihnen schwer fällt, spontan Bilder zu malen. Für sie gibt es einen Rettungsanker: die Formen. Neben den geometrischen Grundformen bieten "freiere" Formen wie abgerundete Rechtecke, diverse Pfeile, Sprechblasen und bildhafte Formen wie eine stilisierte Waage zahlreiche Möglichkeiten der Visualisierung in Wort und Bild. Für das Visualisieren von Menschen gilt: Aus zwei oder drei Grundformen lassen sich plakative Darstellungen von Personen ableiten, denen man sogar Bewegung einhauchen kann - zum Beispiel mittels Schraffuren.
Vier Farben von Stiften genügen zum Simultan-Visualisieren, wenn man die Symbolkraft der Farben nutzt. So können zum Beispiel verbindende Linien, die Zusammenhänge aufzeigen, geschwungen und grün dargestellt werden, so dass sie an Zweige erinnern. Rot eignet sich zum Transportieren emotionaler Botschaften und als Strukturfarbe für Tabellen. Professionell wirkt es, wenn der Leiter einen "Style Guide" für seine Visualisierungen verinnerlicht hat. Das heißt: Er setzt Farben und Formen, dicke und dünne Stifte systematisch ein. Überschriften, Strukturelemente und Inhalte positioniert er nach einheitlichen Regeln. Das verschafft den Meeting-Teilnehmern Orientierung.
Gespräche spontan visualisierend führen
Wer ein Gespräch führen und zugleich visualisieren möchte, dem stellt sich die "technische" Frage: Was, wann und wie visualisiere ich? 'Und: Was mache ich mit der Gruppe, während ich visualisiere? Denn ein Gesprächsleiter, der zugleich visualisiert, muss seine Aufmerksamkeit zwischen Flipchart und Gruppe teilen. Zudem gibt er beim Visualisieren selbst den Blickkontakt mit seinen Gesprächspartnern auf.
Erfahrungsgemäß schadet das dem Gesprächsprozess nicht, sofern die Visualisierung zügig erfolgt und das Gesagte treffend wiedergibt. Entscheidend ist, wie wertschätzend der Leiter mit der Gruppe umgeht. Zeigt der Leiter immer wieder Einfühlungsvermögen in die unterschiedlichen Positionen der Gruppe (Allparteilichkeit), bewahrt er seine Autorität.
Sinnvoll ist es, die Gesprächsebene und die visuelle Ebene abwechselnd zu bedienen: Ein Ergebnisbeitrag wird zunächst erarbeitet; dann bringt der Leiter ihn im Gespräch mit der Gruppe so auf den Punkt, dass er sich visualisieren lässt. Der Leiter bereitet die Gruppe also auf das vor, was er visualisieren wird, und holt sich ihr Einverständnis ein. Danach visualisiert er, ohne zu reden.
Anforderungen an den "Moderator"
Um zur Visualisierung essenzieller Ergebnisbeiträge zu gelangen, braucht der Leiter zwei Fähigkeiten: Er muss wirksam fragen können. Zudem benötigt er Techniken, um Gesprächsbeiträge anderer Personen für die Visualisierung auf den Punkt zu bringen - zum Beispiel, indem er umfängliche Redebeiträge umformuliert und zusammenzufasst. Indem er so die Qualität der Beiträge erhöht, trägt er wesentlich zu einem gelingenden Gruppenprozess bei.
Checkliste: Gesprächsbeiträge auf den Punkt bringen
Geschlossene Fragen stellen, um das Okay für die Visualisierung einzuholen
Redebeiträge zusammenfassen; paraphrasieren
Präzisieren: knapp, klar, konkret
Zu persönlichen Aussagen ("ich") auffordern; Konjunktive ("könnte") und Verallgemeinerungen ("man") vermeiden
Beiträge entpersonifiziert ans Flipchart "schreiben"
Bei Bedarf: polarisieren, simulieren, provozieren
Handlungsorientiert formulieren
Die sieben Schlüssel für ein erfolgreiches Simultan-Visualisieren
1. Kontakt aufnehmen und halten
2. Den anderen dort abholen, wo er ist:
- zuhören und einfühlen
- die eigene Meinung für eine Weile zurückhalten
3. Mit offenen Fragen nachfragen; zukunfts- und lösungsorientiert fragen
4. Gesprächsbeiträge auf den Punkt bringen
5. Zügig und ansprechend die "Essenz" visualisieren
6. Den Kontext beachten; wenn etwas geklärt oder transparent gemacht werden soll, nachfragen
7. Auf Rollenklarheit achten
Exemplarische Einsatzfelder
Für das Simultan-Visualisieren gibt es viele Einsatzmöglichkeiten. Ihr volles Potenzial entfaltet die Methode in Veränderungsprozessen, wenn sich die Struktur des Prozesses erst aus dem Prozessverlauf ergibt. Zu den strukturliefernden Visualisierungen zählen Prozessmodelle, die horizontal einen Prozess in Prozessschritte zerlegt visualisieren, und die vertikal die mit dem Prozessschritt verbundenen Tätigkeiten zeigen. Bei unbekannten Themen, oder wenn ein Thema erforscht werden soll, bietet sich eine Mind Map als Struktur an.
In Workshop- und Gruppensituationen eignet sich die Methode auch zum Arbeiten auf der Prozessebene. Wird es inhaltlich schwierig, liegt oft eine entsprechende Störung vor. Über eine treffende Visualisierung kann der Leiter die Diskussion auf diese Ebene "heben" und so das Bearbeiten der Störung einleiten. Bei Konflikten kann der Leiter im Dialog mit der Gruppe zunächst die beteiligten Konfliktparteien herausarbeiten, die er dann anonymisiert (zum Beispiel als große Kreise mit unverfänglichen Namen wie A, B, C) simultan visualisiert. Danach fordert er die Parteien auf, konkrete Aspekte ihrer Positionen zu nennen, die er den Kreisen zugeordnet visualisiert. Die Visualisierung bildet die Basis für die weitere Konfliktbearbeitung.
Recht anspruchsvoll ist das Erstellen von Verlaufsprotokollen von Diskussionen. Das heißt: Während die Gruppe über ein Thema diskutiert, "dokumentiert" der Leiter die Argumente und gegebenenfalls Emotionen in der Diskussion auf einer Pinwand. Soweit möglich, strukturiert er die Beiträge, indem er Abhängigkeiten und Schlussfolgerungen visualisiert.
Diese Anwendung setzt eine gewisse Routine des Leiters mit dem Simultan-Visualisieren voraus, denn er ist allein für das treffende Verkürzen von Beiträgen und das Visualisieren von Zusammenhängen zuständig. Während er einen Beitrag notiert, hört er den nächsten, um diesen danach zu visualisieren. Und am Ende enthält das Verlaufsprotokoll alle wesentlichen Argumente der Diskussion - zum Beispiel im Vorfeld einer Entscheidung.
Wie wirkt Simultan-Visualisieren?
Die besondere Wirkung des Simultan-Visualisierens in Veranstaltungen wie Projektmeetings beruht auf einer Art Stereo-Effekt: Hör- und Sehsinn werden zugleich bedient. Dadurch wird das Lernen und Behalten gefördert. Außerdem erzeugen die Visualisierungen Transparenz, was verbindlichkeits- und akzeptanzfördernd, aber auch polarisierend wirken kann. Denn bildhafte Darstellungen zeigen Zusammenhänge auf, und in Worten visualisierte Beiträge erhalten eine höhere Bedeutung. Zudem adressieren eine gekonnte Strichführung, ein geschickter Einsatz von Farben und Formen sowie ansprechende, bildhafte Darstellungen die rechte Hirnhälfte, die unsere künstlerisch-emotionalen Fähigkeiten repräsentiert. Dadurch werden die Fantasie und Kreativität der Gruppe stimuliert.
Michael Schwartz leitet das Institut für integrale Lebens- und Arbeitspraxis (ilea), Esslingen bei Stuttgart (www.ilea-institut.de). Der Diplom-Physiker arbeitete vor seiner Beratertätigkeit zwei Jahrzehnte als Führungskraft und Projektmanager in der (Software-)Industrie.
Hinweis: Am 18./19. September veranstaltet das ilea-Institut in Weinstadt (bei Stuttgart) ein offenes Seminar "Simultan visualisieren in der Projektarbeit". Nähere Infos finden Interessierte im Veranstaltungskalender auf der Webseite www.ilea-institut.de.