Die strategischen Vorteile von Videokonferenzsystemen im Business-Leben sind seit den Aschewolken aus Island unbestritten. Doch gerade Mittelständer schrecken Preise im sechsstelligen Bereich ab. Wir haben getestet, was günstigere Systeme wie Vidyo leisten.
Von Jürgen Hill, Computerwoche
Zugegeben, der Verfasser dieses Testberichts (im Bild rechts unten) hat eine Wandlung vom Saulus zum Paulus hinter sich: Als Kind des ISDN-Zeitalters mit seinen ersten Conferencing-Lösungen, assoziierte er Videokonferenzen qualitativ immer mit den Anfangstagen des Films, als "die Bilder laufen lernten". Das Aha-Erlebnis kam erst, als Polycom und Cisco ihre HDTV-tauglichen TelePresence-Systeme vorstellten (siehe Test "Das Ende der Bonus-Meilen"). Und in der Folge brauchte es auch keine isländische Aschewolke, um von den Vorzügen dieser Plattformen zu überzeugen. Allein die Erfahrung, dass so die Teilnahme an mancher Pressekonferenz in Kalifornien ohne Jetlag und 14 Stunden Flug möglich war, genügte zur Bekehrung. Für Ernüchterung sorgten dann schnell die sechsstelligen Investitionskosten für entsprechende TelePresence-Systeme oder die technischen Voraussetzungen. Selbst bei der Home-Variante von TelePresence, die Cisco im Januar auf seiner hauseigenen Anwenderkonferenz präsentierte, geht Marthin De Beer, Senior Vice President Emerging Technologies, von einem Bandbreitenbedarf um die 1,5 Mbit/s in beide Richtungen aus.
Jetzt verspricht ein Unternehmen eine HD-taugliche TelePresence-Lösung für den Desktop zum Preis von rund 7000 Euro! Und das Ganze sollte auch ohne Breitbandverbindung via UMTS funktionieren, also quasi flexibel unterwegs bei Bedarf? Hersteller Vidyo hatte unsere Neugier geweckt und wir wollten das System "Vidyo Desktop" selbst in einem Praxistest live erleben.
Der Unterschied zu Skype, Teamviewer und Co.
Der System-Preis von 7.000 Euro ist aber nur die halbe Miete, wie sich in der Praxis zeigte. Bei der Desktop-Variante muss sich der Anwender nämlich Videokamera und eventuell Mikrofon und Lautsprecher selbst besorgen. Wir setzten hierzu die HD-fähige (720p) Webcam Pro 9000 von Logitech ein, deren Listenpreis bei rund 100 Euro liegt. Angesichts der Tatsache, dass sich der User die Kamera selbst besorgen muss, stellte sich schnell die Frage, warum er nicht gleich auf Skype, Teamviewer oder eine der vielen Video-fähigen Messaging-Lösungen setzen sollte? Wer sich dann etwas im Detail mit diesen Angeboten auseinandersetzt, stellt fest, dass es sich hier oft nicht um Videokonferenzssysteme im eigentlich Sinne handelt, sondern eher um Video-Telefonie, da oft nur Punkt-zu-Punkt-Verbindungen möglich sind - also nur zwei Gesprächspartner direkt miteinander kommunizieren können.
Echte Konferenzsysteme sollten dagegen als Multipoint-Anlagen ausgelegt sein und mehrere Partner an unterschiedlichen Standorten miteinander verbinden. Ein weiteres Manko findet sich häufig versteckt in der Feature-Liste. Die Systeme beherrschen kein HD-Video sondern oft nur eine Miniauflösung von beispielsweise 228 x 171 Pixel. Trotz dieser Einschränkungen ist dann der Bandbreitenbedarf mit 2 Mbit/s teilweise sehr hoch für das Gebotene. Deshalb sind viele Lösungen nur auf den ersten Blick günstig, weil für den Privatkunden kostenlos, während der Business-Anwender eine monatliche Gebühr bezahlt.
Bei Vidyo hingegen erhält man eine Lizenz für 25 User, die keiner zeitlichen Beschränkung unterliegt. Zudem handelt es sich ein Multipoint-fähiges System, das bis zu fünf unterschiedliche Konferenzlokationen unterstützt. Außerdem beinhaltet der Systempreis von 7000 Euro einen dedizierten Video-Router plus -Portal, das im Hintergrund die Schaltung einer Videokonferenz übernimmt. Zudem ist man bei Vidyo stolz auf den niedrigen Bandbreitenbedarf für eine Videokonferenz. Bereits 700 kbit/s sollen genügen.
SVC-Codec statt H.264/AVC
Möglich wurde dies, weil der Hersteller nicht auf den bisher bei HD-Videosystemen üblichen H.264/AVC-Codec setzte, sondern auf die Weiterentwicklung SVC, die im Juli 2007 standardisiert wurde. Das Scalable Video Coding (SVC) verfolgt eine Idee, die ebenso simpel wie tricky ist: Warum zerlegt man einen Video-Bitstream nicht in mehrere Subset-Bitstreams, die dann beim Empfänger wieder zusammengesetzt werden? Erfolgt dies intelligent, können später Subsets verloren gehen (Packet loss), ohne dass dies sichtbare negative Auswirkungen auf das Bild hat. Oder man nutzt SVC, um die Videoübertragung an die Transferraten im Netz anzupassen, indem Substreams nicht mit übertragen werden. Dabei sieht SVC drei beeinflussbare Skalierungsparameter vor:
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Temporal Scalability, also die Skalierbarkeit der Frame Rate;
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Spatial Scalability definiert die Auflösung eines übertragenen Einzelbildes;
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SNR/Quality/Fidelity Scalability: Hier wird ein Videobild nur in einer Auflösung, aber in unterschiedlichen Qualitäten codiert
Vidyo benutzt dabei eigenen Angaben zufolge eine Kombination aus Temporal und Spatial Scalability. Auf diese Weise sei man nicht nur in der Lage, wenig Bandbreite zu benötigen, sondern auch HD-Videokonferenzen über das öffentliche Internet zu führen. Zudem verkrafte das System einen prozentual höheren Paketverlust bei der Datenübertragung als ein klassisches System.
Die Installation - die Bilder lernen laufen
Doch genug der Technik. Die Installation auf der Client-Seite war ein Kinderspiel. So mussten lediglich die Treiber für die Videokamera eingespielt und dann die eigentliche Vidyo-Desktop-Software installiert werden. Zudem ist sicherzustellen, dass der Port 80 oder 443 verfügbar ist und die Firewall oder der Router STUN (ursprünglich nach RFC 3489: Simple traversal of UDP through NAT, heute nach RFC 5389: Session Traversal Utilities for NAT) erlaubt. Das sind im Grunde die ganzen Vorarbeiten, die ein Anwender zu leisten hat, um an einer Videokonferenz teilzunehmen. Den Konferenzraum selbst betritt der man per Internet-Browser über ein Web-Portal.
Von der Technik im Hintergrund bekommt der Anwender auf diese Weise nichts mit - er steuert sein Konferenzsystem lediglich über das Web-Portal, das VidyoPortal beziehungsweise lokal über das VidyoDesktop. Das VidyoPortal vereint als Appliance Router und Portal-Software in einem. Ergänzend könnten in Außenstellen oder Niederlassungen zusätzliche VidyoRouter installiert werden, um ein dezentrales System aufzubauen. Die Verbindung zu klassischen Videosystemen, beispielsweise von Polycom oder Tandberg, knüpft bei Bedarf das VidyoGateway.
Anmeldung am Video-Portal
Nach der Anmeldung am Portal, die entsprechende Einladung zur Konferenzteilnahme vorausgesetzt, befindet sich der Anwender direkt im Konferenzraum und sollte seinen Gegenüber hören und sehen. Die Bedienung ist dabei denkbar einfach. Über dem Videobild findet der Benutzer neun Symbole, um das gezeigte Bild zu wählen, die Lautstärke einzustellen, gemeinsam Dokumente zu besprechen oder Feineinstellungen am System vorzunehmen. Bei den Einstellungen können etwa die verwendeten Audio- und Videogeräte konfiguriert werden, falls mehrere im System vorhanden sind. Ebenso kann hier die Videoauflösung gewählt und das System an die Netzumgebung (Proxy etc.) angepasst werden.
Die ersten Minuten mit dem Vidyo-Konferenzsystem überraschten dann: Kein Vergleich zum Pixelbrei oder den Ruckelbildern die etwa Skype bei Videoübertragungen via Internet liefert. Zudem waren Bewegungen des Gegenübers flüssig ohne Ruckeln zu erkennen und an der Sprachqualität gab es nichts zu bemängeln. Ein Blick in das Statusmenü zeigte, dass wir etwas über 700 kbit/s Bandbreite benötigten. Auffallend war dagegen die hohe CPU-Auslastung auf unserem Windows-7-Notebook (Dualcore mit 2,4 Ghz): Sie lag bei 70 Prozent und teilweise sogar darüber.
Vidyo in der Praxis - die Bilder laufen
Im weiteren Verlauf zeigte sich dann doch, dass die Videokonferenz über das öffentliche Internet stattfand. Auf Geschwindigkeitsschwankungen reagierte Vidyo, indem die Bildauflösung kurzfristig zurückgefahren wurde. Auch größere Paketverluste waren an kurzen, ruckartigen Bewegungen zu erkennen. Aber es gab, im Gegensatz zu anderen Systemen, nie einen Totalausfall des Bildes, sondern immer nur eine Degradierung der Qualität. Positiv gefiel bei der Arbeit mit Vidyo auch die einfache Steuerung über die Symbole am oberen Bildrand. Damit ließen sich etwa zusätzliche Ansichten per Mausklick aktivieren. Dem Autor gefiel dabei besonders, dass er ein Kontrollbild von sich selbst einblenden konnte - ein Feature das er bei den teilweise sehr viel teureren Highend-TelePresence-Systeme oft schmerzhaft vermisst hatte. Ebenso einfach ließen sich weitere Konferenzteilnehmer hinzuschalten, wobei verschiedene Darstellungsvarianten zur Verfügung stehen. Rein persönlich gefiel dabei die Variante, bei der der aktuelle Sprecher groß zu sehen war und die anderen Teilnehmer als Kontrollbild. Wie in einem echten Konferenzraum, konnte auch hier anhand der Gesichtsmimik der Anwesenden die Reaktionen auf das gerade Gesprochene eingeschätzt werden.
Document-Sharing statt Collaboration
Bei einer Dreierkonferenz mit einem Teilnehmer in Italien, konnte der SVC-Codec dann sein Leistungspotenzial unter Beweis stellen: Der italienische Partner war per Mobilfunk mit dem Internet verbunden - also in Sachen Latency, Jitter oder Bandbreite alles andere als ideal für eine Videokonferenz. Dementsprechend hatte die Bildqualität wenig mit einem HD-TelePresence gemeinsam - aber die Verbindung funktionierte und brach nicht zusammen. Allerdings war die Auflösung relativ niedrig und Bewegungen stockten teilweise stark.
Nach diesem Ausflug in das Extreme, stand wieder der Büroalltag im Vordergrund: Die virtuelle Zusammenarbeit an einem Dokument. Um es gleich vorweg zu sagen, hier muss der User mit einer Einschränkung leben: Eine Collaboration ist derzeit noch nicht möglich, sondern nur ein Document-Sharing.
Dafür funktioniert dies wiederum gewohnt einfach: Der User klickt einen der bereits erwähnten Buttons an und das System fragt ihn dann, welche Datei er teilen will. Nach kurzer Zeit sind die Inhalte dann beim Konferenzpartner auf dem Schirm zu sehen. Wie im Beispiel der Konferenzschaltung mit mehreren Teilnehmern kann der Benutzer auch hier zwischen verschiedenen Bildschirmdarstellungsformen wählen. An der Übermittlungsqualität gab es auch hier nichts zu kritisieren, selbst komplexer Grafiken ließen sich interaktive besprechen. Gab es Störungen auf der Internet-Verbindungen reagierte der SVC-Codec nach dem bekannten Muster - er passte schnell dynamisch die Auflösung an die Übertragungsqualität an.
Fazit
Ein abschließendes Fazit, das gerecht sein soll, fällt schwer, zumal der Verfasser durch die ausgiebige Nutzung der Highend-TelePresence-Systeme sicherlich verwöhnt ist. Negativ formuliert könnte das Resümee so lauten: Die Videoqualität der klassischen TelePresence-Systeme erreicht Vidyo nicht. Dem steht auf der anderen Seite die Erfahrung gegenüber, dass mit Vidyo eine Videokonferenz in HD-Qualität am Arbeitsplatz bezahlbar wird und keine teuren Hochgeschwindigkeitsverbindungen im Backbone benötigt. Zumal die Bildqualität immer noch deutlich besser ist als bei anderen preislich vergleichbaren Systemen, ganz zu schweigen von dem Vorteil, dass normale Internet-Verbindungen genutzt werden.
Wer also in Sachen Highend-Bildqualität Abstriche in Kauf nimmt, findet in Vidyo eine interessante Lösung. So lassen sich etwa Mitarbeiter in Außenstellen oder im Home Office nun zu überschaubaren Kosten in den audiovisuellen Kommunikationsfluss eines Unternehmens einbinden. Oder das System wird in Zeiten zunehmenden Arbeitens in geografisch verteilten Projektteams dazu genutzt, Meetings virtuell ohne Zeitverlust und Reisekosten abzuhalten. Ganz zu Schweigen von aschegeschädigten Business-Reisenden, die so via Notebook unterwegs an Konferenzen teilnehmen könnten. Oder anders formuliert: TelePresence auf dem Desktop ist Vidyo noch nicht, aber mit der gelieferten Bildqualität machen virtuelle Meetings durchaus Spaß und werden nicht als ermüdend empfunden.
Zudem gefällt an dem Vidyo-Ansatz der modulare Aufbau. Ein Unternehmen kann mit einer kleinen Lösung einsteigen und das System bei guter Nutzung sukzessive mit Komponenten wie VidyoGateway oder VidyoRouter ausbauen. Durch die technische Implementierung mit Web-Portal und geringen Hardware-Anforderungen auf der Client-Seite (Videokamera, Software) wäre auch eine Implementierung von Videoconferencing as a Service durch einen Provider denkbar. (CW/rw)