Distribution und Logistik

"Stetig gegen den Strom schwimmen"

01.02.2013 von Sven Ohnstedt
Wieso sind die Lager voller, als sie es sein müssten? Professor Götz-Andreas Kemmner, Geschäftsführender Gesellschafter der Abels & Kemmner GmbH, spricht mir der ChannelPartner-Schwester-Publikation CFO-World über systematische Fehler, geschönten Bedarf und vermeintliche Wucher.

Wieso sind die Lager voller, als sie es sein müssten? Prof. Götz-Andreas Kemmner, Geschäftsführender Gesellschafter der Abels & Kemmner GmbH, spricht mir der ChannelPartner-Schwester-Publikation CFO-World über systematische Fehler, geschönten Bedarf und vermeintliche Wucher.

Prof. Götz-Andreas Kemmner, Geschäftsführender Gesellschafter der Abels & Kemmner GmbH: "Überbestände bringen nichts - das weiß jeder."
Foto: Abels & Kemmner GmbH

Lagerbestände sind die teuersten Kredite - zumindest Ihrer Ansicht nach.

Prof Götz-Andreas Kemmner: Wenn Ihre Bank Ihnen einen Kredit mit Zinsen von 25 Prozent anbietet, würden Sie das Angebot ablehnen und es als Wucher bezeichnen. Aber im Grunde lassen Unternehmen genau so etwas im eigenen Unternehmen gedeihen.

Lagerbestände binden Kapital, das deswegen nicht anderweitig angelegt werden kann. Aber wie berechnet sich dabei ein Zinssatz von 25 Prozent?

Kemmner: Also zunächst: Überbestände bringen nichts - das weiß auch jeder. Unternehmen unterschätzen jedoch gerne, dass Lagerbestände auch laufende Kosten verursachen. Es geht also gar nicht nur darum, dass die Bestände beispielsweise eine Million Euro blockieren, sondern eben auch darum, dass sie etwa 200.000 bis 300.000 Euro an Kosten generieren.

Wodurch kommen diese Kosten zustande?

Kemmner: Wie Sie schon richtig gesagt haben: Im ersten Schritt durch entgangene Zinsen für das gebundene Kapital. Es kommen aber noch eine Reihe weiterer Punkte hinzu: Um etwas in ein Lager stellen zu können, müssen sie erst einmal ein Lager besitzen. Sie benötigen Personal zum Ein- und Auslagern und diese dazu wiederum technische Hilfsmittel. Darüber hinaus weisen Lager grundsätzlichen einen gewissen Prozentsatz an beschädigter Ware auf. Hinzukommen Alterung und Verschleiß, also Mindesthaltbarkeitsdaten oder technische Veränderungen, die dazu führen, dass Sie ein Produkt nicht mehr verkaufen können. Wenn Sie das alles zusammenzählen, dann landen Sie bei Lagerkosten in Höhe von etwa 20 bis 30 Prozent des Lagerbestands.

Stammen diese Werte tatsächlich aus der Praxis?

Kemmner: In Unternehmen stoße ich damit regelmäßig auf Unverständnis: Kaum jemand kann sich vorstellen, dass der eigene Bestand derartige Kosten verursacht. Nachdem das Controlling die notwendigen Zahlen zusammengetragen hat, stellen sie häufig dann doch fest, dass es etwa 20 bis 30 Prozent sind. Es kommt wirklich ganz selten vor, dass ein Unternehmen unter 15 Prozent liegt.

Wie stellt sich die Situation bei Unternehmen dar, die ihre Logistik ausgelagert haben?

Kemmner: Ihnen sind die Lagerkosten in der Regel bewusst, da sie diese jeden Monat in Rechnung gestellt bekommen.

Eine Diskussion über Lagerkosten wäre unsinnig, wenn die Lager nicht voller wären, als sie es sein müssten.

Kemmner: Richtig. Es ist aber nicht so einfach, den Lagerbestand zu reduzieren.

Wieso?

Kemmner: Dazu gibt es, glaube ich, keine alleinige Antwort. Unternehmen bieten beispielsweise eine zunehmende Vielfalt an Produkten an. Dabei verringern die neuen Varianten des Produkts zu einem gewissen Grad den Absatz der bisherigen Produkte. Das heißt: Unternehmen müssen jede Variante des Produkts liefern können, allerdings jeweils in vergleichsweise geringer Stückzahl. Die kleineren Mengen wiederum führen dazu, dass die Bedarfe zunehmend unregelmäßiger werden - und es dadurch zunehmend schwieriger wird, die richtigen Bedarfe zu erkennen.

Demnach liegt es gewissermaßen im Trend, ein volles Lager zu haben.

Kemmner: Wenn Sie Unternehmen fragen, ob Bestandsreduzierung für sie wichtig sei, wird ihnen dies niemand verneinen. Die meisten werden Ihnen zudem antworten, dass sie permanent dabei sind, ihren Bestand zu reduzieren - wohlwissend, dass sie damit gegen den Strom schwimmen.

Wie entsteht eigentlich so ein Strom?

Kemmner: Bestände stellen ja letzten Endes das Ergebnis eines Prozesses dar - wenn Sie es so wollen: der Reibungsverlust in der Wertschöpfungskette.

Können Sie die Konflikte aufzeigen?

Kemmner: In Unternehmen bestehen Bereiche, die jeweils eigene Ziele verfolgen und deswegen mitunter gegeneinander arbeiten. Der Einkauf beispielsweise versucht, die Einkaufspreise zu reduzieren. Er neigt daher unter Umständen dazu, größere Mengen einzukaufen oder Ware aus Fernost zu beziehen, wodurch sich Wiederbeschaffungszeiten verlängern. Die Produktion wird indes häufig daran gemessen, ob ihre Kapazitätsauslastung gut ist. Sie neigt folglich dazu, Produkte im Voraus zu fertigen. Und der Vertrieb, der daran interessiert ist, Produkte sofort verkaufen zu können und zum Ziel hat, möglichst viel zu verkaufen, möchte gerne jede Variante eines Produkts im Lager haben.

Das sind alles unternehmensinterne Konflikte. Inwiefern tragen Kunden und Lieferanten zu den Reibungsverlusten bei?

Kemmner Unternehmen befinden sich ja nicht in einer Lieferkette, obwohl stets von ihr gesprochen wird, sondern in einem Liefernetzwerk. Dementsprechend, um einen weiteren Trend zu nennen, nehmen die Prozesse an Komplexität zu. Unternehmen liefern teilweise an Kunden, die ihrerseits Lieferanten der eigenen Lieferanten sind. Unternehmen fehlt es meiner Erfahrung nach an Detailkenntnissen, um solche Fälle in den Griff zu bekommen. Sie arbeiten dann meistens mit gesundem Menschenverstand, aber das reicht an vielen Stellen einfach nicht mehr aus. Die Früchte hängen höher, als die Excel-Tabellen reichen.

Lieferbereitschaft und Sicherheitsbestände

Ihnen zufolge erfordert eine Lieferbereitschaft in Höhe von 99 Prozent einen etwa doppelt so großen Bestand wie eine Bereitschaft in Höhe von 97 Prozent.

Kemmner: Das ist keine feste Formel, sondern ein grundsätzliches Prinzip. Es besteht ein statistischer Zusammenhang zwischen Lieferbereitschaft und Bestand.

Prof. Götz-Andreas Kemmner: "Die Software in den Unternehmen eignet sich häufig nicht dazu, die Lieferbereitschaft richtig zu berechnen."
Foto: Abels & Kemmner GmbH

Können Sie den Zusammenhang erklären?

Kemmner Um es möglichst einfach zu halten: Unternehmen haben einen sogenannten Grundbedarf an Artikeln, die sie in ihr Lager legen. Denken Sie, mathematisch nicht ganz korrekt, an den durchschnittlichen Verbrauch in einem Monat. Darüber hinaus legen sie sich aber noch einen Sicherheitsbestand auf Lager. Dieser dient dazu, um auf unerwartete Ereignisse reagieren zu können - beispielsweise die schwankende Nachfrage der Kunden nach dem Artikel.

Je größer die Schwankungen, desto größer der notwendige Sicherheitsbestand?

Kemmner: Bei gegebener Lieferbereitschaft, ja, ganz genau. Lieferbereitschaft bedeutet ja, dass eine bestimmte Menge der Nachfrage tatsächlich bedient werden kann. Bei einzelnen Artikeln kann es vorkommen, dass Sie die Bestände verdoppeln und verdreifachen müssen, um die Lieferbereitschaft hochzuhalten. Im Kehrschluss gibt es selbstverständlich auch Artikel, die überhaupt keine Probleme bereiten - sprich: kaum schwanken.

Wie werden Sicherheitsbestände berechnet?

Kemmner: Die Software in den Unternehmen eignet sich häufig nicht dazu, die Lieferbereitschaft richtig zu berechnen. In vielen Fällen hinterlegt der Vertrieb sogenannte Lieferbereitschaftsgrade - er stellt die Lieferbereitschaft also nach Gefühl ein und somit eben teilweise exorbitant zu hoch oder eben viel niedrig. Wenn Unternehmen ein bisschen differenzierter an die Thematik herangehen, dann verwenden sie statistische Standardverfahren, mit denen die notwendigen Sicherheitsbestände berechnet werden. Diese statistischen Verfahren gehen jedoch zum Großteil von einer falschen Situation aus.

Den Verfahren liegt in aller Regel eine Normalverteilung zugrunde, oder?

Kemmner: Richtig, wobei damit nachgefragte Mengen gemäß ihrer Häufigkeit abgebildet werden. Die Verfahren gehen demnach davon aus, dass die nachfragte Menge eines Produkts stets relativ nahe am durchschnittlichen Wert liegt, also deutliche Schwankungen nur sehr selten vorkommen. Dies trifft aber auf 90 bis 95 Prozent der Produkte nicht zu. Demnach rechnen diese Verfahren systematisch falsch - und zwar nicht um ein paar Prozent, sondern eben mit erheblichem Fehler.

Können Sie erklären, was unter Advanced Planning zu verstehen ist?

Kemmner: Es gibt spezielle Systeme, die sich mit eben solchen Problemen beschäftigen - sogenannte Addon-Systeme. Diese können an dieser Stelle deutlich differenzierter arbeiten.

Wozu Addons? Reicht das ERP-System nicht aus?

Kemmner Wenn Sie einen Sicherheitsbestand mit einem ERP-System berechnen, dann meistens mithilfe einer der besagten Standardverfahren, die mehrheitlich nicht zutreffen - solche Systeme sind Generalisten. Dennoch wird das Ergebnis des ERP-Systems in der Regel erst einmal unkritisch akzeptiert. Später stellt sich heraus, dass man trotz hoher Bestände nicht immer liefern kann. In der Folge wird das ERP-System wieder abgeschaltet. Man kehrt also zum manuellen Betrieb zurück. Wie gesagt: Diese ERP-System haben gar nicht den Anspruch, jedes spezielle Problem lösen zu können.

Sie bezeichnen besagte Addon-Systeme nicht als Werkzeug, sondern als Waffe. Wieso?

Kemmner Diese Systeme haben ein Problem: Die Mathematik, die im Hintergrund abläuft, ist ziemlich komplex. Der Anwender muss sich dennoch zurechtfinden, also eine verständliche Bedienungsoberfläche vorfinden. Das ist nicht immer so einfach zu bewerkstelligen. Deswegen bezeichne ich diese Systeme als Waffen: Wenn man sie unbedarft einsetzt, verbrennt man sich schnell die Finger daran.

Willkür und geschönter Bedarf

Ihrer Ansicht nach müssen die Planungsprozesse durchgängig und abgestimmt sein. Im Kontext also: Das Unternehmen soll sich nach der Software richten.

Kemmner; Im Gegenteil: Es ist eher ein Problem, dass Unternehmen sich noch zu stark nach der Software richten. Das ist zwar in gewisser Weise verständlich: Es ist teuer, die Software anzupassen. Aber im Endeffekt müssen Sie natürlich zuerst die Prozesse definieren und im Anschluss dann die Software anpassen. Eine Software, die nicht angepasst wurde, bremst letzten Endes die Effizienz.

Was meinen Sie dann mit durchgängigen Prozessen?

Kemmner: Damit ist gemeint, dass Unternehmen einen in sich konsistenten, vollständigen Planungsprozess brauchen. Um das anhand eines Beispiels zu erklären: Einmal im Jahr findet eine Umsatzplanung für die kommenden 12 Monate statt. Dabei der geht der Vertrieb davon aus, dass man ungefähr dasselbe Ergebnis wird in der vorangegangenen Periode erzielen könnte, unter Umständen sogar ein etwas Schlechteres - etwa um 10 Prozent schlechter. Mit dieser Prognose trauen sich die Verantwortlichen erst gar nicht in das Planungsgespräch. Schlussendlich erhalten sie die Vorgabe, 10 Prozent besser zu sein - wozu gibt es sonst den Vertrieb? Somit existieren drei verschiedene Planungen: Sowohl die offizielle Planung, die ein Wachstum von 10 Prozent vorsieht, als auch die Meinung des Vertriebs, zumindest dasselbe Ergebnis wie im Vorjahr zu schaffen, sowie die faktische Erwartung, die irgendwo darunterliegt. Sie können sich sicher sein, dass sich der Leiter der Disposition beizeiten beim Chef des Vertriebs erkundigt wird, worauf man sich nächstes Jahr einstellen muss - was soll er dann schon sagen?

Welche Auswirkung hat dies auf den Lagerbestand?

Kemmner: Wir stellen recht häufig fest, dass Unternehmen gar nicht versuchen, den Marktbedarf zu erkennen, also eine Prognose zu erstellen - ganz gleich, ob sie manuell oder mit Software erstellt wird. Es steht vielmehr die Frage nach der eigenen Planung im Raum. Dementsprechend werden die Bedarfe geschönt. Und aus dieser Bedarfsplanung ergeben sich dann, wenn man das konsequent durchrechnet, die Überbestände, weil das Material eben doch nicht so abfließt, wie man das vorher im Planungsprozess aufgesetzt hat.

Geschönte Bedarfe verhindern folglich einen durchgängigen Prozess?

Kemmner: Wenn sich jemand lieber an seiner Erfahrung anstelle eines Systems orientiert, also Werte eigenständig ändert, wird die Planungskette dadurch unterbrochen. Den Verantwortlichen in den Unternehmen ist es manchmal gar nicht bewusst, dass die Planung nicht konsequent von oben nach unten durchgeführt wird. Wobei ich auch sagen muss: nicht durchgeführt werden kann.

Was meinen Sie damit?

Kemmner: Eingriffe erfolgen ja nicht nur aus Willkür der Sachbearbeiter, sondern sind manchmal notwendig, weil die Werte von oben schlicht nicht der Realität entsprechen.

Es macht dennoch einen Unterschied, ob die Entscheidung von der Geschäftsführung oder von einem Sachbearbeiter stammt.

Kemmner: Ich weise immer wieder gerne darauf hin, dass Sacharbeiter mitunter Entscheidungen treffen, für die der Geschäftsführer, gemessen an der Summe und dem Fehlerpotenzial, den Beirat beziehungsweise den Aufsichtsrat einbeziehen müsste. Es ist erstaunlich, was auf den unteren Ebenen relativ locker durchläuft, weil sich niemand darüber Gedanken macht. (svo/cfo)

Der Logistik-Guru

Foto: Abels & Kemmner GmbH

Prof Götz-Andreas Kemmner ist geschäftsführender Gesellschafter der Abels & Kemmner GmbH. Er ist zudem Honorarprofessor für Unternehmenslogistik und Supply Chain Management an der Westsächsischen Hochschule Zwickau.