Der Freiberufler möchte nicht namentlich genannt werden. Gerade wurden er und andere über einen Vermittler tätige IT-Freelancer aus den Büros des Auftraggebers abgezogen. Sie arbeiten weiter, aus ihrem eigenen Büro, dem Home office oder bei der Vermittlungsagentur. Mails, Telefonate und Meetings laufen nur noch über eine Kontaktperson beim Vermittler, damit Endkunde und IT-Freelancer nicht mehr direkt kommunizieren. Das kostet Zeit und Geld und ist ein Beispiel ist für die große Nervosität rund um das Thema Scheinselbständigkeit.
Das Thema ist schwierig, weil eine klare gesetzliche Regelung fehlt: Der 1999 eingeführte Kriterienkatalog wurde 2003 wieder aus dem Gesetz gestrichen. Auch bei den Begrifflichkeiten muss man aufpassen, warnt Rechtsanwalt Benno Grunewald: "Zum einen geht es darum, ob jemand sozialversicherungspflichtig ist. Auch wenn er das nicht ist, kann er rentenversicherungspflichtig sein. Das sind die so genannten arbeitnehmerähnlichen Selbständigen." Streng genommen bezeichnet man nur die erste Gruppe als Scheinselbständige, doch häufig beziehen sich Diskussionen und Artikel auch auf arbeitnehmerähnliche Selbständige.
Verstärkte Prüfung von ITlern
Grunewald, der auf IT-Freiberufler spezialisiert ist, beobachtet seit zwei bis drei Jahren, " dass die Rentenversicherung verstärkt versucht, aus IT-Selbständigen Angestellte zu machen." Diese Einschätzung teilt Rechtsanwalt Michael Felser, der mehr als 100 freie IT-Berater beraten und vertreten hat, die bei der Telekom im Einsatz waren: "Die Rentenversicherung hat offensichtlich momentan die IT-Branche für sich entdeckt. Immer, wenn es entsprechende Urteile gibt, wird die Rentenversicherung mutiger und rollt eine ganze Branche auf." Eine Sprecherin der Deutschen Rentenversicherung Bund schreibt: "Schwerpunktmäßige Arbeitgeberprüfungen in Bezug auf bestimmte Branchen führt der Betriebsprüfdienst der Deutschen Rentenversicherung Bund nicht durch." Vielmehr würden die Beschäftigungsverhältnisse von IT-Profis wie andere Beschäftigungsverhältnisse im Rahmen der turnusmäßigen, alle vier Jahre bei jedem Arbeitgeber stattfindenden Prüfungen betrachtet.
Daneben können Arbeitgeber und Freelancer selbst ein so genanntes Statusfeststellungsverfahren einleiten. 2011 wurden branchenübergreifend 34.500 freiwillige Anfragen bearbeitet und abgeschlossen, in 39 Prozent der Fälle wurde eine abhängige Beschäftigung angenommen. 2012 wurden von 29.500 Anfragen 41,7 Prozent als scheinselbständig beurteilt. 2013 lag die Scheinselbständigkeits-Quote schon bei 45,7 Prozent ( bei 29.200 Anfragen), ein Anstieg um 6,5 Prozent binnen zwei Jahren. Ob diese Quote auch auf die IT zutrifft, lässt sich nicht überprüfen. Branchenspezifische Zahlen erhebe man nicht, so die Rentenversicherung. Laut Rechtsanwalt Felser ist es "gerade bei ITlern fast unmöglich, dieses Verfahren durchzuführen und von der Rentenversicherung als selbständig anerkannt zu werden."
Bis zum Sozialgericht
Rechtsanwalt Grunewald sagt über den Prüfprozess der Rentenversicherung: "In der ersten Runde fällt die Rentenversicherung oft das Urteil, dass der Freiberufler scheinselbständig ist. Legt man Widerspruch ein, entscheidet ein Gremium von drei Personen über den Fall. Selten ändert sich hier etwas am ersten Urteil. In der Regel kommt es dann zum Verfahren vor dem Sozialgericht, weil Auftraggeber sonst zahlen müssten." Beim Thema Sozialversicherungspflicht selbständiger IT-Berater habe er noch keinen Fall vor dem Sozialgericht verloren, sagt der Rechtsanwalt. Er vergleicht den Prüfprozess mit einem Puzzle: "Man braucht jedes Puzzleteil, um das Gesamtbild zu kennen. Die Rentenversicherung pickt sich oft genau die Punkte heraus, die für eine Abhängigkeit sprechen. Dabei muss man das gesamte Bild betrachten, auch jede kleine Nuance."
Das mit den Nuancen kann der eingangs erwähnte Freiberufler, der seit etwa zehn Jahren im süddeutschen Raum als selbständiger Berater und Programmierer arbeitet, bestätigen. Vor wenigen Jahren schickte die Rentenversicherung nicht wie gewohnt die Renteninformation, sondern stellte Fragen zu Beitragslücken. Als er antwortete, dass er selbständig sei, begann die Prüfung. Der Zeitaufwand habe sich im Rahmen gehalten, doch es habe Nerven gekostet, erinnert er sich. Mit Unterstützung eines Anwaltes füllte er den Fragebogen aus und stellte die Unterlagen zusammen, etwa archivierte Projektanfragen über Gulp und Xing, mit denen er seine Marktpräsenz belegen konnte. Seine Selbständigkeit wurde bestätigt, auch Rentenversicherungspflichtig ist er nicht. "Das Thema ist für mich nicht vom Tisch. Es kann ja sein, dass ich wieder geprüft werde", sagt er. Er achtet weiter darauf, sich konsequent als Unternehmer zu positionieren.
Was Scheinselbständige zahlen müssen
Im Falle einer festgestellten Scheinselbständigkeit hätte es so ausgesehen: "Freiberufler müssen die Sozialversicherungsbeiträge nicht nachzahlen. Es kann aber an anderen Stellen zu Nachzahlungen kommen, zum Beispiel bei der Steuer", erläutert Rechtsanwalt Felser. Auch wenn der Endkunde einen Freiberufler fest anstelle, könne es zu bösen Überraschungen kommen. Etwa, wenn der neue Arbeitgeber die gezahlten Honorare rückwirkend mit dem im Betrieb üblichen Stundensatz vergleichbarer Arbeitnehmer verrechne. Noch komplizierter kann es werden, wenn "Rentenversicherung, Finanzamt, Sozialgericht und Arbeitsgericht unterschiedlich über eine Selbständigkeit urteilen", so Felser."In allen IT-Berufen kann man auch als Selbständiger arbeiten. Der Knackpunkt ist, dass Unternehmen die IT-Experten in der Praxis wie Arbeitnehmer behandeln. Dabei muss es eine klare Abgrenzung geben. Selbständige sind nicht an einen Ort gebunden und teilen sich ihre Zeit frei ein," erläutert Michael Felser.
IT-Freelancerin Jutta Mumbächer-Lauer, die aktuell über den Vermittler Etengo bei einem DAX-Konzern arbeitet, nennt Beispiele, wie die Trennung erfolgreich praktiziert wird: "Verschicke ich Mails, ist in der Signatur klar erkennbar, dass ich externe Mitarbeiterin bin. In vielen Firmen gibt es eine räumliche Trennung zwischen Festangestellten und Freelancern."Mumbächer-Lauer spricht unaufgeregt über das Thema, mit dem sie in zehn Jahren Freiberuflichkeit nicht in Berührung kam. Sie hat sich früh mit ihrer Steuerberaterin ausgetauscht und achtet auf ein unternehmerisches Auftreten. Natürlich geht das Thema auch an Unternehmen nicht vorbei: Daimler etwa unterzieht "alle Beauftragungen einer gründlichen Überprüfung. Das betrifft auch das Thema Scheinselbständigkeit. Unternehmen oder Dienstleister, die wir beauftragen, müssen nach unseren sozialen Standards zur Vergabe von Werk- und Dienstverträgen erklären, dass eventuelle Fälle von Scheinselbständigkeit geprüft und dadurch verhindert werden", so das Statement aus der Daimler-Kommunikation.
Missbrauch im Niedriglohnsektor
Auch die Vermittlungsagenturen haben das Thema auf dem Radar: "Wir haben unseren Kunden und Freelancern gegenüber die Pflicht, ihnen maximale Sicherheit beim Thema Scheinselbständigkeit zu gewährleisten", betont Nikolaus Reuter, Vorstandschef von Etengo. Der IT-Personaldienstleister klärt darüber auf, dass die Freelancer augenfällig von den Angestellten unterscheidbar sein müssen. "Sie haben keinen Anspruch auf freien Kaffee und subventioniertes Mittagessen und sollten idealerweise in getrennten Büros sitzen", so Reuter. Freelancer werden nur vermittelt, wenn ihr Stundensatz mindestens bei 40 Euro liegt. Nach zwei Jahren im Projekt bietet Etengo einen Freiberuflertausch an."Allerdings ist jemand noch lange nicht scheinselbständig, weil er zwei Jahre lang in einem Projekt gearbeitet hat. Architekten auf Großbaustellen wird nach so einem Zeitraum doch auch nicht vorgeworfen, dass sie scheinselbständig sind", sagt Reuter.
Er fordert eine Unterscheidung "zwischen Hype und Realität. Das Thema ist in den Medien präsent und wird auch immer wieder von unseren Kunden angesprochen. Doch wir hatten seit fünf Jahren bei mehreren tausend Einsätzen keinen Fall von Scheinselbständigkeit", sagt er. Die Fälle, die in den Medien viel Aufmerksamkeit bekommen, seien hochgekocht, weil die Freelancer sich individuelle Vorteile verschaffen wollten, etwa eine Festanstellung im chronischen Krankheitsfall, behauptet Reuter. Er könne nicht bestätigen, dass die Rentenversicherung verstärkt auf IT-Freelancer zugeht. Reuter fordert, die Frage nach der Selbständigkeit am Geld festzumachen: "Kann jemand von dem Umsatz, den er erwirtschaftet, leben und hat genug Geld für Kranken- und Altersvorsorge, sollte die Diskussion um Scheinselbständigkeit aufhören."
Auch Andreas Lutz, Vorstand des Verbandes der Gründer und Selbständigen (VGSD), wünscht sich eine stärkere Konzentration auf Geringverdiener: "Im Niedriglohnsektor müssen Menschen mit extrem niedrigen Honoraren Kredite aufnehmen, um auch noch ein Auto stellen zu können. Die Rentenversicherung sollte sich lieber auf den Bereich konzentrieren, in dem Missbrauch mit Selbständigkeit wirklich stattfindet. Stattdessen hat sie die ITler im Visier, um ihre hohen Beiträge einzuheimsen." Nachdem Pläne zur Rentenpflicht für Selbständige erst mal vom Tisch seien, scheint Lutz, als wolle die Rentenversicherung mit aller Macht Selbständige über den Verwaltungsweg zwingen, in die gesetzliche Rentenversicherung einzuzahlen.
Aktuelle Gerichtsentscheidungen hätten große Auftraggeber verunsichert, so Lutz: "Unsere Mitglieder erzählen, dass sie wegen dieser Unsicherheit Aufträgeverlieren. Selbst wenn die Beauftragung über einen Vermittler läuft, haben Firmen Angst davor - obwohl sie nicht direkt Auftraggeber sind und nichts zu fürchten haben." Das habe zur Folge, dass Einzelkämpfer Aufträge verlieren und Unternehmen nicht mehr die Spezialisten finden, die sie benötigen.
Zeitarbeit ist keine Option
Auch der Freelancer, der anonym bleiben möchte, hat erlebt, dass er Aufträge nur über Arbeitnehmerüberlassung erhalten hätte. "Ich werde versuchen, so lange wie möglich selbständig zu bleiben. Aber nicht unter allen Umständen. Arbeitnehmerüberlassung ist für mich keine Option", sagt er. Trotz Verunsicherung, nervenzehrenden Auseinandersetzungen mit der Rentenversicherung und Alltagsschikanen wie der gekappten Kommunikation zwischen Freelancern und Endkunde - Freiberufler wie er sind gern selbständig und möchten es auch bleiben. Die Forderung nach einer sinnvollen und klaren gesetzlichen Regelung kommt in den Gesprächen immer wieder auf - damit die IT-Freiberufler endlich wieder unbeschwerter arbeiten können.
So prüft die Rentenversicherung
Im ersten Schritt prüft die Rentenversicherung, ob jemand sozialversicherungspflichtig ist oder nicht. Falls ja, muss der Auftraggeber für maximal vier Jahre rückwirkend Sozialversicherungsbeiträge bezahlen.
Ergibt sich bei der Prüfung, dass jemand selbständig ist, wird im zweiten Schritt geprüft, ob eine Rentenversicherungspflicht besteht, also ob derjenige ein arbeitnehmerähnlicher Selbständiger ist.
Ergibt die Prüfung, dass eine Rentenversicherungspflicht besteht, muss der Selbständige selbst Rentenversicherungsbeiträge für maximal vier Jahre nachzahlen. (So erläutert von Benno Grunewald)
Statusfeststellungsverfahren
Rechtsanwalt Michael Felser: "Man muss genau analysieren, ob man ein Statusfeststellungsverfahren anstoßen sollte. Gerade bei ITlern ist es fast unmöglich, dies durchzuführen und von der Rentenversicherung als selbständig anerkannt zu werden. In vielen Fällen kann das ein Schuss ins Knie sein. Sinnvoll kann das Statusfeststellungsverfahren dann sein, wenn bei einem ITler die arbeitnehmerähnliche Selbständigkeit festgestellt wird. In dem Fall muss man für die vergangenen fünf Jahre die Beiträge für die Rentenversicherung nachzahlen. Dann sollte man darüber nachdenken, ob eventuell sogar eine Scheinselbständigkeit vorliegt. Dann müsste der Auftraggeber zahlen, und man selbst ist raus aus der Geschichte."