Die deutschen Heulsusen

Protest gegen das Lieferkettengesetz

Kommentar  von Peter Marwan
Dagegen zu sein, ist derzeit in Deutschland groß in Mode. Ist ja auch praktisch, dann müssen sich die Anderen ändern und nicht man selbst. Die Wirtschaft sollte da jedoch nicht mitmachen, sondern lieber Initiative zeigen – etwa jetzt beim Lieferkettengesetz.
"Raus aus der Excel-Steinzeit, raus aus der Komfortzone und Schluß mit dem Selbstmitleid" fordert ChannelPartner-Redakteur Peter Marwan angesichst der aktuellen Proteste von Wirtschaftsverbänden gegen das Lieferkettengesetz.
Foto: Armin Weiler

Große Aufregung um das Lieferkettengesetz (eigentlich Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz / LkSG). Ein breites Bündnis von deutschen Wirtschaftsverbänden hat sich in einem Schreiben an die Bundesregierung und die aktuelle belgische EU-Ratspräsidentschaft gewandt und fordert den Stopp des Lieferkettengesetzes. Gerade mittelständische Unternehmen würden durch verschärfte Regelungen überlastet, man verlange ihnen "teils Unmögliches" ab.

Wie üblich geht das Gezeter richtig los, wenn das Kind schon in den Brunnen gefallen ist. Erstmals beraten wurde im Bundestag über das Lieferkettengesetz im April 2021. Verabschiedet wurde das Gesetz in Deutschland im Juni 2021. Ab 1. Januar 2023 galt es für große Unternehmen mit mehr als 3.000 Beschäftigten (das sind je nach Quelle zwischen 600 und 900 Unternehmen in Deutschland). Ab dem 1. Januar 2024 kamen Unternehmen mit mehr als 1.000 Beschäftigten hinzu (knapp 3.000 bis 4.800 Unternehmen in Deutschland).

Allerdings hatten die Verbände schon 2021 dagegen gewettert. So beklagte etwa im März des Jahres der BGA (Bundesverband Großhandel, Außenhandel, Dienstleistungen) damals: "Die in dem Entwurf enthaltenen Sorgfaltspflichten sind deutlich umfassender und gehen über die UN-Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte klar hinaus." Der Verband fürchtete - sicher zu Recht - zudem: "Große Unternehmen werden ihre Pflichten eins zu eins an kleinere Geschäftspartner weiterreichen."

Bürokratieaufwand überschätzt

Eine erste Bestandaufnahme des Institut für Information & Supply Chain Management (iSCM) im Januar 2023 zeigte jedoch, dass der Bürokratieaufwand überschätzt worden war. In einer Umfrage wurde Aussagen zum LkSG wie "verkompliziert Logistik" und "deutlicher Mehraufwand" dagegen deutlich häufiger genannt. Dr. Rudolf Aunkofer, Direktor am iSCM, erklärte sich das folgendermaßen: "Aufgrund dieser Aussagen scheinen folgende Annahmen gerechtfertigt: Dass sich die Branche verstärkt mit neuen Aspekten ihrer Lieferketten beschäftigt. Und dass in der Vergangenheit die Fokussierung auf Kosten und Effizienz doch manchen Kollateralschaden wissentlich wie unwissentlich - bzw. nicht wissen wollend - in Kauf genommen hatte, um aus Wettbewerbssicht im internationalen Kontext bestehen zu können."

Es gibt sie also - die Unternehmen, die sich neuen Herausforderungen nicht nur auf Powerpoint-Folien stellen, sondern auch in der Realität. Die versuchen, das Beste aus den gegebenen Umständen zu machen.

Es fehlt an der Transparenz

KPMG hatte vor dem Inkrafttreten am 1. Januar 2023 festgestellt, das "umfassende Transparenz" eine wichtige Voraussetzung ist, um die vom Lieferkettengesetz auferlegten ESG-Kriterien erfüllen zu können. "In vielen Unternehmen ist diese Transparenz noch nicht bzw. nur teilweise vorhanden oder wird nicht vollumfänglich genutzt. Informationen über die eigenen Lieferketten basieren häufig auf Selbstauskünften der Lieferanten und langen Excel-Tabellen", so die Beratungsgesellschaft.

"Excel-Tabellen"! Menschen, die Excel-Tabellen pflegen, fürchten durch ein neues Gesetz einen erheblichen Mehraufwand. Fast könnte man sagen: Geschieht ihnen recht.

Anbieter von Software und Cloud-Lösungen zum Management der Lieferkette weisen seit Jahren darauf hin, dass die Gesetzesvorhaben zur Lieferkette nicht als Belastung, sondern als Chance gesehen werden sollten, das Supply-Chain-Management (endlich) zu optimieren.

Nicht mitmachen, ist keine (gute) Option

In einer von OpenText beauftragten Studie hatten etwa Verbraucher durchaus Bereitschaft gezeigt, für höhere ethische und ökologische Standards bei der Produktion auch mehr zu bezahlen. Andersherum drohen Unternehmen, die solche Standards nicht erfüllen, mittelfristig in eine Außenseiterposition gedrängt zu werden. Sie könnten Schwierigkeiten bekommen, dieselben Preise fordern wie Unternehmen, die sie erfüllen.

„Die Chance 'Lieferkettengesetz“' gilt es zu nutzen, die ITK-Branche sollte auch vor dem Hintergrund 'zusätzliche Umsatzpotenziale' die branchenübergreifende Einführung in Industrie und Handel aktiv unterstützen“, warb Rudi Aunkofer, Direktor am iSCM Institute, im Januar 2023.
Foto: iSCM Institute

Wem schon die Kunden egal sind, der könnte sich wenigstens an den Banken orientieren. Bereits 2019 wies die Ratingagentur Standard & Poor's darauf hin, dass ESG-Kriterien bei der Kreditbewertung von Unternehmen künftig wichtiger werden.

Nicht zuletzt wirkt das aktuelle Lamento etwas hilflos, weil Deutschland weder Vorreiter noch Geisterfahrer ist: Zahlreiche Länder außerhalb der EU - neben den USA unter anderem auch Australien, China, Indien, Brasilien, Südafrika, Norwegen und die Türkei - haben bereits Regeln für Transparenz und Überwachung der Lieferkette erlassen. Unternehmen, die mit diesen Ländern Geschäfte machen, müssen sich also über kurz oder lang ohnehin Gedanken über eine transparente und effiziente Verwaltung und Dokumentation ihrer Lieferkette machen - zusätzlich zur Excel-Tabelle.

Aufwand lohnt sich

Experten wie Carla Everhardt von Rödl & Partner sehen zwar ebenfalls den Aufwand, betonen aber auch die positiven Aspekte: "Wenngleich die Anforderungen des Lieferkettengesetzes vielen Unternehmen derzeit als unübersichtlich und kaum beherrschbar erscheinen, birgt der neue, künftig wohl europaweit gültige Rechtsrahmen für ver­ant­wort­liches unternehmerisches Handeln in der Lieferkette, auch großes Potenzial", schrieb Everhardt 2022.

Neben Deutschlan dun der E haben viele wichtige Länder bereits unterschiedlich weitgehende Lieferkettengesetze - ein Grund mehr, bei deren Bewältigung auf Softwre oder Cloud-Services zu setzen.
Foto: Rödl & Partner

Zum einen werde ein ein­heit­licher Sorgfaltsstandard die in der EU bereits existierenden Gesetze zu einem einheitlichen Rechtsrahmen zu­sammen­führen. "Zum anderen schlagen sich in der deutschen und perspektivisch auch in der europäischen Lieferketten­gesetzgebung die bei­den Mega-Trends der letzten Jahre nieder: Digitalisierung und Nachhaltigkeit. Deutsche Unternehmen haben die Gelegenheit, hier an der Schaffung eines vielleicht sogar branchenübergreifenden Standards für einen zu­kunftsfähigen Welthandel mitzuwirken."

Everhardt riet Unternehmen damals: "Auch vor dem Hintergrund zunehmender geopolitischer Risiken für das internationale Geschäft, von dem besonders die deutsche Wirtschaft stark profitiert, tun deutsche Unterneh­men gut daran, möglichst bald ein effektives global einsetzbares Risiko­managementsystem zu eta­blieren - auch, aber nicht nur in Bezug auf die neuen Sorgfaltspflichten des LkSG."

Die "Aussitzer" nerven

Statt ihre Lieferketten durchgängig zu digitalisieren, hofft die deutsche Industrie in weiten Teilen wie in den vergangenen Jahren üblich darauf, dass es erstens schon nicht so schlimm kommen werde wie befürchtet - und wenn doch, dass Jammen und Briefe an Regierung und EU-Ratspräsidenten Abhilfe schaffen. Hat ja bei DSGVO und zahlreichen anderen Regelungen auch einigermaßen geklappt. Wenn es nicht so traurig wäre, könnte man sich hier lange über den "Brief" auslassen und fragen, warum nicht wenigsten ein Fax geschickt wird.

Es ist aber traurig. Statt Initiative zu ergreifen, mutieren deutsche Unternehmen zu Jammerlappen, die sich einerseits staatliche Einmischung verbitten, andererseits bei jeder Gelegenheit nach Unterstützung, Fristverlängerung und Sonderregelungen ruft (die ja auch überhaupt keinen bürokratischen Aufwand mit sich bringen).

Und es geht doch ...

Wobei ich hier unfair werde. Es gibt schließlich lobenswerte Ausnahmen. Im Channel fallen mir spontan drei prominente ein: Also hat sich 2022 verpflichtet, Nachhaltigkeit in seinen Statuten zu verankern, Ingram Micro hat im Sommer 2023 einen Bericht zu den 2022 eingeführten ESG-Zielen vorgelegt und TD Synnex hat im Februar 2023 seinen ersten Corporate-Citizienship-Bericht vorgelegt.

Allen dreien mangelt es ja nun nicht gerade an Lieferanten und Komplexität in der Lieferkette. Alle drei haben sicher noch ein Stück vor sich, um alle Aspekte der geforderten und sich weiterentwickelnden Anforderungen an Transparenz und Nachweispflichten in der Lieferkette zu erfüllen. Aber sie haben sich auf den Weg gemacht - statt sich hinzusetzen und Briefe zu schreiben.

Raus aus der Excel-Steinzeit!

Vielleicht hilft den Verbänden, die sich jetzt beklagt haben, ein Blick in die Geschichte. Ganz weit zurück, bis zur neolithischen Revolution - der Zeit also, in der sich die ersten Menschen von nomadisierenden Jägern und Sammlern zu sesshaften Ackerbauern und Viehzüchtern entwickelten, die schließlich die ersten Städte gründeten.

Das lief allerdings keineswegs so glatt, wie man lange angenommen hat: Der zusätzliche Aufwand und die entstehende Bürokratie machten das Leben der ersten Bauern ganz schön mühsam. Allerdings gelang es ihnen, nachdem die ersten Schwierigkeiten überwunden waren, zum Beispiel, Pyramiden, Tempel oder Monumente zu bauen, die heute immer noch stehen und immer noch beeindruckend sind.

Manche sagen, dass hätten sie ohne außerirdische Hilfe nicht geschafft. Vielleicht wird man das später auch einmal von den Firmen sagen, die Anfang des 21. Jahrhunderts die Prozesse ihrer Lieferkette digital abgebildet und sie damit transparent gemacht haben. Ob es dann aber analog zu den 10.000 Jahren nach der neolithischen Revolution heute noch existierenden, nomadisch lebenden Völkern wie den Afar, Himba oder Nenzen noch versprengte Gruppen geben wird, die ihr Überleben sichern, indem sie die Grenzen von Excel-Tabellen ausreizen, wage ich zu bezweifeln.

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