Unternehmen sollten sich auf jede Menge Veränderungen einstellen, die noch dazu in immer höherer Frequenz auftreten. Ist das Steuerungssystem Ihrer Organisation wirklich darauf eingerichtet und in der Lage, sich auf laufend ändernde Rahmenbedingungen einzustellen?
Ein Appell zur radikalen Vereinfachung
Starten wir mit einigen wichtigen Grundannahmen: Steuerung im Sinne dieses Artikels ist das aktive Lenken einer Organisation auf ein klar bestimmtes Ziel hin. Eine Kernaufgabe von Führung ist, solche Steuerung sicher zu stellen. Externe Komplexität kann nicht beherrscht und nur eingeschränkt reduziert werden. Die interne Komplexität von Organisationen wächst von selbst - analog zur Entropie sich selbst überlassener Systeme (denken Sie an ausuferndes Berichtswesen oder das langsame Ausfransen definierter Prozesse).
Die Beschleunigung des Wandels bzw. zunehmende Änderungsfrequenz führt zu höherer Ungewissheit, wie das relevante Umfeld zukünftig aussieht, wie die Organisation sich darauf anpassen soll und welche Steuerung für diese Anpassung am besten geeignet ist. Ein einfaches Steuerungssystem kann schneller und besser auf Veränderungen reagieren und gegebenenfalls angepasst werden als ein komplexes.
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Die daraus folgenden Kernanforderungen bildlich stark vereinfacht und zusammengefasst: Wenn sich die Wetterlage häufiger und schneller ändert, sind auf unbeherrschbarer See Wetterprognosen weniger hilfreich als die Fähigkeit, das Schiff und die Crew vorzubereiten und gut zu navigieren.
Steuerung von Grund auf gedacht
Natürlich lassen sich laufende (und möglicherweise leidlich funktionierende) Systeme nicht einfach umkrempeln. Aber zweifellos hilft es zur Richtungsgebung, sich grundsätzlich Gedanken zu machen, was an Steuerung unter den oben genanten Voraussetzungen eigentlich gebraucht wird - wie wir sie aufbauen würden, wenn wir auf der berühmten "Grünen Wiese" starten würden. Die Ergebnisse werden dabei im Detail so vielfältig und unterschiedlich sein wie die Organisationen untereinander.
In unserem Team sind wir auf Basis unserer Beobachtungen und Erfahrungen im Beratungsalltag zu folgendem konzeptionellen Gerüst gekommen, mit dem wir bestehende Steuerungssysteme konfrontieren und mit dessen Hilfe wir bedarfsgerecht anpassen oder neu aufbauen:
1. Ausgewählte Leitplanken
Steuerung beginnt mit einer organisationsweit verstandenen Strategie, die klar und eindeutig den Weg zu einem ebenso prägnanten Zielbild zeichnet. Das Zielbild beschreibt einen grundsätzlich erreichbaren zukünftigen Zustand, die Strategie fasst die zur Zielerreichung notwendigen Handlungen der Organisation zusammen. Mangelnde Trennschärfe oder Prägnanz der beiden führt später unweigerlich zu Schwierigkeiten in der Umsetzung.
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Die zu gestaltende Steuerung hat keinen Selbstzweck sondern ist zwingend auf die Strategie ausgerichtet. Wenn sich Strategien im Zeitablauf ändern während Steuerungssysteme konstant bleiben, läuft etwas falsch! Für Strategie und Steuerung gilt gleichermaßen: So einfach wie möglich, so detailliert wie nötig. Kleiner und einfacherer bedeutet leichter anpassbar.
Führung und Strategieumsetzung sind vorwärts gerichtet, nicht rückwärtsgewandt. Ein Steuerungssystem ist genauso wenig in Stein gemeißelt wie eine Strategie: Beide gehören regelmäßig auf den Prüfstand, müssen angepasst und verbessert, gegebenenfalls auch ersetzt werden. Eine Steuerung ohne eingebaute Mechanismen zur kontinuierlichen Verbesserung wird scheitern.
Steuerung baut auf Rollen und Prozesse, die abhängig sind vom gewählten Organisationsmodell (z.B. agile Organisation vs. klassische Strukturen). Je klarer die Rollen mit ihren Verantwortungen und Kompetenzen definiert und je konsequenter sie umgesetzt werden, desto einfacher, kürzer und schneller werden Prozesse - und desto leichter lassen sie sich auf neue Anforderungen anpassen.
Rollen sind dabei wesentlich stabiler als Abläufe: Eine Organisation mit klaren Rollen aber ohne definierte Prozesse wäre (zunächst) umständlich aber grundsätzlich handlungsfähig. Prozesse ohne klare Rollenverteilung werden scheitern, weil sie nicht umgesetzt und nicht verbessert werden.
Wir denken in Aufgaben und Rollen - nicht in Jobs. Das erfolgreiche Wahrnehmen der Aufgaben einer Rolle setzt bestimmte Kombinationen von Skills/ Qualifikationen voraus, die sich ändern können. Ein Beispiel: Das Überwachen von Unternehmensgrundsätzen und gesetzlichen Vorgaben an das Rechnungswesen kann in einer Rolle gebündelt sein oder auch nicht. Die Rolle kann von einer bestimmten Person oder von einem Arbeitskreis ausgefüllt werden, mit oder ohne Rotation, etc.
Führungsrollen, egal welcher Ebenen, beinhalten in diesem Gerüst immer die eindeutige Gestaltungs- und Entscheidungsverantwortung (accountability) für strategische Ausrichtung, handlungsorientierte Steuerung und organisatorische Fähigkeit zur kurzfristigen Anpassung. Das beinhaltet die bestmögliche Befähigung und Nutzung der Mitarbeiter zur Mitarbeit, Kontrolle und Verbesserung bei der Steuerung der Organisation - inklusive der Anreizsysteme!
Funktions- und hierarchieübergreifende Arbeitsgruppen haben wesentlich bessere Chancen zu kreativer Komplexitätsbewältigung sowie Vereinfachung und strategiegerechter Anpassung der Steuerung. "Geschäftsführungsenklaven" haben in der Regel Schwierigkeiten, einen großen Schritt zurückzugehen und mit dem nötigen Abstand radikal neu zu denken.
2. "Minimum Viable Steering"
Nicht zufällig fasst ein an agile Konzepte angelehnter Name unser Gerüst am besten zusammen: "Minimum viable" bezeichnet die kleinst- und schnellstmögliche pragmatische Lösung. Pragmatismus und Geschwindigkeit sind dabei wichtiger als Perfektion. Wille und Fähigkeit zu mutigen Piloten, aggressivem Testen und iterativer Anpassung sind gewünscht - Rechtfertigung und Absicherung für Schuldzuweisungen sind als Verschwendung von Zeit- und Ressourcen zu ächten. Auch hier die Analogie zu "Lean Agile" Konzepten: "Waste is a crime".
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Anmerkung: Wenn extremes Detail-Reporting und Absicherung dennoch die "politische Realität" beschreiben, ist die Organisation als System auf Bestandswahrung statt auf Strategieumsetzung ausgerichtet - sie hat dann nicht nur ein Steuerungs- sondern ein massives kulturelles Problem.
Betrachtungsfeld (Scope) für ein "Minimum Viable Steering" (MVS)
Zunächst gibt es die offensichtlichen Pflichtbestandteile, die aus gesetzlichen und vertraglichen Rahmenbedingungen erwachsen: Handels- und steuerrechtliche Ansprüche an das Rechnungswesen, Regelungen der Mitbestimmung, der Sozialversicherung sowie aus Tarifverträgen, um nur einige zu nennen. Reine Dokumentationspflichten sind hier nicht Gegenstand der Betrachtung, aber alles was rahmensetzende Wirkung auf die Strategieumsetzung entfaltet, muss und soll offensichtlich Teil der Steuerung sein - nennen wir es ein Pflichtfundament.
Jenseits des Pflichtfundaments gibt es zwei wesentliche Betrachtungs- und Handlungsfelder der Steuerung:
Die Umsetzung der Strategie
Das Management der langfristigen Wertschöpfung durch die Organisation (Englisch: "Strategy execution" und "long-term value management").
Beide sind untrennbar miteinander verbunden, zeigen in Kombination den Erfolg der Organisation auf und können nur gesamthaft optimiert werden:
Langfristige Wertschöpfung
Die langfristige Wertschöpfung durch die Aktivitäten der Organisation ist der Maßstab, an dem sich alles messen lassen muss - von Kapitaleinsatz über Mitarbeitereinsatz, Anlagen, Ausrüstung, etc. Hier wird letztlich die Frage beantwortet, ob die Organisation eine Daseinsberechtigung hat und wie erfolgreich sie langfristig ist. Ich rede von "Organisationen", weil diese Frage für Non-Profit-Organisationen und für Behörden genauso gestellt werden muss, wie für Unternehmen - nur die Zielsetzung ist eine andere.
Das führt zu einem weiteren Kerngedanken dieses Gerüsts, der nicht neu aber von neuer Bedeutung ist:
Die Beschränkung auf rein monetäre Größen und Kennzahlen wie Umsatz, Kosten, EBIT, RoCE oder Cash Flow greift zu kurz. Diese Erkenntnis liegt zum Beispiel auch dem Balanced-Scorecard-Ansatz zugrunde, der nicht-monetäre Ziele und Messgrößen zur Messung der Strategieumsetzung nutzt (weniger aber zur operativen Steuerung).
Vergessen wird auch regelmäßig, dass die Balanced Scorecard schon in den frühen neunziger Jahren Augenmerk auf Kunden und organisationales Lernen legte - allerdings nicht explizit auf Entwicklung und Nutzung von Mitarbeitern, was definitiv nicht zeitgemäß ist. MVS greift die Mehrdimensionalität der Steuerung auf, nutzt sie aber vor allem für die Betrachtung der langfristigen Wertschöpfung und, darin enthalten, des Ergebnisses der Strategie - nicht für die Steuerung der Strategieumsetzung.
Lesetipp: Kunde zuerst - Mitarbeiter auch
Als Wertdimensionen im MVS-Gerüst eignen sich:
Customer,
Workforce,
Lean & Agile,
Innovation,
Brand und
Monetary.
Die Wertdimension Kunde spricht für sich selbst, "Workforce" beinhaltet neben Angestellten auch freie Mitarbeiter sowie gegebenenfalls Partner im Netzwerk. "Lean & Agile" bewertet die Arbeitsweise und Prozessqualität v. a. nach Lean Agile Kriterien, "Innovation" umfasst sowohl die Fähigkeit als auch den Innovationsweg von der Ideengenerierung bis zum Minimum Viable Product, "Brand" als Kurzbezeichnung für die Außenwahrnehmung der Organisation. Unter "Monetary" lassen sich alle monetären Wert- und Erfolgsgrößen zusammenfassen - sie ist die einzige Pflichtdimension, alle anderen sind nach Bedarf anpassbar.
Innerhalb der Wertdimensionen kommt jeweils ein möglichst kleines aber aussagefähiges (minimum viable) Set von Metriken zum Einsatz, das die Organisation mit Blick auf ihr Geschäftsfeld in funktionsübergreifenden Arbeitsgruppen auswählt. Diese Metriken haben als Kombination zwei Aufträge je Wertdimension:
Steuerungsimpulse für die Führungsrollen liefern und
die langfristige Entwicklung aufzeigen.
Während die Wertdimensionen möglichst stabil bleiben sollten, um eine langfristige Betrachtung zu ermöglichen, sind die Metriken anpassbar und immer wieder Gegenstand von Retrospektiven, Wirkungsanalysen (wie gut waren die Handlungsimpulse?) und kontinuierlicher Verbesserung.
Der Balanced Scorecard wurde wiederholt vorgeworfen, sie konsolidiere ihre Dimensionen nicht zu einer "bottom line", einer monetären Gesamtaussage. Minimum Viable Steering beschränkt sich ebenfalls auf die summarischen Beurteilung je Wertdimension und die Kombination dieser Ergebnisse als Gesamtstatus der Organisation:
Zum einen gebietet der gesunde Menschenverstand, dass sich nicht jeder Erfolg und Wert in Geld messen lässt beziehungsweise dass die Annahmen mit deren Hilfe man diese "in Euro übersetzt" der Aussage die Bedeutung rauben. Zum anderen ist es gerade der Sinn und Zweck einer multidimensionalen Steuerung, die Widersprüche und Wechselwirkungen aufzuzeigen, in deren Spannungsfeld sich strategische Entscheidungen tatsächlich bewegen.
Ein einfaches Beispiel: Eine Investition in hervorragenden persönlichen, das heißt Mensch-zu-Mensch Kundenservice lässt sich unter EBIT-Aspekten kurzfristig kaum rechtfertigen. Ihre Wirkung auf Kundenzufriedenheit und -bindung zeigt sich monetär erst viel später in wachsendem Umsatz oder sogar "nur" gleichbleibendem Umsatz bei der Verteidigung von Marktanteilen in einem schrumpfenden Markt.
Bei gleichzeitiger Betrachtung quantitativer Metriken zur Entwicklung der Kundenbindung und der EBIT-Entwicklung können informierte, die Wechselwirkung abwägende Entscheidungen, getroffen und deren Wirkung gemessen werden. Die komplexe Realität wird vereinfacht (wenige Metriken) aber trotzdem besser gleichzeitig repräsentiert: Führung bekommt relevante Steuerungsimpulse und kann aus ihren Entscheidungen lernen. Richtig spannend wird die Steuerungsfrage bei der Betrachtung von Umweltschädigungen, zum Beispiel des Carbon Footprints. Beziehen Sie geschätzte Externalitäten in Ihre Entscheidungen mit ein? Wie bewerten Sie den Imageschaden? Welche strategische Bedeutung messen Sie der Abwägung von Kosteneinsparung und Schädigung bei?
Strategieumsetzung
Das zweite Betrachtungs- und Handlungsfeld von MVS ist die Umsetzung der Strategie. Deren langfristiger Erfolg lässt sich zwar theoretisch in der langfristigen Wertschöpfung ablesen. Aber zum einen lässt sich dann keine Kausalkette mehr herstellen und kein Steuerungsimpuls mehr ableiten und zum anderen hilft das nicht bei der Übersetzung der Strategie in steuerbare Pakete.
Für diese Steuerung der Strategieumsetzung verwendet MVS Objectives and Key Results (OKR), eine Methode die aufgrund ihrer Plausibilität, Umsetzbarkeit und vor allem motivierenden Wirkung auf die Beteiligten in der Organisation immer mehr Verbreitung findet. Der interessierte Leser findet im Internet unter "OKR" viele und bessere Quellen, die ich hier nicht im Detail wiederhole.
Verkürzt zusammengefasst brechen die Umsetzungsverantwortlichen die "große" Strategie in inhaltlich und zeitlich handhabbare Handlungsgegenstände (Objectives) für deren Umsetzung Teams verantwortlich sind. Diese Teams setzen in Abstimmung mit der strategisch verantwortlichen Führung messbare Erfolgskriterien fest (Key Results), anhand derer sowohl der Fortschritt als auch die erfolgreiche Umsetzung der (Teil-)Strategie bewertet werden kann.
Die Vorteile liegen auf der Hand: Zum einen setzt man sich mit der Strategie kritisch auseinander, deren "Übersetzbarkeit" validiert sie oder zeigt Nachbesserungsbedarf auf (s. Grundannahmen). Weiterhin wird die Lücke zwischen Strategiesetzung und großem Kassensturz am Ende der Laufzeit geschlossen. In kurzen Abständen kann der Fortschritt aussagefähig gemessen werden, Hürden identifiziert und beseitigt werden und die Strategie gegebenenfalls angepasst werden. Und nicht zuletzt: Durch die stetige Fortschrittsmessung kann in Kombination mit der mehrdimensionalen Messung der Wertschöpfung die Wirksamkeit der Strategie beurteilt werden - sowohl kurz- als auch langfristig.
Diese Kombination aus gemessener Strategieumsetzung und mehrdimensionaler Bewertung der Wertschöpfung bietet ein schlankes, umsetzbares und vor allem handlungsorientiertes Gerüst zur Steuerung von Unternehmen und Organisationen - im Sinne eines Minimum Viable Steerings.
Abschließend beschreibt MVS ein konzeptionelles Gerüst (Framework), das gut zu agilen Organisationen und Prinzipien passt. Die rollenbasierte Steuerung ermöglicht eine hohe Beteiligung der Mitarbeiter und eine wesentlich höhere Akzeptanz beziehungsweise Überzeugung bezüglich Strategie und Steuerungsentscheidungen. Gleichzeitig kann die Kombination von funktionsübergreifenden Blickwinkeln und Einsichten die Qualität der Steuerungsentscheidungen erhöhen. (bw)