Karriere ist nicht alles

30.11.2006 von Zettel 
Die Arbeitsbelastung nimmt zu, der Unterschied zwischen Wichtig und Dringend wird kaum noch erkannt. Peter D. Zettel fragt: Lohnt es sich eigentlich, eine Karrierestufe nach der anderen zu erklimmen?

"Mein Alltag wird immer hektischer und stressiger." Diese Klage vernimmt man von vielen Berufstätigen - oft jahrelang. Doch dann zeigen sich die ersten gesundheitlichen Probleme, oder die Beziehung mit dem Partner gerät in eine Krise. Spätestens dann fragen sich viele beruflich stark engagierte Menschen: Welchen Sinn hat das alles? Lohnt es sich, eine Karrierestufe nach der anderen zu erklimmen?

Die Arbeitsbelastung in den Unternehmen steigt. Immer neue Anforderungen müssen erfüllt werden - nicht nur von Führungskräften, sondern von allen Männern und Frauen, die in Unternehmen Verantwortung tragen. Ganz gleich, ob es sich um Projektmanager, Vertriebsexperten oder Produktentwickler handelt.

Vielen beruflich stark engagierten Menschen macht das Leben unter Hochdruck Spaß. Schließlich erwachsen aus den neuen Herausforderungen auch neue Eindrücke und Erfahrungen. Und selbstverständlich freuen sie sich über die - finanzielle und gesellschaftliche - Anerkennung, die sie für ihre Erfolge erhalten. Zunehmend verdichtet sich bei vielen Berufstätigen aber auch das Gefühl: So sehr ich mich auch anstrenge, es gelingt mir immer schwerer, allen Anforderungen gerecht zu werden, die mein Umfeld an mich stellt. Wenn ich im Beruf die geforderte Leistung erbringe, kommt mein Privatleben zu kurz. Wenn ich hingegen meiner Familie und meinen Hobbys die gewünschte Zeit einräume, komme ich beruflich nicht weiter. Ich kann noch so gut mit meiner Zeit haushalten; es bleiben meist genau die Dinge liegen, die wirklich wichtig sind. Denn was in unserem Leben wichtig ist, ist selten dringend.

3 Es ist nie dringend, joggen zugehen. Es wäre aber gut für unsere Gesundheit.

3 Es ist nie dringend, mit den Kindern zu spielen. Es wäre aber positiv für ihre Entwicklung.

3 Es ist nie dringend, sich Zeit für ein Gespräch mit dem Lebenspartner zu nehmen. Es wäre aber wichtig für die Beziehung.

3 Es ist nie dringend, sich zu fragen: "Welchen Sinn hat mein Leben?" Es wäre aber von Vorteil, damit wir nicht in zwei, drei Jahren in eine Sinnkrise geraten.

Im Gleichgewicht bleiben

Weil die wichtigen Dinge nie dringend sind, merken viele beruflich stark belastete Männer und Frauen erst spät: Mein Leben ist nicht im Lot. Oft kommt diese Erkenntnis dann zu spät: Die Ehe ist kaputt, der Kontakt zu den Kindern abgerissen, die beruflichen Schwierigkeiten nehmen zu statt ab. Dann ist auch eine Sinnkrise nicht mehr weit.

Kein Wunder also, dass das Thema Work-Life-Balance seit einigen Jahren einen Boom erlebt. Hierbei geht es im Wesentlichen darum, das Gleichgewicht zwischen den vier Lebensbereichen "Arbeit und Leistung", "Körper und Gesundheit", "Familie und Kontakt" sowie "Sinn und Kultur" zu wahren. Denn sie beeinflussen sich gegenseitig:

3 Wer krank ist, kann weder sein Leben in vollen Zügen genießen, noch ist er voller Leistungskraft.

3 Wer unter Einsamkeit leidet, ist weder "quietschfidel" noch kann er seine Energie voll im Beruf einsetzen.

3 Wer sich im Job nur gehetzt und gestresst fühlt, bringt nach einem Zwölf-Stunden-Tag wenig Geduld für seine Kinder auf.

Das heißt: Nur wer ein Leben im Gleichgewicht führt, ist auf Dauer zufrieden, motiviert und leistungsfähig. Und weil die Unternehmen dies zunehmend erkennen, bieten sie vermehrt Weiterbildungsthemen an, die nicht nur beruflich relevant sind. So organisieren Firmen immer häufiger Rückenschulen und Lauftreffs, damit ihre Mitarbeiter körperlich fit bleiben. Und Zeit- sowie Selbstmanagementseminare sollen ihnen helfen, Höchstleistungen zu bringen und trotzdem noch ein erfülltes Privatleben zu haben.

Kaum berücksichtigt wird bei diesen Fördermaßnahmen häufig der Bereich "Sinn und Kultur". Dies wäre aber wichtig. Denn wenn wir das, was wir in den drei anderen Lebensbereichen tun, nicht als sinnhaft empfinden, erfahren wir unser gesamtes Leben irgendwann als öd und leer. Das zeigen folgende Beispiele:

3 Wer regelmäßig ins Fitnessstudio geht, nur weil es viele Bekannte auch tun, ist irgendwann vielleicht fit - zufrieden ist er aber nicht.

3 Wer viel Geld verdient, in seiner Arbeit aber keine Befriedung findet, der bringt auf Dauer auch keine Höchstleistungen.

Kurz: Wenn wir das, was wir tun, nicht als sinnvoll empfinden, fragen wir uns irgendwann "Was soll das Ganze?" Und gehen nur noch mit angezogener Handbremse durchs Leben. Selbst die einfachsten Dinge fallen uns schwer. Deshalb ist es nicht nur ein netter intellektueller Zeitvertreib, sich die Sinnfrage zu stellen. Die Beschäftigung mit dieser essenziellen Frage hilft uns vielmehr dabei, unsere Zufriedenheit und unsere Leistungsfähigkeit zu bewahren.

Was ist im Leben wirklich wichtig?

Fragen Sie sich deshalb regelmäßig: Was ist mir in meinem Leben wichtig - und zwar bezogen auf alle vier der genannten Lebensbereiche? Des Weiteren: Welche (Grund-)Einstellung habe ich zum Leben? Ist es für mich zum Beispiel ein Dschungel, in dem jeder jeden frisst und nur der Stärkere gewinnt? Wenn ja, dann werden Sie gegenüber Ihren Mitmenschen stets ein gewisses Misstrauen empfinden und irgendwann vermutlich allein durchs Leben gehen. Oder geht es für Sie im Leben darum, immer der Schnellste zu sein? Dann werden Sie laufen und laufen, bis Sie sich irgendwann wie ein Hamster im Laufrad drehen. Das heißt: Ihre Einstellung zum Leben prägt Ihr Handeln und bestimmt mit, was Ihnen widerfährt. Deswegen sollten Sie Ihre Lebensmaximen immer wieder überdenken.

Umgekehrt gilt jedoch: Die besten Lebensmaximen nutzen Ihnen wenig, wenn sie sich nicht in Ihrem Handeln widerspiegeln. Fragen Sie sich deshalb auch regelmäßig: Stimmt mein Handeln mit meinen Lebenszielen und -maximen überein? Kann ich es zum Beispiel vor mir verantworten, Mitarbeiter unter Druck zu setzen, nur weil ich als "Chef" von der Konzernleitung dazu verpflichtet wurde? Oder: Befriedigt es mich auf Dauer, Produkte zu verkaufen, von deren Qualität oder Nutzen ich selbst nicht überzeugt bin? Und überlegen Sie sich: Worin zeigt sich für mich ein er-fülltes statt ge-fülltes Leben? Darin, dass ich bei der Arbeit unentbehrlich bin? Darin, dass ich in einer großen Villa wohne und ein Luxusauto fahre? Oder darin, dass ich auch Zeit für mich selbst, meine Familie, meine Freunde und meine Hobbys habe?

Machen Sie sich aber klar: Die Antworten auf diese Fragen fallen nicht vom Himmel. Eine Lebensvision lässt sich nicht zwischen zwei Geschäftsterminen entwickeln. Doch woher die Zeit nehmen, wo doch die institutionalisierten Auszeiten in unserer Gesellschaft immer seltener werden? Und der Anspruch von außen lautet zunehmend, "immer und überall" erreichbar zu sein - auch nach Feierabend, auch an den Wochenenden, auch im Urlaub, auch an Feiertagen. Hierauf gibt es nur eine Antwort: Sie müssen sich die Zeit nehmen. Sie müssen die Zeiten, in denen Sie sich mit der Sinnfrage befassen, ebenso in Ihre Lebensplanung integrieren, wie Sie dies mit geschäftlichen Terminen tun. Das Gute dabei: Wer sich die Zeit nimmt, wesentlich zu sein, arbeitet schneller und effektiver; letztlich gewinnt er mehr Zeit, als er in sich "investiert".

Auszeit nehmen

Ziehen Sie sich zum Beispiel ein Mal für längere Zeit aus der Alltagshektik zurück, um mit ein wenig Distanz den roten Faden in Ihrem Leben (wieder) zu finden. Manche Firmen bieten dazu Sabbaticals an, eine zeitlich begrenzte berufliche Auszeit, meist zwischen drei und zwölf Monaten. Ein Sabbatical ist sinnvoll, wenn Sie einmal grundsätzlich überdenken möchten: Was sind meine Lebensziele? Befinde ich mich auf dem Weg dorthin?

Doch nicht jeder Berufstätige kann sich ein Sabbatical leisten: entweder aus finanziellen Gründen oder weil sich dies nicht mit seinem Job vereinbaren lässt. Dann empfiehlt es sich, den Urlaub für eine Neu- oder Rückbesinnung zu nutzen: Verzichten Sie einmal auf neue Entdeckungen, auf Strand- oder Kultururlaub. Gehen Sie stattdessen in ein Kloster. Besuchen Sie einen Meditations-Workshop, reflektieren Sie Ihr Leben in einem Seminar. Oder machen Sie schlicht eine mehrtägige Bergwanderung. Je nachdem, was Sie brauchen, um Abstand zum Alltag zu finden und diesen aus einer anderen Perspektive zu betrachten.

Wenn Sie so Ihre Lebensvision gefunden haben und das, was für Sie wichtig im Leben ist, dann schreiben Sie sich das auf. Führen Sie beispielsweise ein Tagebuch, damit Sie immer wissen, wo auf Ihrem Lebensweg Sie gerade stehen. Schreiben Sie auf, was Ihnen gelungen ist und woran Sie noch arbeiten müssen. Und was Sie dazu tun müssen.

Und werden Sie sich darüber klar, was Sie daran hindern könnte, Ihre Lebensvision umzusetzen - und wie Sie die Hindernisse umgehen können.

Doch Vorsicht! Es genügt nicht, einmal Ihre Lebensvision und Ihre Lebensziele zu fixieren. Denn nicht nur Sie selbst ändern sich im Lauf der Jahre, sondern auch das, was Ihnen wichtig ist: Sie gründen eine Familie, wechseln den Arbeitgeber oder den Beruf, ziehen in eine andere Stadt. Also sollten Sie sich regelmäßig kürzere Auszeiten nehmen, um zu überprüfen: Bin ich - immer noch - auf der richtigen Spur, meinem Lebens-Weg?

Bewusst "Nein" und "Ja" sagen

Dieses Rückbesinnen ist auch nötig, weil in unserem Alltag stets neue Aufgaben und Verlockungen rufen. Unser Chef bittet uns, einen weiteren Projektauftrag zu übernehmen. Unsere Kumpels im Sportverein möchten, dass wir den Job des Kassenwarts übernehmen. Unser Lebenspartner möchte, dass wir ihn stärker entlasten. Über Nacht fliegen uns stets neue Aufgaben zu. Und ehe wir uns umschauen, haben wir unseren Lebenspfad verlassen.

Entsprechend wichtig ist es, dass wir uns nicht nur regelmäßig auf unsere Lebensziele rückbesinnen, sondern auch lernen, "Nein" zu sagen. Denn nur so können wir uns die nötigen Freiräume erhalten, um bewusst "Ja" zu sagen. Und zwar zu den Dingen, die uns wirklich wichtig sind. Nur so gelingt es uns auf Dauer, ein er-fülltes statt ein ge-fülltes Leben zu führen. MF