Dass es in der IT-Branche gesundheitliche Probleme der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter geben könnte, hätte noch vor zehn Jahren allgemeines Kopfschütteln ausgelöst. Bei der IT-Arbeit gibt es kaum physische Belastungen wie bei Industriearbeit. Die Arbeit ist in der Regel kreativ, häufig selbstbestimmt und wenig monoton. Lange Zeit galt die Branche daher als "Eldorado ‚guter Arbeit’", (Boes et al. 2008).
Diese Sichtweise hat sich spätestens seit der Krise der New Economy Anfang des Jahrzehnts radikal geändert - in der Wissenschaft, in der Politik und zunehmend auch in der Branche selbst.
Das Rhein-Ruhr-Institut für Sozialforschung und Politikberatung (RISP) hat in einem Arbeitspapier eine mögliche Gründe für die Zunahme gesundheitlicher Probleme in der IT-Branche zusammengestellt.
Ein Problem für die Gesundheit ist offensichtlich die Arbeitsform "Projektarbeit". IT-Beschäftigte arbeiten meist in mehreren parallel laufenden Projekten. Dabei kommt es zu widersprüchlichen Arbeitsanforderungen, die als belastend erlebt werden. So ist der Stresspegel besonders hoch, wenn die Mitarbeiter
- im Projektverlauf zusätzliche Kundenbedürfnisse erfüllt werden müssen, die ursprünglichen Arbeitsaufgaben aber termingerecht und ohne weitere Kosten erfüllt werden müssen.
- mit unangemessenen Hardware- oder Software- Komponenten konfrontiert werden.
- Software-Lösungen erstellen müssen, ohne den "Echtbetrieb" beim Kunden zu kennen.
- entgegen ihren Professionalitätsansprüchen nicht ausreichend getestete Systeme beim Kunden abliefern müssen.
- aus Termindruck am Wochenende gearbeitet werden muss und die Familie darunter leidet.
Ein Großteil dieser "Dilemmata in der Wissensarbeit" entsteht an der Schnittstelle zum Kunden. Verschärfend kommen die "Service Level Agreements" hinzu, also Vereinbarungen zwischen Dienstleister und Kunden bei dem die Kunden unmittelbar Zugriff auf die Mitarbeiter bekommen: Die Arbeit bei den Kunden schränkt die Kommunikation mit dem Betrieb ein. Der Vorgesetze ist meist weit weg.Die Arbeit wird kleinteiliger.
Standardisierung von Produkten und Prozessen
IT-Arbeit hat sich in den letzten Jahren gewandelt, sie wird immer kleinteiliger. IT Beschäftigte bearbeiten häufig nur noch bestimmte Module und nicht mehr wie früher übergreifende Prozesse. Das "Ganze" ist in der Regel nicht mehr Aufgabe der Arbeitsprozesse.
Standardisierung und Ökonomisierung stehen in Gegensatz zur beruflichen Identität der IT-Beschäftigten, weshalb dieser Trend auch als besonders belastend empfunden wird.
Belastungseffekte neuer Managementkonzepte
In den 90er Jahren haben viele Unternehmen neue Managementkonzepte eingeführt. Im Wesentlichen ging es dabei um die Ablösung von tayloristischen Leitungskonzepten, eine stärkere Selbstorganisation und Selbstkontrolle der Beschäftigten, die vereinbarte Ziele selbstorganisiert erreichen sollten verbunden mit einer stärkeren Markt- und Kundenorientierung aller Geschäftsprozesse.
Bereits in den 90er Jahren wurden die ent- aber auch belastenden Effekte dieser Konzepte diskutiert. Höhere Freiheitsgrade und ganzheitlichere Arbeitszuschnitte auf der einen Seite - mehr Verantwortung auf der anderen Seite. In der IT-Branche fanden die neuen Managementkonzepte zunächst eine positive Resonanz. Mit den veränderten ökonmischen Rahmenbedingungen nach dem Ende der "New Economy" treten nun aber die Schattenseiten dieser Konzepte in den Vordergrund: Die Ziele, die IT-Beschäftigte selbstverantwortlich erreichen sollen, werden immer schwieriger zu bewältigen. Es entsteht das Gefühl: "Man kann es nicht schaffen und ist dennoch dafür verantwortlich". Den Beschäftigten wird Verantwortung zugewiesen, ohne dass sie die nötigen Ressourcen für eine echte Handlungsfähigkeit bekommen. Die Verlagerung von Verantwortung auf die Mitarbeiter führt zu dem Paradox, dass die Beschäftigten zwar wissen, dass sie die Ziele nicht erreichen können, sie aber dennoch dafür verantwortlich sind. So entsteht eine "selbstgemachte Überforderung".
Hinzu kommen Veränderungen bei der Leistungsbeurteilung. Aufstiegsmöglichkeiten werden zunehmend an leistungsbasierte Bewertungssysteme gekoppelt. Aufwandsbezogene Modelle der Leistungsbeurteilung werden ersetzt durch ergebnisorientierte Konzepte. Dies fördert die Tendenz zur Ausweitung der Arbeitszeit und Intensivierung der Arbeit. Die eigene Leistungsfähigkeit muss immer wieder aufs Neue bewiesen werden, um die Zugehörigkeit zum Unternehmen zu rechtfertigen.
Veränderte betriebliche Sozialordnungen
Bei der Bewältigung der immer schon hohen Arbeitsintensität in der IT-Branche bildete, die spezifische betriebliche Sozialordnung einen "Puffer" für die gesundheitlichen Belastungen. Elemente dieser Sozialordnung waren eine hohe Vertrauenskultur mit flachen Hierarchien. Es bestand eine hohe Identifikation mit den Arbeitsinhalten und dem Unternehmen, ein Gefühl von Gemeinschaft.
Hier findet ein Wandel statt: Die Identifikation der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mit den Arbeitsinhalten, den Produkten der eigenen Arbeit trifft nun auf die Notwendigkeit möglichst effizient und kostengünstig zu produzieren. Vertrauensbeziehungen werden unterminiert, das Gefühl der Gemeinschaft geht verloren. Die Veränderung der Sozialordnung wird als Verlust erlebt.
Neue Unsicherheiten für IT-Beschäftigte - Risiko Arbeitslosigkeit
Früher galten IT-Arbeitplätze als sicher. Das ist heute nicht mehr der Fall. Genau wie in anderen Branchen müssen sich Beschäftigte in der IT-Branche um ihre Arbeitsplätze sorgen. IT-Beschäftigte erleben Personalabbauphasen sowie Verlagerungsmöglichkeiten. Genauso wie die Arbeitslosigkeit selbst ist die Angst vor der Arbeitslosigkeit ein eminent belastender Faktor.
Die Belegschaften werden älter
Die IG Metall geht davon aus, dass das Durchschnittsalter von Systementwicklern bei knapp über 30 Jahren liegt. Mit 40 sei man in der Branche "ein halber Methusalem". Auch nach Schätzungen des Branchenverbandes Bitkom liegt das Durchschnittsalter in der Branche bei 35 Jahren. In vielen - gerade älteren, etablierten Unternehmen liegt es aber bereits bei über 40 Jahren.
Nach Angaben der Bundesagentur für Arbeit hat der Anteil der über 50jährigen zwischen 1999 und 2004 um 78 Prozent zugenommen. Im Jahre 2015, so schätzt die IG Metall, wird der Anteil der 50jährigen Belegschaftsmitglieder in der IT-Branche auf 40 Prozent steigen. Der demografische Wandel erreicht also auch die IT-Branche - und trifft dort häufig auf eine Unternehmenskultur, die auf "Jugendlichkeit" eingerichtet ist. Innerhalb dieser Kultur gelten Ältere dann vielfach als "Low Performers" oder "Auslaufmodell".
Der permanente Zwang zur Weiterbildung
IT-Fachkräfte unterliegen einem besonderen und permanenten Fortbildungsdruck: Weiterbildung wird immer nötiger, findet aber immer weniger organisiert statt. Die Beschäftigten können sich entweder in ihrer Freizeit individuell weiterbilden, oder sie geraten in die Gefahr, ihre zukünftige Beschäftigungsfähigkeit aufs Spiel zu setzen.
Noch ausgeprägter gilt dies offenbar für Freelancer. In der Untersuchung von Gerlmaier / Kastner (2003) gaben 86 Prozent der Freelancer in der IT-Branche an, sich oft und immer während der Freizeit beruflich fortbilden zu müssen. Bei den Angestellten der Branche waren bis zu 51
Branchentypische Gewohnheiten
Wenn bisher vor allem von psychischen Belastungen die Rede war, dann heißt das nicht, dass andere Belastungsformen nicht auch eine Rolle spielten. In der öffentlichen Wahrnehmung der IT-Branche wirken noch häufig Klischees nach, die an den "Computer-Freak" erinnern, jenes Wesen, das besessen bis in die Nacht vor dem Bildschirm sitzt und sich von Cola und Pizza ernährt. Es muss hier nicht betont werden, dass es sich dabei um einen modernen Mythos handelt, der allerdings ein Körnchen Wahrheit enthält: Arbeit am Bildschirm kann zu Bewegungsarmut und Zwangshaltungen führen. Und eine oftmals unausgewogene Ernährung sowie der Konsum konzentrationsförderlicher Mittel lassen sich durchaus nicht nur bei den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Branche feststellen, sondern auch in den Führungsetagen.
Nach einer Umfrage des ITHerstellers Synstar, bei der 700 europäische IT-Verantwortliche in Unternehmen mit mehr als 200 Mitarbeitern zu ihrer Arbeitssituation befragt wurden, gaben 83 Prozent der Manager an, schlecht zu schlafen, weil sie sich um ihren Arbeitsplatz sorgen. Jeder Dritte hatte Angst, seine Aufgaben nicht bewältigen zu können. 62 Prozent ernähren sich von Fertiggerichten, um Zeit zu sparen. Jeder Fünfte lässt aus Zeitgründen den Termin im Fitnessstudio regelmäßig ausfallen.
In einer Zusammenfassung der Ergebnisse des vom BMBF geförderten Forschungsprojektes "Nachhaltigkeit in der Projektarbeit" weisen die Autorin und der Autor (Latniak / Gerlmaier 2006,) vor allem auf zwei Punkte hin:
- IT-Beschäftigte in den untersuchten Softwareentwicklungs- und beratungsprojekten leiden bis zu viermal so häufig unter psychosomatischen Beschwerden (chronische Müdigkeit, Nervosität, Schlafstörungen und Magenbeschwerden) wie der Durchschnitt der Beschäftigten in Deutschland.
- 40 Prozent der Befragten zeigten eine Zunahme chronischer Erschöpfung, einem Frühindikator für Burnout. 30 Prozent hatten Probleme, sich zu erholen.
Nach dem Gesundheitsreport der Techniker Kranenkasse gibt es eindeutige Indizien, dass psychische Gesundheitsgefahren für die IT-Branche im Besonderen zutreffen. (Voermans 2007):
- Der Gebrauch von Antidepressiva liegt bei IT-Beschäftigten um 60 Prozent höher als im Durchschnitt aller Beschäftigten.
- Der Gebrauch von Psychopharmaka liegt bei IT-Beschäftigten um 91 Prozent höher als im Durchschnitt aller Beschäftigten.
Weitere Informationen unter: http://www.uni-duisburg.de/Institute/RISP/ (mf)