Neues stationäres Geschäftsmodell

Ist Retail-as-a-Service die Zukunft des CE-Handels?

03.05.2021 von Matthias Hell
Aus den USA ist das Geschäftsmodell Retail-as-a-Service nach Deutschland geschwappt. Start-ups wie Vaund, Urbanbird und The Latest präsentieren in ihren Geschäften im Auftrag von Herstellern Produkte, erklären diese und generieren so Kundendaten. Im Mittelpunkt steht dabei das Thema Consumer Electronics.
Der Store von Urbanbird in den Münchner Riem Arcaden eröffnete 2019 als erste Retail-as-a-Service-Fläche in Deutschland
Foto: Urbanbird

Im stationären Handel hält ein neues Geschäftsmodell Einzug: Unter dem Namen Retail-as-a-Service eröffnen Start-ups stationäre Flächen, die sie als Dienstleistung an Hersteller untervermieten - um neue Produkte zu präsentieren, diese zu erklären und dabei wertvolle Kundendaten zu generieren. Das Geschäftsmodell stammt aus den USA. Dort eröffnete 2015 in Palo Alto ein neues Ladengeschäft, das auf den ersten Blick ein bisschen wie ein Apple Store aussah und Consumer Electronics sowie Home & Living-Artikel in einem gehobenen Ambiente präsentierte. Doch der Laden mit dem Namen B8ta war kein Flagship-Store und auch kein klassisches Retail-Geschäft. Denn B8ta lebt nicht vom Warenverkauf, sondern von der Vermietung von Präsentationsflächen an Hersteller. Während sich der traditionelle Handel über das Showrooming beklagt und über den "Beratungsklau" durch Kunden, die Waren lieber im Internet kaufen, hat B8ta genau das zu seinem Geschäftsmodell gemacht: Das Unternehmen präsentiert und erklärt die Produkte der Hersteller und generiert dazu Kundendaten aus erster Hand. Der Warenverkauf nimmt in diesem Retail-as-a-Service-Konzept eine zweitrangige Rolle ein. Nicht nur bei den Herstellern, auch bei den Kunden kam das Konzept so gut an, dass B8ta in den USA inzwischen 22 Filialen betreibt.

In Deutschland Einzug gehalten hat Retail-as-Service mit Anbietern wie Urbanbird in München, Vaund in Hannover sowie The Latest in Berlin. Betrachtet man die einzelnen Anbieter genauer, lassen sich unterschiedliche Schwerpunkte erkennen, was die drei Punkte Warenpräsentation, Produktverkauf und Marktforschung betrifft. Für Urbanbird liegt die Priorität klar auf dem letztgenannten Aspekt. Das Unternehmen wurde von dem früheren Ciao.com- und Yatego-Geschäftsführer Stephan Musikant sowie von Jesus Garcia, einem langjährigen Manager der Payback-Ausgründung Emnos, ins Leben gerufen. "Wir haben in unseren beruflichen Stationen gesehen, welche Bedeutung Daten in der Onlinewelt haben und wie neidisch Offliner häufig darauf sind. Gerade Hersteller verfügen in der Regel kaum über direkte Marktdaten", berichtet Musikant. Das Ziel bei der Gründung von Urbanbird sei es daher gewesen, den Kundenkontakt als Wertschöpfungsfaktor neu zu definieren. "Während klassische Händler im Store-Personal vor allem einen Kostenfaktor sehen, betrachten wir die Kundenberatung als wichtiges Asset. Die Kunden, die sich durch uns beraten lassen, können die Ware im Store kaufen, aber auch in unserem Onlineshop oder bei einem anderen Online-Anbieter. Wichtig sind möglichst detaillierte qualitative Daten, die wir aus dem physischen Kundenkontakt generieren." In dem im Oktober 2019 eröffneten ersten Store im Münchner Einkaufscenter Riem Arcaden präsentiert Urbanbird vor allem Technik- und Lifestyle- Erzeugnisse.

Blick in den Vaund Store in der Hannoveraner Fußgängerzone
Foto: Vaund

Vaund und The Latest kommen aus dem Media-Saturn-Umfeld

Von einem positiven Feedback von Herstellern und Vermietern berichtet auch Michael Volland, früher Geschäftsführer des zu MediaMarktSaturn gehörenden Digitalisierungsspezialisten Xplace und nun Co-Gründer des Retail-as-a-Service-Anbieters Vaund: "Trotz der Coronapandemie verzeichnen wir ein deutlich gestiegenes Interesse der Hersteller. Und auch unsere Conversion Rate konnten wir seit der Eröffnung unseres Stores in Hannover im November 2019 stetig erhöhen." Das liege auch daran, dass man gemerkt habe, welche Produkte in dem auf Premiumkunden zielenden Store-Konzept von Vaund am besten funktionierten: vor allem innovative Consumer-Electronics- Ware und Artikel von trendigen Direct-to-Consumer-Marken. "Das sind oft Brands, die schon eigene Stores betreiben, aber gleichzeitig die Chance nutzen, ihre Produkte auch über Vaund zu präsentieren", so Volland. Auch für das Konzept von Vaund sei das Thema Daten zwar langfristig von großer Bedeutung, doch stünden aktuell für die Hersteller die Inszenierung ihrer Erzeugnisse und die hochwertige Beratung dazu im Vordergrund. Mit einem ersten Shop-in-Shop ist Vaund im Oktober in das Mannheimer Luxuskaufhaus Engelhorn eingezogen, weitere Flächen sollen in Osnabrück und Stuttgart folgen.

Der bislang jüngste Teilnehmer im Retail-as-a-Service-Markt ist The Latest. Aufgebaut wurde das Ladenkonzept von dem ehemaligen MediaMarktSaturn-Mitarbeiter Dhi Matiole Nunes in Zusammenarbeit mit der Marketingagentur Avantgarde. "Ich habe in meiner Zeit im Einzelhandel gesehen, dass die Kunden dort oft keine zufriedenstellende Beratung bekommen und viele innovative Produkte gar nicht mehr den Weg in den Handel finden", erklärt Nunes. Ziel von The Latest sei es deshalb, neue, originelle Produkte aus verschiedensten Kategorien wie Fashion, Food und Technik zu präsentieren, die es bisher noch nirgendwo anders zu kaufen gebe. Auf der Ende 2020 in einer A-Lage am Berliner Ku'damm eröffneten Fläche wolle man diese Produkte einer möglichst großen Kundschaft nahebringen. Als zentrale Leistung, die The Latest dabei für die Hersteller erbringt, betrachtet Nunes die Aufmerksamkeit für deren Produkte. Dazu passt, dass sich The Latest gemeinsam mit der dahinterstehenden Agentur auch stark für die Vermarktung der in dem Geschäft präsentierten Artikel engagiert. "Wir machen Marketing für unsere Brands und schalten in Berlin große Out-of-Home-Kampagnen. Das ist für die Marken noch wichtiger als die Daten, die wir generieren. Denn diese Insights erhalten sie auch über ihre eigenen Onlinekanäle."

Das bisher jüngste Retail-as-a-Service-Geschäft ist der Store von The Latest am Berliner Ku'damm
Foto: The Latest

Handelsexperte erkennt großes Potenzial

Ist Retail-as-a-Service das Zukunftsmodell für den durch die Coronapandemie zusätzlich unter Druck geratenen stationären Handel? Ein großer Fan des Geschäftsmodells ist Joachim Stumpf, Handelsberater und Geschäftsführer des Vermieters IPH Handelsimmobilien. "Anbieter wie Urbanbird und Vaund übernehmen eine wichtige Bindegliedfunktion zwischen Hersteller und Kunde", erklärt er. Während große Hersteller zunehmend mit eigenen Geschäften in den Retail einstiegen, seien kleinere Akteure und junge Start-ups angesichts der Veränderungen im Handel darauf angewiesen, neue Wege zum Kunden zu finden. "Retail-as-a-Service-Anbieter eignen sich dazu gut, weil sie nicht nur das Showrooming für die Hersteller übernehmen, sondern gleichzeitig Marktforschung auf der Fläche betreiben." Aus der Vermieterperspektive habe das Modell attraktive Vorteile. "Während in vielen Malls und Fußgängerzonen eine zunehmende Einförmigkeit feststellbar ist, tut sich in den Retail-as-a-Service- Geschäften viel mehr. Außerdem stehen den Betreibern neben dem Verkauf auch das Showrooming und die Marktforschung als Profitkanal offen." Dass die Corona-Krise viele in die Jahre gekommene Handelsformate unter Druck setze, eröffne für das neue Geschäftsmodell zusätzliche Chancen. "Sogar in den besten Lagen sind die Mieten unter Druck geraten. Das senkt nicht nur die Hürden für Neueinsteiger, sondern erhöht auch die Bereitschaft der Vermieter, neue Konzepte auszuprobieren." Stumpf ist überzeugt, dass Urbanbird, Vaund und The Latest nur ein Anfang sind: "Für das Geschäftsmodell Retail-as-a-Service wird es in den nächsten Jahren verstärkte Expansionsmöglichkeiten geben", so der Handelsimmobilien-Experte.