CW: Das Thema Industrie 4.0 gilt als wichtig für den Standort Deutschland und wird vor allem von Herstellern sowie Forschungseinrichtungen vorangetrieben. Fehlt Ihnen der Rückhalt aus der Politik?
Kagermann: Nein, der ist da. Man sollte auch noch mal klar stellen, wo die Initiative entstanden ist. Es gibt eine sogenannte Forschungsunion, das ist ein Instrument der Politik, um die High-Tech-Strategie umzusetzen. Diese Union setzt sich aus Repräsentanten der Wirtschaft, der Forschung und der Gewerkschaften zusammen. Die von mir geleitete Gruppe Digitale Wirtschaft und Gesellschaft hatte die Aufgabe, Zukunftsprojekte zu identifizieren, und daraus entstand als eine der ersten Initiativen das Thema Industrie 4.0.
Zum Video: Industrie 4.0 schafft ein unvorhersehbares Umfeld
Acatech hat in der Folge die Arbeitskreise organisiert, aus denen die Plattform Industrie 4.0 hervorgegangen ist. In dem Arbeitskreis engagierten sich Firmenvertreter, Gewerkschaftler und Wissenschaftler. Gemeinsam haben wir die Handlungsempfehlungen geschrieben.
Der Auslöser ist also die Politik gewesen, und sie ist auch weiter mit an Bord. Der Begriff Industrie 4.0 steht sogar im Koalitionsvertrag.
(siehe auch Henning Kagermann im Porträt)
CW: Hat die Politik dazu beigetragen, Kontrahenten im Sinne des Fortschritts an einen Tisch zu bringen? Gab es diesbezüglich Hilfe?
Kagermann: Das haben wir selbst gemacht. Entscheidend war für uns bei diesem Thema der Rückhalt der Wirtschaft, und die konnte Acatech als wissenschaftliche Institution nicht alleine gewinnen. Uns ist es glücklicherweise gelungen, drei wichtige Verbände hinter dem Thema zu versammeln. Das sind der IT-Branchenverband Bitkom, der VDMA (Verband der deutschen Maschinen- und Anlagenbauer) und der ZVEI (Zentralverband Elektrotechnik- und Elektronikindustrie e.V). Diese drei großen Verbände treiben das Thema voran und haben Strukturen etabliert. Dadurch sind Arbeitsgruppen und Steuerkreise entstanden, die sich regelmäßig treffen und Eckpunkte entwickeln.
Daneben gibt es einen wissenschaftlichen Beirat mit 19 Mitgliedern aus der IT, der Produktion und der Automatisierungstechnik sowie aus den Fachbereichen Logistik, Soziologie und Rechtswissenschaften. Der wird von Acatech betreut. Hinter Industrie 4.0 steht also eine echte Organisation.
Unter dem Dach Industrie 4.0 kooperieren Konkurrenten
CW: Ziehen die Beteiligten tatsächlich an einem Strang? Immerhin sitzen in den Arbeitskreisen viele Konkurrenten an einem Tisch.
Kagermann: In dieser Hinsicht hat Deutschland eine bemerkenswerte Kultur der Kooperation. In den Verbänden und Arbeitskreisen arbeiten Konkurrenten gemeinsam an einem Ziel. Wir haben etwa bewusst auch die Gewerkschaften ins Boot geholt, um die Arbeitnehmervertreter an dieser Initiative zu beteiligen. Das hat kein anderes Land hingekriegt.
Der Gedanke dahinter ist, dass es uns gemeinsam gelingen muss, Industrie 4.0 voranzutreiben.
Industrie 4.0 hat keine menschenleeren Fertigungshallen zum Ziel
CW: Es besteht ja eine gewisse Furcht der Arbeitnehmer in der Produktion vor menschenleeren Fabrikhallen. Wie sieht denn in einer Industrie 4.0 die Rollenbeschreibung der Mitarbeiter aus?
Kagermann: Die Fertigungsstätten werden nicht menschenleer sein. In den 80iger Jahren gab es die CIM-Initiativen, die sehr zentralistisch angelegt waren und tatsächlich dieses Ziel verfolgten. Das gilt heute nicht mehr.
Bei uns ist der Mensch Teil der dezentralen, sich selbst organisierenden Industrie 4.0. Der Mensch gibt den Takt vor, nicht die Maschinen, weil die sich selbst organisierende Produktion die Arbeiten dorthin verschiebt, wo Kapazitäten frei sind. Das ist der Unterschied zu früheren Ansätzen, wenngleich sich die Arbeit ändern wird.
In den nächsten Dekaden werden die Maschinen nicht die Flexibilität erreichen, die im Kurzzeitbereich erforderlich ist. Man benötigt die Erfahrung der Menschen ganz stark. Es wird aber weniger angelernte Kräfte, dafür mehr Leute geben, die Integrationsbrücken überdenken, Entscheidungen fällen, vorbereiten, integrieren, planen usw. Das ähnelt der Entwicklung im Büro, wo sehr standardisierte Tätigkeiten entfallen sind, aber neue Jobs geschaffen wurden.
Klar ist, dass sich Arbeitsinhalte ändern werden. Mitarbeiter werden nicht einmalig angelernt, damit sie jahrelang die gleichen Aufgaben erledigen. Ihnen wird ein hohes Maß an Flexibilität abverlangt. Dafür sind neue Lernhilfen erforderlich. Das können Assistenzsysteme wie zum Beispiel Smart Glasses sein. Außerdem glaube ich an eine Renaissance von E-Learning.
Mit Werkzeugen wie Tablets und Datenbrillen werden die Mitarbeiter in die digitale Welt integriert. Damit lässt sich jeder Schritt, jeder Aufenthaltsort, jede Tätigkeit genau erfassen. Wenn man ehrlich ist, werden Arbeitsprozesse und Mitarbeiter transparenter. Das ist die Sorge der Gewerkschaften. Diese Bedenken muss man ernstnehmen und gemeinsam damit umgehen. Das kann man nicht ignorieren.
Mit den Daten kann man aber nicht nur Bedenkliches anstellen, man kann sie auch im positiven Sinne für die Mitarbeiter einsetzen, etwa um die Arbeitsbelastung besser zu regulieren. Zu viel Belastung ist nicht gut, zu wenig aber auch nicht.
Ich stoße schon auf Skepsis, wenn ich mit dieser Idee komme. Ich bin aber überzeugt, dass die Integration des Menschen in die digitale Welt etwas Positives hat.
Das Internet in der Produktion schafft neue Risiken
CW: Mit der Industrie 4.0 erobert das Internet die Produktionsstätten. Das ist für die Fertigung riskant, weil sie völlig neuen Bedrohungen ausgesetzt wird. Wie will man das in den Griff bekommen?
Kagermann: Es gibt drei Schichten in der Industrie 4.0. Im kontrollierten Kernbereich arbeiten die einzelnen intelligenten Maschinen, die ein Fertigungsunternehmen sehr gut im Griff hat.
Darauf setzt der so genannte teilkontrollierte Bereich auf. Das ist die Smart Factory, die mit internen IP-Adressen ausgestattet ist und von den MES-Systemen (Manufacturing Execution System) gesteuert wird.
Dann kommt der offene Bereich, wo Daten und Dienste aus dem Internet eingehen oder hinausgeschickt werden. Hier kann es zu unkontrolliertem Verhalten kommen.
Zwischen diesen drei Bereichen gibt es Übergabepunkte, sie agieren nicht völlig losgelöst voneinander. Zudem sind sie mit anderen Segmenten vernetzt, etwa mit Smart-Energy-Netzen.
In allen drei Zonen sollte man genau wissen, was dort passiert oder passieren kann und mit spezifischen Sicherheitssystemen darauf reagieren. Man darf nicht alle Komponenten einer Industrie 4.0 über einen Kamm scheren.
CW: Das Horrorszenario ist, dass Eindringlinge die Grenzen zwischen den Segmenten überspringen und in den Kernbereich vorstoßen.
Kagermann: Ja, das Szenario gibt es. Siemens hat das übrigens einmal exemplarisch durchgespielt. Etwas verkürzt lautet die Erkenntnis: Das bedrohlichste Szenario ist gar nicht, wenn ein externer Angreifer die Lackiermaschinen zum Erliegen bringt, ein solcher Eingriff ist beherrschbar. Viel schlimmer ist es, wenn jemand die Einstellungen der Anlage unbemerkt verändert, so dass der Lack nicht mehr die Qualität hat, die er haben sollte. Das würde ein Hersteller möglicherweise erst Monate später merken, wenn unzählige Autos bereits ausgeliefert wurden.
CW: Das ähnelt dem Stuxnet-Fall, wo erst nach Wochen aufgefallen ist, dass die Zentrifugen manipuliert wurden.
Kagermann: Ja, das ist der schlimmste Fall.
Resilienz oder wie man auf Unerwartetes reagieren kann
CW: Eine weitere Herausforderung, an der die Fraunhofer Gesellschaft forscht, ist die Verschmelzung von Security und Safety.
Kagermann: Wir haben das unter dem Schlagwort Resilienz aufgegriffen. Das ist ein Begriff, der aus der Verhaltensforschung kommt und sich nun in der Sicherheitsforschung etabliert hat. Dort werden Zyklen entwickelt, so dass Systeme, die durch einen äußeren Schock verändert wurden, wieder zu ihrem Idealzustand zurückfinden.
In vergleichbarer Form müssen im Sinne einer umfassenden Sicherheit IT-Security und Produkt-Safety zusammenfinden. In modernen Umgebungen sind Technik und Mensch nicht mehr voneinander zu trennen, weil letzterer vernetzt ist und sein Verhalten auf die Technik wirkt.
Philosophisch lautet die Erkenntnis, dass Vernetzung die Komplexität erhöht und man sich auf ein weniger vorhersehbares Umfeld einstellen muss.
CW: Sie werden Schwierigkeiten haben, das einem Produktionsleiter zu erzählen, der die Auslastung seiner Maschinen und die Sicherheit seiner Anlagen zu verantworten hat.
Kagermann: Ihm nicht. Die Diskussion kommt zugegebenermaßen weniger aus der Produktion. Trotzdem: Auch die Produktion wird sich irgendwann darauf einstellen müssen, mit Unvorhersehbarem umgehen zu können.
CW: Bemühen wir das Beispiel Flugzeug: Ohne 100-prozentige Safety darf kein Flieger abheben. Die Argumentation, man müsse mit Unschärfen umgehen können, ist nicht realistisch.
Kagermann: Man darf das nicht falsch verstehen. Niemand strebt einen Zustand an, in dem das Chaos ausbricht, weil bei einem ungeplanten Ereignis keiner weiß, was zu tun ist. Resilienz heißt, Pläne, Taktiken, Schulungen entwickeln, die vorn vornherein klar stellen: Es kann etwas passieren und man weiß darauf zu reagieren. Es braucht ein neues Sicherheitsbewusstsein und ein ganzheitliches Herangehen. Man muss sich der größeren Komplexität bewusst sein.
Vernetzung geht nun einmal mit mehr Komplexität einher. Das können wir nicht aufhalten, wir können aber lernen, mit ihr umzugehen.
CW: Die IT-Industrie kennt diese Unvollkommenheit seit Jahren, nicht zuletzt durch die Kultur der Betaversionen, die sich im Internet durchgesetzt hat. Wenn dort eine mobile App abstürzt, ist das ärgerlich, aber kaum gefährlich. Lücken in einer Industrie 4.0 sind gefährlich.
Kagermann: Die Beta-Kultur wird es so in der Industrie 4.0 nicht geben. Schauen sie auf das moderne Auto: Dort ist der Übertragungsbus für die Fahrzeugelektronik physisch getrennt vom Kommunikationsbus der Entertainment-Systeme. Der kritische Kernbereich wird anders behandelt als der offene Bereich. Beide sind nicht vernetzt.
Die Rolle der IT-Branche in einer Industrie 4.0
CW: Dann dürften sich in der Industrie zwei getrennte Welten voneinander entwickeln. Eine, die Systeme für die offenen IT-Lösungen bereitstellt, in der die klassischen IT-Anbieter eine Rolle spielen. Eine andere, in der die Produktionsfirmen und ihrer Ausstatter die Maschinen um IT ergänzen.
Kagermann: Ja, so ist es. Es wird weiterhin unterschiedliche Geschäftsmodelle geben. Es wird Schichten geben, in denen Produkte entwickelt werden, die etwa App-fähig sind und als Betaprojekt in den Markt entlassen werden. Aber in den unteren Schichten im Maschinenpark wird es so etwas nicht geben.
CW: Erwarten sie also gar nicht, dass klassische Firmen wie IBM, SAP und Co. sich Richtung Shop-Floor-IT entwickeln.
Kagermann: Ich vermute, dass sie ausgehend von ihren angestammten Geschäftsfeldern mit der klassischen IT die Integration der industriellen IT vorantreiben werden. Die Ausstatter und Hersteller von Industrieanlagen werden sich umgekehrt nicht in den Markt für ERP-Systeme vorarbeiten.
CW: Warum glauben Sie das?
Kagermann: Weil es drei unterschiedliche Integrationsrichtungen in einer vernetzten Industrie gibt.
Die Horizontale, also die Integration auf der Ebene ERP, CRM etc., stellt die dynamischen Wertschöpfungsnetzwerke bereit, so dass sich beispielweise Prozesse ad hoc neu adjustieren lassen. Das kann man mit den heutigen Lösungen noch nicht. Das werden die Hersteller aber hinkriegen, etwa über automatisiertes Contracting und Agenten.
Die vertikale Integration, umfasst die besprochenen drei Schichten einer Industrie 4.0. Bislang habe ich von keinem Hersteller gehört, der alle drei Schichten beherrschen möchte. Hier dreht sich alles um die wesentliche Frage: Wie können wir zusammenarbeiten?
Die dritte Integrationsrichtung streben Unternehmen wie Siemens an: Man möchte das Engineering von Ende zu Ende durchgängig gestalten. Produktdesign und das Produktions-Engineering sollen immer Hand in Hand gehen. Wenn ein Hersteller ein Produkt entwirft, entwickelt er zugleich das Produktionsverfahren mit. Daran haben Hersteller wie Siemens ein großes Interesse, weil heutige Werkzeuge, Daten und Abläufe nicht kompatibel sind. Es gibt Medienbrüche und Sprünge.
CW: Die Rahmenbedingungen von Industrie 4.0 werden stark von Verbänden und Herstellern vorangetrieben. Sind Firmen eingebunden, die eigene Industrie-4.0-Produktionsanlagen betreiben?
Kagermann: Ja, und die ersten Fabriken sind schon in Betrieb, etwa bei Wittenstein, einem mittelständischen Hersteller von hochpräzisen Antrieben und Getrieben.
Wittenstein hat damit eine nachhaltige Fabrik gebaut, in der der Verbrauch von Energie und Ressourcen deutlich reduziert werden konnten.
Die Entwicklung wird zweigleisig verlaufen: Einige Anwender werden neue Fabriken aufbauen, andere werden neue Anwendungsfälle in vorhandene Installationen integrieren. Letzterer Fall hält besondere Herausforderungen in der Migration und in der Sicherheit bereit, die gelöst werden müssen. Hier streben die Unternehmen häufig eine verbesserte Wartung der Maschinen an, die aufgrund der Analyse der Maschinendaten vorausschauend erfolgen und damit die Standzeiten reduzieren kann. Man kann die Daten aus einer vernetzten Fertigung auch für ein besseres Energie-Management verwenden, um etwa eine effiziente Start-Stopp-Automatik in der Produktion einzuführen, wie wir es von Autos kennen.
In der Logistik lässt sich durch den RFID-Einsatz die Zahl der Paletten und Fehlerquellen reduzieren. Es gibt Erhebungen, wonach die konsequente Nutzung von RFID in der Retail-Branche die vorhandenen Ressourcen so entlasten kann, dass acht Milliarden Euro Mehrumsatz pro Jahr möglich sind.
Massenfertigung mit Losgröße eins ist das Ziel
CW: Die Möglichkeiten einer Industrie 4.0 regen zu Phantasien an. Wenn es um konkrete Beispiele geht, stehen meist Einsparungen im Vordergrund. Ist das alles?
Kagermann: Um es kurz zu machen: Es geht um Flexibilität, Produktivität und schnellere Innovationszyklen durch bessere Rückkoppelung.
Flexibilität war der Auslöser der Initiative, das Zauberwort heißt Losgröße eins. Das bedeutet, dass Fertigung und Servicebetrieb bedarfs- und verbraucherorientiert erfolgen.
Wenn die Flexibilität mit einer Losgröße eins im Extremfall nicht durch höhere Preise zu erzielen ist, weil der Markt das nicht hergibt, muss die Produktivität besser werden. Unterm Strich wird die Fertigung dadurch ressourcenschonender und nachhaltiger.
Das Versprechen lautet: Hohe Flexibilität, bessere Produktivität, effizienter Ressourcenverbrauch.
Und es gibt einen weiteren Effekt: Wir können die Fertigung wieder in urbane Räume verlagern, so dass sich der Pendelverkehr zwischen Arbeitsplatz und Wohnort reduziert. Die Fabriken rücken näher an den Lebensmittelpunkt der Mitarbeiter.
Deshalb bin auch davon überzeugt, dass Industrie 4.0 abheben wird: Sie bringt wirtschaftliche, ökologische und soziologische Besserung. Mit diesem Dreiklang spricht die Industrie 4.0 alle beteiligten Stakeholder an.
CW: Das klingt zu schön, um wahr zu sein.
Kagermann: Zugegeben, das ist unsere Vision. Die muss man aber erzählen, um das Ziel zu veranschaulichen, um die Leute mitzunehmen.
Digitalisierung verändert Marktstrukturen
CW: Über welche Zeiträume reden wir?
Kagermann: Das Projekt der Firma Wittenstein ist konkret, die Innovationsfabrik wurde im Mai eröffnet. Doch das ist eine Ausnahme. Insgesamt reden wird über einen langen Zeitraum. Erste Industrie-4.0-Produkte werden in drei Jahren erscheinen. Bis die vernetzte Fertigung echte erkennbare Formen annimmt dürften zehn Jahre vergehen.
CW: Wenn das reicht. Maschinen haben Abschreibungszeiträume, die in Jahrzehnten gemessen werden.
Kagermann: Der Prozess wird evolutionär verlaufen. Aber wenn man in 15 Jahren zurückblickt, wird es wie eine Revolution erscheinen.
CW: Viele der großen IT-Unternehmen haben heute Probleme, sie erzielen nicht mehr das Wachstum früherer Jahre. Ist die digitale Vernetzung eine Möglichkeit, wieder mehr Fahrt aufzunehmen?
Kagermann: Das ist nicht nur in der IT-Industrie so, sondern in nahezu allen Branchen. Sehen Sie sich die Energiewirtschaft an, dort macht die Dezentralisierung in der Energiegewinnung den Versorgern zu schaffen. Die Diskussionen über Smart Grid ist dort vergleichbar mit dem Thema Industrie 4.0. Es geht um individuellen Verbrauch und Erzeugung: Oder das Gesundheitswesen: Auch hier gibt es eine vergleichbare Entwicklung zur individualisierten Medizin.
Und überall stecken die gleichen IT-Methoden dahinter: Es dreht sich um die Personalisierung durch Smart Data, Ad-hoc-Vernetzung oder Simulation an digitalen Modellen.
CW: Verlieren die früher mächtigen IT-Anbieter, die schon mal eigene Standards durchsetzen konnten, an Strahlkraft, weil die Entwicklungen dezentraler verlaufen?
Kagermann: Die IT-Industrie wird sich verändern. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sämtliche Lösungen von ein oder zwei großen Anbietern kommen werden. Die Chancen für Spezialisten sind groß, weil das Geschäft vielfältiger wird. Nichtsdestotrotz wird es große Betreiber von Plattformen geben.
Vorsicht vor den amerikanischen Plattformbetreibern
CW: Die Plattformen sind heute amerikanisch dominiert.
Kagermann: Das ist eine Sorge, die relevant wird, wenn man das Thema Industrie 4.0 zu Smart Services weiterführt, wenn sich also das Geschäftsmodell mehr und mehr zu Dienstleistungen verlagert.
In einer Industrie 4.0 ist der Hardware-Markt durch deutsche Anbieter gut besetzt, denn hier werden die Maschinen gefertigt. Die Software, mit der diese Maschinen intelligent werden, entsteht in den Labors von Unternehmen wie Bosch und Siemens.
Wenn sich aber zwischen diese Polen Intermediäre setzen, die auf der Dienstleistungsebene den Konsumenten versorgen, weil sie die Daten und den Kundenzugang haben, dann kann ein guter Hersteller oder OEM zu einem Lieferanten degradiert werden. Er verliert den Kundenkontakt und die Möglichkeit, die Preise zu setzen, so wie es die OEM heute mit ihren Zulieferern machen. Wer die Daten hat, hat den Kunden. Die Gefahr besteht. Leugnen hilft nichts.
CW: Eine eigene deutsche oder europäische Plattform á la Android zu entwickeln erscheint mir undenkbar, zumal hiesige Hersteller, etwa aus der Autoindustrie, schon das Google-Betriebssystem integrieren.
Kagermann: Nein, aber es wird zum Beispiel Software-defined-Plattformen für Themen wie Gesundheit und Mobilität geben. Da wäre es möglich, eigene Lösungen zu entwickeln. Das muss nicht alles neu sein, man kann vorhandene Techniken wie Suchmaschinen verwenden. Die Systemkompetenz, diese Plattformen zu entwerfen und zu betreiben, sollte lokal verankert sein.
CW: Gibt es konkrete Arbeiten?
Kagermann: Es gibt den Arbeitskreis Smart Service Welt. Wir haben auf der diesjährigen CeBIT erste Umsetzungsempfehlungen an die Bundeskanzlerin übergeben. Diese präzisieren wir nun und erarbeiten weitere Umsetzungsbeispiele, um das zu veranschaulichen. Da ist noch einiges zu tun.
Henning Kagermann im Porträt
Insgesamt elf Jahre leitete Henning Kagermann die SAP, Deutschlands einzigen IT-Konzern von weltweiter Bedeutung, und führte sie in das Service-orientierte Zeitalter. Heute arbeitet er als Chef der Wissenschaftsakademie Acatech daran, den Standort Deutschland auf eine digitalisierte und vernetzte Weltwirtschaft vorzubereiten. In dieser Rolle konnte Kagermann das Vertrauen von Bundeskanzlerin Angela Merkel gewinnen: Er ist ein wichtiger Ratgeber für IT-Standortfragen.
Der Start: Promotion und Habilitation in Theoretischer Physik
Kagermann hat in seinem Berufsleben zwei bedeutende Weichenstellungen erlebt. Eigentlich hatte eine wissenschaftliche Karriere angestrebt und mit seiner Promotion und Habilitation in Theoretischer Physik einen belastbaren Grundstein dafür gelegt. Doch nach zwei Jahre Professur an der Technischen Hochschule seiner Heimatstadt Braunschweig zog es ihn in die Wirtschaft. 1982 heuerte er beim damals noch relativ kleinen Softwarehaus SAP an, um dort die Ressorts Kostenrechnung und Projektcontrolling zu leiten. "SAP war ein schöner Abschnitt in meinem Leben, ich habe viel erlebt. Als ich angefangen habe, hatten wir 80 Beschäftigte, heute sind es 50.000", sagte er in einem Interview, das die FAZ mit ihm zum Abschluss seiner SAP-Karriere im Jahr 2009 führte.
Einstieg und Aufstieg bis zum CEO bei SAP
Bei der SAP stieg Kagermann schnell auf, nach einigen Zwischenstationen berief ihn der Aufsichtsrat 1998 neben SAP-Gründer Hasso Plattner zum Co-CEO. 2003 wurde er alleiniger Konzernlenker. Er war damit der erste SAP-Chef, der sich nicht aus den Reihen der Gründer rekrutierte. Kagermann galt immer als Techniker, Zahlenmensch und nachhaltig ausgerichteter CEO. Er führte die SAP aus der ersten schweren Krise und bereitete das Unternehmen auf die Anforderungen einer Service-orientierten IT-Welt vor. Unter seiner Leitung startete SAP erste - allerdings etwas unbeholfene - Gehversuche im Cloud-Geschäft. Kagermann fädelte mit der Business-Objects-Übernahme zudem die bis dato größte Akquisition ein. 2009 übergab er den Stab an Leó Apotheker.
Acatec-Präsident und Merkels High-Tech-Berater
Der darauf folgende nahtlose Wechsel an die Spitze der Deutschen Akademie der Technikwissenschaften e.V. (Acatech) markiert den zweiten großen Schritt in Kagermanns Berufsleben. In seinem aktuellen Job agiert er seit 2009 an der Schnittstelle zwischen Wirtschaft, Wissenschaft und Politik. Schon 2010 machte Angela Merkel ihn zum Chef der von ihr geschaffenen "Nationalen Plattform Elektromobilität".
In der Forschungsunion, ein Gremium, das das Bundesforschungsministerium in Sachen High-Tech-Standort Deutschland berät, leitet Kagermann die Promotorengruppe Kommunikation. Hier entstanden erste Ideen und Initiativen zum Thema Industrie 4.0. Auch hier besteht eine wichtige Aufgabe darin, alle Stakeholder, also Wirtschaft, Arbeitnehmervertreter und Politik, ins Boot zu holen. Das Ergebnis spricht für sich: Kagermann ist es gelungen, die drei Branchenverbände Bitkom, ZVEI und VDMA sowie große Gewerkschaften auf der Plattform Industrie 4.0 zu versammeln. Zudem hat der Begriff Eingang in den aktuellen Koalitionsvertrag gefunden.