Die deutsche Veranstaltung von Gartner namens "CIO & IT Executive Summit" in München unterschied sich von seinem europäischen Pendant im vergangenen November thematisch vor allem durch "Industrie 4.0". Das Thema war omnipräsent. Dabei handelt es sich laut Gartner derzeit noch um ein weitgehend auf die Fertigungsindustrie in Deutschland, Österreich und der Schweiz fokussiertes Phänomen. Doch tauge es durchaus als globales Konzept und "Roadmap für die digitale Zukunft in der kommenden Dekade".
Mit transformatorischer Komponente
"In Deutschland war Innovation meist inkrementell", stellte Frank Ridder, Research Director für den Raum DACH, in seinem Eröffnungsvortrag fest: "Wir haben die Dinge immer mehr verbessert - sogar die Dinge, die gar nicht mehr zu verbessern waren." Demgegenüber gehe es in der IT heute mehr denn je darum, den Wertbeitrag zu beschleunigen: "Und da reichen inkrementelle Verbesserungen nicht mehr aus."
Ohnehin sei Innovation mehr als eine ständige Verbesserung, so Ridder. Sie habe eine "transformatorische" Komponente. Eine Innovation mit geschäftsverändernder Kraft sei Industrie 4.0. Um sie in die Praxis umzusetzen, brauche es einen "Kulturwandel". Hierzulande hätten die Verantwortlichen Jahrzehnte darauf verwendet, die Fehlervermeidung zu perfektionieren. Jetzt bedürfe es einer "Fehlerkultur als Teil des Risiko-Managements".
Darüber hinaus sei für Industrie 4.0 auch "Collaboration 4.0" nötig, erinnerte der Chef-Marktforscher für den deutschsprachigen Raum. Sogar im Industrie-4.0-Umfeld herrsche oft ein "extremes Silodenken". Und das erweise sich als hinderlich für eine integrierte Umgebung, die alle Geschäftseinheiten, einschließlich des Betriebsrats, alle Mitarbeitergenerationen und dazu alle externen Partner - vom Lieferanten bis zum Kunden - umfasse.
Der Schlüssel zu Industrie 4.0 sei ein unternehmensweites Change-Management, pflichtete Top-Analyst Prentice seinem deutschen Research-Kollegen bei. Darüber hinaus gebe es ein paar Dinge, die unternehmensübergreifend geregelt werden müssten. Dazu gehöre Klarheit bezüglich der Urheberrechte und des Datenbesitzes. Überhaupt müsse die Gesetzgebung ein Digitalbewusstsein entwickeln ("become digitally aware").
Die erste Stufe des Digital Business
Wie sich die Welt verändert, können wir nur teilweise beeinflussen, konstatierte Gartner-Analyst Stephen Prentice auf dem "CIO & IT Executive Summit" in München. Bevölkerungsexplosion, Überalterung und Ressourcenverknappung entziehen sich unserer Kontrolle. Aber wie wir mit solchen Beschränkungen umgehen, haben wir in der Hand. Helfen können:
Ambient Computing;
intelligente, miteinander verbundene Dinge;
überall verfügbare Information.
Darum geht es bei Industrie 4.0. Und insofern ist sie quasi die erste Stufe des Digital Business.
CIOs müssen mit Stakeholdern reden
Und inwieweit sind die IT-Verantwortlichen von all dem betroffen? "Die CIOs müssen mit allen Stakeholdern reden, um neue Geschäftsmodelle zu entwickeln", forderte Prentice seine Zuhörer auf. Er ging dabei ins Detail und legte den IT-Verantwortlichen zwölf Dinge ans Herz, die sie für den IT-Beitrag zu Industrie 4.0 beachten beziehungsweise tun sollten.
1. Nur keine Panik!
Industrie 4.0 ist eine Reise, nicht das Ziel. Es gibt mehr als eine mögliche Destination. Und höchstwahrscheinlich wird es eine Industrie 5.0 geben. Zwar wissen wir noch nicht, wie sie aussehen wird, doch mit einiger Sicherheit dürfte sie künstliche Intelligenz umfassen, also die Optimierung des Outputs mit Hilfe zielorientierter maschineller Entscheidungen. Fazit: Industrie 4.0 ist kein Sprint, sondern ein Marathon. Die gute Nachricht: Wenn man nicht so genau sieht, wo es hingeht, kann man bislang auch nicht wirklich eine Gelegenheit verpasst haben.
2. Integrieren Sie Informationstechnik und operationale Technik!
Unter operationaler Technik (OT) versteht Gartner Ingenieurtechnik mit einer Langzeitperspektive. Sie liefert Information über das, was im Inneren der Produktionssysteme vor sich geht. Dabei ist sie digital, aber nicht integriert. IT hingegen ist in vielfacher Hinsicht das Gegenteil davon: kundenzentriert, eher kurzlebig, digital und hochintegriert. Was die beiden Technikarten hindert, zusammenzuarbeiten, ist ein gewisses gegenseitiges Misstrauen. Deshalb ist Change-Management so wichtig.
3. Steigern Sie den Reifegrad Ihres Fertigungsprozesses!
Lernen Sie Ihre Mitspieler auf der Produktionsseite kennen. Verstehen Sie deren Sorgen und Hoffnungen und planen Sie den gemeinsamen Fortschritt auf einem fünfstufigen Weg. Er führt von autonomen Fertigungsstätten über funktionale Exzellenz und integrierte Fertigung bis zur anforderungsgetriebenen Produktion und schließlich zur virtuellen Fertigung.
4. Integrieren Sie Ihre Informations-Assets!
Reißen Sie Ihre Silos nieder und öffnen Sie Ihre Unternehmenssysteme auch für externe Informationsquellen: Wetterdaten, Social Media etc. "Ihre wertvollsten Daten könnten von außerhalb Ihres Unternehmens stammen", konstatierte Gartner-Analyst Prentice.
Allerdings müssen interne und externe Informationen zu einem medienbruchsfreien System zusammengefasst werden. Zu klären sind hier Fragen von Eigentum, Datenschutz, Ethik etc. "Etablieren Sie einen Standard für den Umgang mit Daten und Informationen", rät Prentice, "ein System von Werten und Prinzipien, das allen digitalen Interaktionen mit Menschen, Geschäften und Dingen zugrunde liegt."
5. Verinnerlichen Sie das Internet der Dinge!
Das Internet of Things (IoT) ist der international gebräuchliche Begriff für das, was die Grundlage der Industrie 4.0 - und des digitalen Business - bildet. Prentice empfahl, sich dem Thema entlang der "fünf E" zu nähern: Embrace, explore, explain, exploit, extend.
6. Experimentieren Sie mit Smart Machines!
Virtuelle Assistenten für die Entscheidungsunterstützung, neuronale Netze, cyber-physikalische Systeme, Roboter und 3D-Druck mögen aus der heutigen Perspektive noch als Spielerei erscheinen. Aber es lohnt sich, ihre Möglichkeiten auszuloten. Allerdings sollte man immer die Business-Innovationen im Auge behalten und nicht blindlings den technischen Innovationen hinterherlaufen. Sonst gibt man zu viel Geld für Prototypen aus, die das Unternehmen am Ende nicht weiterbringen.
7. Werden Sie ein Digital Business Leader!
Der CIO sollte sich für das digitale Business engagieren. Dazu muss er aber seinen Elfenbeinturm verlassen. Denken Sie von innen nach außen, rief Prentice die IT-Chefs auf, und verbringen Sie etwa 30 Prozent Ihrer Arbeitszeit mit Menschen von außerhalb Ihrer Organisation. Zudem müsse der IT-Verantwortliche lernen, den Anwender in den Mittelpunkt seiner Überlegungen zu stellen, ergänzte der Analyst. Dabei seien die neuen, "digitalen" Ideen immer mit dem zentralen Ziel und Zweck des Unternehmens zu verbinden. Schließlich sollte der CIO seinen C-Level-Kollegen helfen, zu verstehen, was alles möglich ist.
8. Scheuen Sie sich nicht, den Maschinen ein paar Entscheidungen anzuvertrauen!
Der Fachbegriff dafür ist Advance Automated Decision Making. Es gibt schon einige Bereiche, wo Maschinen statt des Menschen entscheiden, beispielsweise bei der Einparkhilfe für Kraftfahrzeuge. Aber vor allem, wenn es um lebenswichtige Situationen geht, haben die Menschen Angst, die Kontrolle zu verlieren. Dabei sind maschinelle Entscheidungen unzweifelhaft schneller, konsistenter und objektiver. Hier heißt es, Vertrauen aufzubauen und eventuell eine letzte Illusion von Kontrolle zu erhalten, beispielsweise durch ein funktionsloses Lenkrad im selbstfahrenden Auto.
9. Denken Sie wirklich alles neu!
Jedes Produkt, jeder Service, jeder Prozess und jedes Device wird früher oder später digital sein. Denken Sie sich einfach mal Sensoren und Connectivity zu allem hinzu. Sie sollten Ihr gesamtes Business-Modell einer solchen Denkübung unterziehen. Entwickeln Sie auch abwegige Ideen. Und erwarten Sie nicht, dass alles gleich funktioniert.
10. Führen Sie bimodale IT ein!
Die Koexistenz zweier kohärenter IT-Modi (einer auf Zuverlässigkeit, einer auf Agilität getrimmt) gehört zu den Lieblingsideen der Gartner-Analysten. Stabilität und Schnelligkeit lassen sich so in der jeweils angemessenen "Geschwindigkeit" vorantreiben.
11. Kollaborieren Sie!
Werden Sie ein Anwalt für Industrie 4.0. Schließen Sie sich Peer Groups, Konsortien und Standardisierungsgremien an. Denn die besten Ideen müssen nicht zwangsläufig aus dem eigenen Unternehmen kommen.
12. Halten Sie die Augen offen!
Die Dinge verändern sich - ständig. Erfolgreiche Unternehmen wie Google und Amazon wissen das. Sie sind immer auf der Suche nach neuen Entwicklungen und Möglichkeiten.