Peter Stephan (33) ist der Prototyp eines Spezialisten, der sich mit Industrie 4.0 beschäftigt. Nach dem Maschinenbaustudium hat er am Deutschen Forschungszentrum für Künstliche Intelligenz promoviert und tief in die Informatik hineingeschaut: "So kann ich beide Welten verbinden." Für die neue, digitale und vernetzte Welt der Fertigung braucht es Verständnis für Ingenieurwissenschaften und Informatik zugleich: "Industrie 4.0 setzt diesen interdisziplinären Spagat voraus."
Den erlernen die Studenten des Studiengangs Maschinenbau mit angewandter Informatik beispielsweise an der TU Kaiserslautern. Doch solche Studiengänge bringen derzeit zu wenig Absolventen hervor, als dass der Bedarf aus der Industrie gedeckt werden könnte. Stephan ist inzwischen in der Industrie bei der Wittenstein-Gruppe angekommen. Er ist einer von vielen, die sagen: "Wenn die vierte industrielle Revolution glücken soll, brauchen wir deutlich mehr Nachwuchsfachkräfte mit einem interdisziplinären Ausbildungshintergrund."
Fachkräfte mit interdisziplinärer Ausrichtung gesucht
Die digitale Revolution in den Fabriken hat längst eingesetzt, und sie trägt viele Namen. Industrie 4.0, Integrated Industry, Industrial Internet oder sich selbst organisierende Produktion bedeuten, dass am Produktionsprozess beteiligte Komponenten wie Maschinen, Betriebsmittel, Lager oder Logistik über Sensoren und Netzwerke selbständig miteinander kommunizieren. Software verleiht den Werkstücken Intelligenz, sie teilt den Maschinen mit, wie sie zu bearbeiten sind. Unikatfertigung mit den Kostenvorteilen einer Großserie - Industrie 4.0 soll das möglich machen. Cyber-physische Systeme sind der technische Schlüssel dafür. Diese Systeme verbinden Prozesse, Produkte, Betriebsmittel und Beschäftigte, kommuniziert wird via Internet. Solche IT-Systeme werden bei Bosch Rexroth, Miele und einer neuen Produktionslinie von BMW in der Praxis erprobt.
Wittenstein gehört ebenfalls zu den Industrie-4.0-Pionieren und will sich vom Anbieter elektromechanischer Antriebssysteme zum integrierten Mechatronikkonzern wandeln. Künftig sollen intelligente Antriebssysteme für die Fabrik der Zukunft entwickelt werden. "Wir haben schon ein anschauliches Beispiel für eine Industrie-4.0-gerechte Auslegung von Antriebssystemen", sagt Stephan stolz. Tool Drives ist ein mechatronischer Systembaukasten für die vollautomatische Holzbearbeitung. Mit den direkt angetriebenen Werkzeugen können Bohrbilder flexibel und individuell gestaltet werden. Entwickelt hat das System ein Team aus Informatikern, Ingenieuren und Praktikern. "Künftig werden in der Produktentwicklung solche Teams die Regel sein. Fachkräfte mit interdisziplinärer Ausbildung werden dabei als Übersetzer zwischen den Disziplinen agieren", sagt Stephan. Parallel baut Wittenstein einen Industriecampus auf, in dem die Teilnehmer für die Schnittstelle Informatik und Ingenieurwissenschaften praxisnah geschult werden.
"Die Besonderheit an Industrie 4.0 ist, dass mit Maschinenbau, Automation und IT drei unterschiedliche Technologien zusammentreffen", sagt Rainer Glatz, Leiter der Geschäftsstelle Plattform Industrie 4.0, einer gemeinsamen Initiative von Bitkom, VDMA und ZVEI. Ihr Ziel ist die Entwicklung von Technologien, Standards, Geschäfts- und Organisationsmodellen sowie die Umsetzung der neuen industriellen Produktion.
Im Frühjahr 2013 wurde der Academy Cube gegründet. Die europaweite E-Learning-Plattform bietet sechs Curricula und zwölf Kurse aus dem Umfeld von Industrie 4.0 kostenlos an. Der Academy Cube ist ein Bündnis öffentlicher Einrichtungen und internationaler Unternehmen, darunter Bosch. Stefan Ferber, Director Business Development im Software- und Systemhaus Bosch Software Innovations: "Anfang 2012 haben wir begonnen, uns strategisch mit Industrie 4.0 zu beschäftigen. Heute bieten wir das erste Produkt an" - ein Serviceportal, das Geschäftsprozesse und Maschinen vernetzt bis hin zur Logistik und zum Kunden.
Informatiker rücken an Produktion ran
Durch die weltweit rund 260 Produktionswerke hat Bosch Mitarbeiter mit tiefem Fertigungs-Know-how, und dank der Akquise von Softwarefirmen auch IT-Wissen: "Ingenieure und Informatiker bringen wir nun in Teams zusammen, um innovative Produkte und Dienstleistungen anzubieten." Diese Teambildung wird aber seiner Meinung nach nicht reichen, um den qualifizierten Bedarf der Industrie an 4.0-Experten zu decken. Auch Ferber plädiert für Studiengänge, die beide Felder abdecken, ähnlich dem Wirtschaftsingenieur. Industrie 4.0 wird die Arbeitswelt von Informatikern in Anwenderfirmen, Software- und Beratungshäusern stark verändern, meint Ferber: "Sie rücken wesentlich näher an die Produktion heran." Andererseits müsse die Maschinenbaufraktion in die abstrakte Welt der Modellbildung eintauchen. Im Idealfall kennt sich jemand in beiden Welten aus.
"Die Branchenverbände sitzen bereits mit dem wissenschaftlichen Beirat an einem Tisch und planen, Studiengänge im Sinne von Industrie 4.0 zu reformieren", sagt Wolfgang Wahlster, Vorsitzender des Deutschen Forschungszentrums für Künstliche Intelligenz (DFKI) in Saarbrücken und Vordenker der Industrie 4.0. Er konzipiert schon das nächste Projekt, eine logische Folge der digitalen Produktion: Wie sieht das Servicegeschäft mit intelligenten Produkten aus, die viel Software in sich tragen? Dieses Projekt wird auf der CeBIT 2014 vorgestellt.