Die Vision von Industrie 4.0 haben wir schon hundert Mal gehört. Sie ist uns allen bekannt: "Industrie 4.0, der industrielle Teil des Internet der Dinge, soll neue Businessmodelle und Wertschöpfungsnetzwerke ermöglichen. Ein Vorteil daraus liegt im wirtschaftlichen Potenzial, welches als sehr hoch eingestuft wird."
Das prognostizieren die kürzlich veröffentlichten Studien "Industrie 4.0 - Volkswirtschaftliches Potenzial für Deutschland" des BITKOM und des Fraunhofer-Institut für Arbeitswirtschaft und Organisation. Experten sprechen von 30% Effizienzsteigerungen bei Unternehmen, welche Industrie 4.0 Programme umsetzen. Mehr als 1,7 Prozent zusätzliches Wachstum in den Branchen Anlagenbau, Elektrotechnik, Automobilbau, chemische Industrie, Landwirtschaft und Informations- und Kommunikationstechnologie sollen durch Industrie 4.0 möglich sein.
Dieser Effekt kann einerseits durch den Einsatz von Technologien wie Embedded Systems, Smart Factory, robuste Netze, Cloud-Computing und IT-Security erreicht werden. Andererseits erfordert Industrie 4.0 Organisationsänderungen durch Kompetenzerweiterung und Prozessinnovationen.
Der IT-Verband VOICE e.V. spricht von den Koordinaten Technologie und Organisation/Geschäftsmodell. Erst wenn sich Prozesse und Geschäftsmodell gleichzeitig mit der Technologie ändern, spricht man von digitaler Transformation.
Pragmatische Ansätze sind gefragt
Auf den großen Leitmessen sieht man virtuelle Fertigungsstrassen und vollautomatisierte Fabriken. Man kann sich inspirieren lassen und in die Zukunft schauen. Doch der Mittelstand benötigt pragmatische Ansätze, mit denen man erste Erfahrungen sammeln kann.
Die zentrale Fragen für viele Mittelständler lauten:
Was ist ein möglicher Einstieg in den Themenkomplex Industrie 4.0 ohne die ganze Firma umbauen zu müssen?
Was ist ein mögliches Pilotprojekt mit überschaubaren Investitonen?
Mögliche Anwendungen, die man schrittweise einführen kann sind:
Predictive Maintenance (Vorbeugende Wartung/Instandhaltung)
Defect-Trackingsysteme (Fehlererkennung und -verfolgung)
Werkstückverfolgung (Wann ist was wo?)
Die Vernetzung innerhalb der Fertigung, und von Fertigungsprozessen mit kaufmännischen Prozessen bietet effiziente Logistikabläufe. Die Auswertung von Prozessdaten, die erst durch die Digitalisierung der Fertigung möglich werden, bietet eine hocheffiziente Steuerung der Maschinen, was wiederum zu kürzeren Produktionszyklen und Energieeinsparungen führt. Produkte, die nur in Serienfertigung möglich waren, können jetzt hochindividuell gefertigt werden.
Mit all den Angeboten zu Industrie 4.0 steht der Mittelstand vor einem üppigen Blumenstrauß an neuen Möglichkeiten und Mehrwerten. Jetzt muss man die richtigen Mehrwerte für sich rausgreifen. Auf der Suche nach dem richtigen Weg scheint es jeder besser zu wissen, dabei ist der Grundsatz immer der Gleiche: "Transformation mit Pragmatismus gepaart bietet Fortschritt bei angemessenem Risiko."
Industrie 4.0 erfordert Transformation
Damit alle Beteiligten über das gleiche Thema sprechen und Angebote miteinander verglichen werden können, muss man den Begriff Industrie 4.0 für jeden Kontext definieren. In diesem Artikel sprechen wir von Industrie 4.0 als strategischen Begriff. Er bezeichnet die Vernetzung von allen Aspekten der Fertigung, innerhalb der Fertigung und von der Vernetzung zwischen Prozessen innerhalb und außerhalb der Fertigung.
"Im Mittelpunkt von Industrie 4.0 steht die echtzeitfähige, intelligente, horizontale und vertikale Vernetzung von Menschen, Maschinen, Objekten und IKT-Systemen zum dynamischen Management von komplexen Systemen." so lautet die häufig als Referenz dienende Definition der Plattform Industrie 4.0, eines Gemeinschaftsprojekts der Wirtschaftsverbände BITKOM, VDMA und ZVEI.
Die Konsequenzen daraus sind vielfältig und tiefgehend:
Flexible Produktionsanlagen für dynamische Produkte ersetzen starre Produktionsanlagen für einzelne Produkte.
Es entstehen neue Unternehmen: Dienstleister und Makler werden zu Bestandteilen der Industriebranche.
Agile Modelle und selbststeuernde Systeme lösen hierarchische Systeme ab.
Die Produktdaten werden zu PLM-Daten. Das Datenmanagement erstreckt sich grenzenlos über den gesamten Produktentstehungsprozess bis zur Fertigung.
Jürgen Leuschel, Geschäftsführer der MID GmbH aus Nürnberg, erhofft sich durch Industrie 4.0 ein großes Momentum für die Wirtschaft. "Allerdings", so Leuschel "ist Industrie 4.0 mehr als nur die Vernetzung von Werkstücken mit Maschinen. Diese Technologie setzt ein hochpräzises Wissen über die Abläufe im Unternehmen vom kaufmännischen ERP-Prozess bis in die Tiefen der Fertigung voraus."
Herausforderungen in der Umsetzung
Aus dem VDE-Trendreport 2015 gehen als größte Barrieren im Hinblick auf die Ausbreitung von Industrie 4.0 in Deutschland folgende Faktoren hervor:
Fragen der IT-Sicherheit
Fehlende Normen und Standards
Hohe Investitionskosten und Komplexität
Migrationsprobleme von klassischer Industrie zu Industrie 4.0 sowie unzureichende branchenübergreifende und interdisziplinäre Zusammenarbeit
Fehlende Anwendungsfälle sowie Geschäftsmodelle
Nicht ausreichend leistungsfähige Informations- und Kommunikationsinfrastruktur
Diese Herausforderungen zu meistern und alle bestehenden Schwachstellen vollständig zu beheben ist sicherlich nicht einfach. Doch können netzwerkübergreifende Standards eine gute Grundlage dazu bieten, Vorgehensweisen zu standardisieren und den Verantwortlichen einen erprobten Handlungsleitfaden zu liefern.
Typische IT-Systeme in der heutigen Produktion sind beispielsweise das ERP für die Produktionsplanung, das PLM für die Produktverwaltung und das SPS für die Produktionssteuerung. Einige Funktionen dazu liegen ausgelagert in einem Manufacturing Execution System (MES). Eine auftragsorientierte und dezentral gesteuerte Produktion wird dies radikal verändern und einen anderen Funktionsumfang aufweisen.
Die zweite Veränderung ist vielleicht sogar noch bedeutender, denn sie betrifft den Umgang mit erfassten und berechneten Informationen. Wertschöpfungsketten über Firmengrenzen hinweg sind mit der Notwendigkeit eines schnellen und abgesicherten Austauschs großer Datenmengen verbunden.
Eine wichtige Voraussetzung für die Transformation ist hier beispielsweise, dass die Digitalisierung von Prozessen und Abläufen die Kenntnisse über diese zu digitalisierende Prozesse und Abläufe voraussetzt. Ein Enterprise-Architektur-Management bietet eine gute Übersicht und kann dabei exzellente Dienste leisten.
Lösung durch Modelle
Der Mittelstand steht bei der Digitalisierung diversen Herausforderungen gegenüber. Die Prozesse müssen aufgenommen und dokumentiert werden, damit sie digitalisiert werden können. Neue Geschäftsmodelle erfordern eine große Offenheit und Akzeptanz neuer Denkansätze und das Abweichen der bekannten Wege.
Industrie 4.0 Projekte sind in der Regel keine Projekte, die auf der grünen Wiese starten, sondern haben meist einen großen Anteil an Legacy-Systemen, die eingebunden werden müssen.
Gerade der Mittelstand leistet sich keine personell großzügig ausgestatteten Prozessorganisationen und ist auf Standardabläufe angewiesen. Somit wird er solche standardisierten und pragmatischen Ansätze bevorzugen.
Modelle können hierbei unterstützen, den anstehenden Paradigmenwechsel aktiv mitzugestalten. Die Herausforderung der Integration von Partnern und Lieferanten, sowie der Maschinen und Systeme kann erst mit Hilfe von Modellen systematisiert werden.
Drei große Bereiche werden über die Modelle abgedeckt und dokumentiert
Prozesse, um die Abläufe zu kennen, die man einsetzen muss. Nicht nur innerhalb der eigenen Abteilung, sondern zwischen Maschinen, Mitarbeitern, Partnern, Tools und Kunden.
Enterprise Architektur stellt die Zusammenhänge der Organisation, der Ziele, der Infrastruktur und der Prozesse dar.
Daten sind die Grundlage für den unternehmerischen Erfolg, denn die Produktionsdaten werden zu Produktdaten und Produktlebenszyklusdaten. Sie steuern die Abläufe vor, während und nach der Fertigung. Sie müssen in Echtzeit aufgenommen und verarbeitet werden.
Der Mittelstand benötigt pragmatische Ansätze, die hohe Synergie bieten. Jürgen Leuschel empfiehlt den Dienstleistern daher sich auf die heterogene Toollandschaft der Unternehmen vorzubereiten und Fähigkeiten aufzubauen, um toolagnostisch beraten zu können. Dabei helfen Analyseplattformen, die unabhängig von der beim Unternehmen eingesetzten BPM- oder EA-Landschaft die Informationen einsammeln und auswerten können.
Standardisiertes Vorgehen zur Einführung von Industrie 4.0
Prinzipiell lässt sich ein typischer Umsetzungsansatz definieren, der sich schon in anderer Form seit Jahren bewährt hat, so Jürgen Leuschel von der MID GmbH.
Ein allgemeines Vorgehen beinhaltet folgende 2 Schritte:
1. Bestandsaufnahme
Zu Beginn erfolgt ein Assessment, um die Ausgangslage zu ermitteln. Relevante Ergebnisse in folgenden Bereichen sind benötigt:
Enterprise Architektur
Geschäftsprozesse und Workflows
Datenmanagement
2. Definition der einzelnen Abstraktionsebenen, die aufeinander aufbauen.
Festlegung der Strategie
Die Strategie beschreibt die Vision, wie sich das Unternehmen für den Bereich Industrie 4.0 aufstellt. Wenn es um die Strategie für Industrie 4.0 geht, ist eine Frage, ob die Intelligenz im Endprodukt für den Kunden oder in der Fertigung liegt.Definition der Ziele
Bei den Zielen sucht man nach Potenzialen, die man umsetzen möchte. Beispiele dafür sind die Wartungskostenreduktion, Energiekostenreduktion oder Kundenzufriedenheit erhöhen.Analyse des Geschäftsmodells
Mit dem Ziel der Wartungskostenreduktion kann man nun einen Business Case rechnen. Dazu sind geeignete Annahmen zu treffen.Maßnahmen
Aus den Annahmen und Zielen kann man nun Maßnahmen ableiten. Diese Maßnahmen des Industrie 4.0 Programmes können nun gegen das Stärken-/Schwächenprofil aus dem Assessment abgeglichen werden. Diese Maßnahmen werden in Cluster aufgeteilt und nach Priorität ausgewählt.
Erfolgsfaktoren
Für eine nachhaltige Umsetzung eines Industrie 4.0 Programms sind die folgenden Erfolgsfaktoren zu beachten:
Etablierung von Industrie 4.0 als Management-Aufgabe
Standardisiertes und prozessorientiertes Vorgehensmodell
Einheitliches Vorgehensmodell für eine kontinuierliche Verbesserung und zur Steigerung von Effizienz und Effektivität.
Ausprägung und Umsetzung der Architekturprinzipien.
Prozess- beziehungsweise Fachdomänen-Verantwortung an Stelle Applikations-Verantwortung.
Definition, Festlegung und fortlaufende überprüfung von Kosten- und Nutzenparametern durch KPIs.
Ersteinstieg in Teilbereichen bzw. Abteilungen auf Basis des geplanten Gesamtmodells.
Durch das Assessment hat das Unternehmen den Vorteil auf einen Prozessrahmen blicken zu können, anhand dessen schnelle Bewertungen und Umsetzungsempfehlungen erstellt werden können. Während bislang aus Erfahrungen und Bauchgefühlen entschieden wurde, kann nach der Prozess-, Daten und Architekturaufnahme das Bauchgefühl durch Zahlen begründet werden.
Fazit:
Der Mittelstand profitiert mehr als nur technologisch von der Industrie 4.0 Bewegung. Durch die Digitalisierung können auch in Produkten, Prozessen und Organisation erhebliche Effizienzsteigerungen vorgenommen werden.
Die erfolgreiche Umsetzung benötigt ein gutes Business-Process-Management (BPM), Enterprise-Architektur-Management (EAM) und Daten-Management, welches schlank und toolagnostisch sein sollte. (bw)