Wer im Einzelhandel sein Geld verdienen muss, braucht beides: Ideen, um seinen Laden interessant zu machen, und ein Konzept, wie das Einkaufserlebnis digital umgesetzt werden kann. Die vielleicht wichtigste Frage dabei lautet: Wofür steht die eigene Marke?
Die Schlangen vor der Geschäftsfiliale von Abercrombie & Fitch in nobler innenstädtischer Lage waren lang. Über Monate standen sich Kaufwillige in der Fußgängerzone in München vor dem angesagten Konsumtempel die Füße platt. Was nicht bedeutete, dass sie dann auch eingelassen wurden. Türsteher versperrten nicht genehmen Kunden den Zutritt. Ein nicht ganz nachvollziehbarer Kodex unterschied zwischen den Erwünschten und den anderen. Michael Jeffries, CEO von Abercrombie, hatte ein genaues Bild seiner Kunden vor Augen, als er 2006 in einem Interview mit Salon.com sagte: "We want to market to cool, good-looking people. We don`t market to anyone other than that". Jeffries hoffte, durch Ausgrenzung ein Kauferlebnis zu schaffen, das maximale Konsum-emotionen garantieren sollte.
Die Situation vor den Abercrombie-Läden hat sich mittlerweile erheblich geändert. Schlangen gibt es nicht mehr. Das Modelabel ist massiv in die Kritik geraten: Die Liste der Vorwürfe reicht von Kinderarbeit über menschenrechtsverletzende Arbeitsbedingungen, krebserzeugendes Benzidin in Kleidungsstücken bis hin zu diversen Vorkommnissen diskriminierenden Verhaltens gegenüber dem eigenen Personal oder Kunden.
Als schließlich 2013 publik wurde, dass Abercrombie fehlerhafte Bekleidung lieber vernichtet, als sie an soziale Einrichtungen zu spenden (das Unternehmen wollte den Eindruck vermeiden, auch Arme könnten sich seine Mode leisten), war der Bogen endgültig überspannt. Die Modekette erlebte, was ein Shitstorm in den sozialen Netzen bedeutet. Öffentlich wurde dazu aufgerufen, vorhandene Abercrombie-Bekleidung an Obdachlose zu verschenken. Der Aktienkurs der US-Modekette hat sich mittlerweile fast halbiert. Das Unternehmen kämpft mit Verlusten und Umsatzrückgängen.
Top oder Flop in kürzester Zeit
Abercrombie & Fitch ist ein gutes Beispiel dafür, wie ein Unternehmen es schafft, sich ein Image aufzubauen und damit Emotionen beim Kunden zu wecken - und diesen Erfolg, beschleunigt duch die Mechanismen des Social Web, quasi im Zeitraffertempo wieder zu vernichten. Solche Risiken bezüglich des Konsumverhaltens mögen sich insbesondere bei Modelabels zeigen, die ihren Erfolg auf Emotionen aufbauen. Prinzipiell gelten sie aber für alle Branchen. International ausgerichtete Unternehmen müssen immer gewahr sein, dass negative Nachrichten von einer sich im digitalen und mobilen Umfeld bewegenden Kundschaft rigoros öffentlich angeprangert werden. Der Geschäftserfolg hängt demnach immer stärker davon ab, ob und wie es gelingt, mit Kunden und Interessenten auf den sozialen Plattformen in guten Kontakt zu treten. Der Öffentlichkeit dabei etwas vorzumachen, ist riskant. Besser ist es, sich zu überlegen, wie man die eigenen Unternehmenswerte im Social Web präsentieren kann.
Wie es nicht gemacht werden sollte, zeigt das Beispiel mancher Banken und Versicherungen. Die Beratungsgesellschaft Faktenkontor und die Marktforscher Toluna hatten bereits vor einem Jahr in Kooperation mit dem Institut für Management- und Wirtschaftsforschung (IMWF) die Studie "Social-Media-Atlas 2013" initiiert. 3426 Internet-Nutzer ab 14 Jahren wurden in Form eines Online-Panels zu ihrer Social-Media-Nutzung befragt. Heraus kam, dass "Banken und Versicherer im Web 2.0 in großem Stil an ihren Zielgruppen vorbeikommunizieren." Roland Heintze, Social-Media-Experte bei Faktenkontor, stellt fest, dass es für eine erfolgreiche Social-Media-Strategie nicht ausreiche, "zu wissen, was man sagen will. Man muss auch herausfinden, was die Zielgruppe hören will, wo sie es hören will - und was die Zielgruppe selbst zu sagen hat."
Einzelhandels-Defizite
Der deutsche Einzelhandel hat hier deutliche Defizite. Ein durchgängiges, emotionalisiertes Einkaufserlebnis, das die Brick-and-Mortar-Filialen ebenso umfasst wie die Website und den Social-Media-Auftritt, ist nahezu nirgends zu entdecken. Das hat dazu geführt, dass die Kunden ihr Einkaufsverhalten geändert haben - wie man an den bereits teilweise verödenden deutschen Innenstädten gut erkennen kann.
Weltmeister im Online-Kauf
Die Deutschen kaufen heute anders ein als noch vor ein paar Jahren. Wie das Marktforschungs- und Beratungsunternehmen TNS Infratest im Juli 2014 feststellte, shoppen Konsumenten hierzulande zunehmend digital und mobil. Mit ihren "digitalen Devices" würden die Bürger zwar seltener auf Entertainment-Angebote und Social Media zurückgreifen als der weltweite Durchschnitt. "Dafür shoppen sie deutlich mehr online", schreibt TNS aufgrund der Ergebnisse der weltweit mit 55.000 (in Deutschland 4000) regelmäßigen Online-Surfern erarbeiteten Studie "Connected Life".
Mit einer wöchentlichen Online-Shopping-Quote von 60 Prozent liegen die Deutschen beim E-Commerce weit über dem internationalen Durchschnitt. O-Ton TNS Infratest: "Der gesamte Kaufentscheidungsprozess verläuft heute stark digital. E-Commerce-Plattformen spielen auf dem gesamten Path to Purchase eine enorme Rolle - Menschen entdecken Produkte hier, vergleichen Marken und Preise, planen ihren Einkauf und entscheiden sich letztlich auch hier für die Produkte."
Der Einzelhandel bekommt das neue Online-Wettbewerbsumfeld deutlich zu spüren. Weil der Konsument laut einer Umfrage des Handelsverbands Deutschland (HDE) auf Online-Shopping-Tour wandelt, verwaisen die Fußgängerzonen zusehends. Drei Viertel der deutschen Einzelhändler klagen bereits darüber. HDE-Hauptgeschäftsführer Stefan Genth sagt, ein Drittel der Befragten spreche sogar von "stark rückläufigen Käuferzahlen". Sieht man einmal von bevorzugten Städten wie Hamburg oder München ab, so lässt sich dieser Niedergang in den Einkaufsstraßen deutscher Städte längst beobachten.
Multi-Channel-Kaufverhalten
Die Bedeutung des Online-Shoppings haben auch die Wirtschaftsprüfer und Unternehmensberater von PricewaterhouseCoopers (PwC) in einer Studie festgehalten. Sie interessierten sich besonders für das sogenannte Multi-Channel-Kaufverhalten, also den Konsum sowohl in der Online- als auch der realen Welt. Die Analysten kamen zu ganz ähnlichen Ergebnissen wie TNS Infratest. Die Studie "Total Retail - Wie der Multi-Channel-Konsum das Geschäftsmodell des Handels von morgen verändert" bestätigt, dass deutsche Konsumenten inzwischen den digitalen Einkauf bevorzugen. Von den 1005 befragten Bürgern gaben gut 70 Prozent an, regelmäßig sowohl online als auch im Ladengeschäft einzukaufen. Immer häufiger nutzten die Konsumenten zum Einkaufen auch ihre Smartphones (22 Prozent) und Tablets (21 Prozent).
Keine digitale Ansprache
Doch hier erreichen die typischen deutschen Einzelhändler ihre Kunden nicht. Mehr als zwei Drittel schaffen es nicht, ihre Kunden auf digitalem Weg anzusprechen. Nur rund 30 Prozent der Händler nutzen digitale Plattformen, um ihre Produkte zu zeigen und Angebote schmackhaft zu machen. Oft haben sie dafür noch nicht einmal eine Strategie entwickelt.
Marco Atzberger, Geschäftsführer des EHI Retail Institute in Köln, warnt: "Der Vormarsch von Smartphones und Apps erfordert ein radikales Umdenken im Handel."
Wer sich nicht an das veränderte Kundenverhalten anpassen könne, werde vom Markt verschwinden, prophezeit auch der Trendforscher und Kommunikationsdesign-Professor Peter Wippermann.
Heute schon haben sich E-Commerce-Spezialisten wie Zalando, Brands4friends, Mirapodo und andere etabliert. Sie setzen die Ladengeschäfte mächtig unter Druck. Dabei lernen sie sogar vom stationären Einzelhandel, indem sie sich bemühen, auch im E-Commerce ein veritables Einkaufserlebnis zu schaffen.
Wie wichtig der Faktor digitales Einkaufserlebnis ist, dieser Frage widmeten sich das E-Commerce-Center Köln (ECC) und dort das Institut für Handelsforschung (IHF) gemeinsam mit Coremedia, IBM und T-Systems Multimedia Solutions. Die Schlüsselfrage für die Experten des ECC ist dabei, ob und wie sich die Erfahrungen des realen Einkaufs in die digitale Welt übertragen lassen. Das E-Commerce-Center und seine Partner interviewten deshalb 15 führende Köpfe des Multi-Channel-Handels. Hierzu zählten Marketing-Experten der Schuhhandelsgruppe ANWR, des Modehauses C&A, der Parfümeriekette Douglas oder des Versandhändlers Otto.
Auch der Online-Handel lernt dazu
Die Ergebnisse können nicht wirklich überraschen: Auch beim Online-Shopping wird der Faktor Erlebnis immer wichtiger. Gerade aber in Sachen Emotionalisierung "kann und muss der Online-Handel noch einiges vom stationären Handel lernen", schreiben die Autoren. Die Interview-Teilnehmer heben hervor, dass die Konsumenten heute nicht nur für Preisabfragen online gehen, um dann offline einzukaufen. Künftig, so die Ergebnisse der Befragungen, werden sich die Unternehmen intensiv "mit dem Thema Einkaufserlebnis" auseinandersetzen müssen.
Marke und Erlebnisinszenierung
Dabei wird eines klar: Diese Vermittlung von Erlebnissen und das Markenversprechen sind untrennbar verbunden. Werner Reinartz, Professor am Seminar für Handel und Kundenmanagement der Universität Köln, formuliert es so: "Die Marke dient als Plattform, um welche das Thema Erlebnis inszeniert wird. Dabei sollte die kanalübergreifende Kommunikation einheitlich sein, da die Trennungen für die Konsumenten künstlich und anbietergetrieben sind und keinem Denken der Konsumenten entspringen."
Was akademisch klingt, kommt in der Praxis einer der größten Herausforderungen für den Handel gleich. Es geht nun darum, das emotionale Shopping-Erlebnis über alle Kanäle hinweg gleich gut ermöglichen zu können. Was nichts weniger bedeutet, als die Emotionalisierung des Ladengeschäfts authentisch in den Online-Shop zu übertragen - und beide Welten weiterzuentwickeln.
Übertragungsprobleme
Den Wissenschaftlern ist natürlich klar: Es ist schwierig, Erwartungen und Bedürfnisse, die in einem Kanal geweckt werden, eins zu eins im anderen Kanal zu erfüllen. Betritt man einen Laden, werden die Sinne angesprochen: Düfte wabern durch den Raum, Musik streichelt die Gehörgänge, Dekorationen verwöhnen das Auge. Diese Dinge lassen sich nicht einfach auf den Bildschirm übertragen. Boris Hedde, Geschäftsführer des IFH Köln, meint trotzdem: "Wir beobachten einen deutlichen Bedeutungszuwachs, was die Emotionalisierung von Online-Shops angeht. Gut aufbereitete Informationen, ansprechend inszenierte Themenwelten und Personalisierungen von Inhalten und Ansprache können helfen, Shopping-Erlebnisse zu kreieren und die Lücke zwischen den Kanälen zu schließen."
Es geht auch ums Geld
Wer nun allerdings glaubt, der Konsument müsse einfach nur professioneller verführt werden, der irrt. Die Marktforscher von Pricewaterhouse-Coopers geben zu bedenken: Eine Mehrkanalstrategie werde nur dann erfolgreich sein, wenn Konsumenten bei der Nutzung unterschiedlicher Kanäle eindeutige Vorteile für sich erkennen könnten. In einem Land, in dem Discounter wie Aldi und Lidl groß werden konnten, ist klar: Es geht auch um Preisvorteile beim Einkauf. Gelingt es, konkreten Nutzen und Einkaufserlebnis miteinander zu verbinden, dann dürfte der richtige Weg gefunden sein, um die Kundenbindung erheblich zu steigern.
Alexander Hassel, PR-Manager bei Shopgate, einem Anbieter von mobilen Websites, differenzierte kürzlich in einer Pressemitteilung, indem er sagte: "Es kommt immer darauf an, was Händler verkaufen. Bei Konsumgütern hat man es sehr schwer, wenn man sie nicht auch online anbietet. Höchstens bei großen, ausgefallenen Produkten kann man noch ohne Online-Shop auskommen."
So geht kaufen heute
So katastrophal die Entwicklung beim Modelabel Abercrombie & Fitch auch verlief: Zumindest was den Online-Auftritt betrifft, kann der Einzelhandel von den Amerikanern lernen. Auf deren Homepage kann man zunächst einmal zwischen fünf verschiedenen Sprachen wählen, um dann wohlgelenkt durch das Angebot zu surfen. Die Seite ist klar aufgebaut, vermeidet dabei jeden Schnickschnack. Gleichzeitig vermittelt sie das Lebensgefühl der Menschen, die Abercrombie ansprechen will: jung, attraktiv, sexy.
Kein Zweifel: Abercrombie & Fitch kann online. Und wer gar nicht genug bekommt von dem Modelabel, der kann sich zudem die App herunterladen und ist so permanent auf dem neuesten Stand der elitären Abercrombie-Welt. Würde das Unternehmen seinem CEO einen Maulkorb verpassen, könnten die Geschäfte wieder aufwärtsgehen.