Der stationäre Handel hat Zukunft, aber muss auch etwas dafür tun. Um sich zukunftsfähig aufzustellen, müssen Händler einerseits erreichen, dass die Kunden gerne und häufig bei ihnen einkaufen und Servicelei stungen in Anspruch nehmen. Andererseits müssen sie aber ihre Geschäftsprozesse so gestalten, dass sie effek tiv und wirtschaftlich sind. Das gilt für den kleinen Fahrradladen um die Ecke ebenso wie für die globale Modekette mit zahlreichen Outlets in den Fußgängerzonen jeder Großstadt.
Digitalisierung spielt dabei eine wesentliche Rolle, das ist vielen Akteuren klar. Bei der Umsetzung hapert es aber oft. Bereits vor der Pandemie hatte der Branchenverband Bitkom 2019 in einer Umfrage unter Händlern verschiedener Branchen interessante Erkenntnisse gewonnen. Immerhin 72 Prozent erkannten in der Digitalisierung eine Chance, doch auch 25 Prozent sahen darin ein Risiko. Der größte Nachteil der Digitalisierung im Handel war für alle Befragte der hohe Aufwand für den Datenschutz. 86 Prozent sahen hohe Investitionskosten und ebenfalls 86 Prozent sind der Meinung, dass fortschreitende Digitalisierung sogar das Händlersterben beschleunigen kann. So bestätigen zwei Drittel, dass die Digitalisierung eine große Herausforderung für ihr Unternehmen ist. 71 Prozent klagten darüber, dass sie große Probleme haben, Mitarbeiter mit digitalen Fach kenntnissen zu finden. „In unseren Augen ist die Digitalisierung, bis auf ein paar elektronische Preisschilder, kaum bis gar nicht vorhanden“, stellt Markus Hollerbaum, Geschäftsführer beim Bergheimer Distributor Siewert & Kau fest. Allerdings habe der Retail in den letzten zwei Jahren notgedrungen andere Themen im Kopf gehabt.
Brandbeschleuniger für den Wandel
Gut zwei Jahre später, nach einer Pandemie, die wie ein Brandbeschleuniger den Wandel im Handel zum Glühen gebracht hat, ist das Thema aktueller denn je. „Hier hat die Pandemie einen schon vorhandenen Trend deutlich verstärkt und beschleunigt“, bestätigt Hollerbaum. Er sieht die Onliner als klare Gewinner. „Bereinigt man hybride Handelsketten um ihren Online-Anteil, dann sieht es für den reinen stationären Handel sehr düster aus“, meint er.
Mike Finckh, Geschäftsführer des auf Branchenlö- sungen spezialisierten Grossisten Concept International, hat während der Pandemie drei Phasen ausgemacht: „Allgemein hat der Retail die Pandemie genutzt, um sich technisch auf den aktuellen Stand zu bringen, aber mit Schwankungen“, weiß Finckh. In der ersten Phase gingen die Händler noch davon aus, dass es sich nur um ein kurzes Intervall handelt. Die Zeit wurde dazu genutzt, um anstehende Modernisierungen wie TSE-kompatible Kassen nachzurüsten oder Verkaufsräume zu erneuern. „Dann kam das zweite Loch, in dem das Einzelhandelssterben begann. Projekte, die schon in der Planung waren, wurden ad hoc gestoppt. Die Händler, die überlebten, fuhren oft eine Multi-Channel-Strategie, verkauften beispielsweise zusätzlich online, per Click and Collect oder zum Mitnehmen“, führt der Concept-Chef aus. In der dritten Phase registriert er nun eine Marktbereinigung, in der Händler überlegen, wie sie die Kunden wieder in die Läden bekommen. Finckh sieht dabei eine wichtige Rolle im Einkaufserlebnis und damit auch in Digital Signage.
So waren Einzelhändler klar im Vorteil, die sich frühzeitig nach Alternativen zum reinen Bestandsgeschäft umgeschaut haben. „Der Tech-Einzelhandel war sehr stark von der Pandemie betroffen und viele Möglichkeiten durch digitale Anwendungen, Onlineshops, Click and Collect sind erst spät gestartet“, bestätigt Oliver Hemann, Vorstand beim TK-Distributor MichaelTelecom. Aber der Handel habe mit seinen Bestandskunden und kreativen Lösungen dennoch Umsatz tätigen können. „Reseller, die ihren Schwerpunkt im Bereich ‚online‘ gesetzt hatten, haben direkt mit Start der Pandemie und in der Abhängigkeit von der Schließung des Retails direkt profitiert. Reseller, die ihren Fokus auf Märkte gesetzt hatten und an einer langfristigen Omnichannel-Strategie arbeiteten, mussten diese kurzfristiger umsetzen, um den Onlinern nicht das Feld zu überlassen“, erklärt Tom Dreger, Director Sales bei Ingram Micro.
Distribution als Logistikpuffer
Daher fällt das Resümee der Distributoren hinsichtlich der Geschäftsentwicklung bei Retail- und PoS-Lösungen nicht so negativ aus, wie man vielleicht annehmen könnte. Vielmehr erwarten die Fachkräfte, dass sich nun der Investitionsstau auflöst und beim Einzelhandel durch die Pandemie das Bewusstsein dafür geschärft wurde, wie wichtig Digitalisierungsprojekte sind. Ingram-Einkaufschef Dreger sieht kurzfristig Einschränkungen im Konsumverhalten durch den Ukraine-Krieg und die damit verbundene Energiekrise. „Langfristig hat der Markt aber starkes Wachstumspotenzial“, prognostiziert er.
„Für den kommenden Sommer erwarten wir einen starken Aufschwung“, blickt Mike Finckh von Concept optimistisch in die nahe Zukunft. Er sieht aber ein saisonbedingtes „Auf und Ab“, das die Supply Chain vor „nie dagewesenen Herausforderungen“ stellt. Gerade deswegen sei die Distribution als „Logistikpuffer“ gefragt. „Auf den Aufschwung im Sommer, in dem wir Vollgas geben müssen, wird dann aber vermutlich wieder ein Abschwung folgen. An dieses saisonale Auf und Ab werden wir uns gewöhnen müssen“, konstatiert er. Diese pandemiegetriebenen Saisonzyklen könnten zur „neuen Normalität“ werden.
Markus Hollerbaum von Siewert & Kau rät, über den deutschen Tellerrand hinauszublicken: „Wenn man sich weltweit umschaut, sieht man, welche Möglichkeiten und Chancen es mit der Digitalisierung im Retail geben könnte, um sich im Wettbewerb besser zu positionieren“, schwärmt er. Das Potenzial sei enorm. Er wagt daher auch keine Prognose, wann sich der Investitionsstau auflösen wird. „Am Ende hängt es an der Investitionsbereitschaft und der Risikobereitschaft, neue Wege zu gehen und auch mal der Vorreiter zu sein“, bemerkt Hollerbaum.
Auch MichaelTelecom-Vorstand Hemann sieht Deutschland bei Retail-Lösungen „noch ganz am Anfang“. Die Coronapandemie habe der Digitalisierung aber „einen Schub“ gegeben. „Das Wissen um Lösungen, Anwendungen und Prozessen muss ganzheitlich verstanden werden“, fordert er. Es seien aber erfreulicherweise Fortschritte sichtbar. Derzeit registriert Hemann zwar Investitionen, diese seien aber sehr mit Bedacht getätigt und zielen eher in die Richtung von Problemlösungen in Folge der Pandemie und der Krisenbewältigung. „Wichtig ist eine zukunftsorientierte Investition, denn der stationäre Handel ist nach wie vor gefragt“, bekräftigt Hemann.
Doch wie wird dieser Einzelhandel der Zukunft aussehen? Bei der bereits zitierten Bitkom-Studie wurden Händler nach der Einschätzung gefragt, wie verbreitet im Jahr 2030 gewisse Szenarien sein werden. So rechnen immerhin 77 Prozent damit, dass dann Bezahlvorgänge beim Verlassen des Geschäfts automatisch erfolgen werden. 68 Prozent befürchten aber auch, dass Kunden Produkte künftig seltener über Händler und Zwischenhändler, sondern direkt beim Hersteller kaufen. 62 Prozent glauben, dass Waren im stationären Handel künftig über Virtual Reality angeboten werden. Die Hälfte rechnet damit, dass Läden dann rund um die Uhr geöffnet sein werden. Allerdings glauben nur 19 Prozent an den Einsatz von Verkaufsrobotern, die die Kunden dann durch das Ladengeschäft führen.
Überlebenschance Omnichannel
So steht für Tom Dreger von Ingram Micro der größte Vorteil der Ladengeschäfte im Fokus: „Der stationäre Handel sollte niemals seine wichtigsten Vorzüge vergessen, nämlich den direkten Kundenkontakt und kompetente Beratung mit professionellem Personal“, betont er. Zudem nennt er den Verkauf von zusätzlichen Dienstleistungen als „attraktives Potenzial“. Die Abwicklung im Aftersales-Prozess müsste seiner Meinung nach aber im Vergleich zum Online-Reseller vereinfacht werden. Die Chance liegt für Dreger daher im Omnichannel-Modell, bei dem die „intelligente Verzahnung“ der unterschiedlichen Angebote und Kanäle zentraler Dreh- und Angelpunkt ist. „Hier kann und muss die Kompetenz vor Ort mit der Flexibilität des Onlinehandels kombiniert werden“, fordert er.
Für Oliver Hemann kann der stationäre Handel nur bestehen, wenn das Erlebnis und der Service im Vorder- grund stehen. Wichtig sei, dass der Kunde den Händler wieder wahrnimmt und das überall dort, wo der Kunde sich bewegt. Zudem müsse der Handel neue Vertriebswege schaffen. „Der stationäre Handel hat weiter eine hohe Relevanz, muss aber bei bestimmten Themen umdenken und Mehrwerte gegenüber dem E-Tail generieren“, stellt Hemann fest. Er geht davon aus, dass im Ladengeschäft der Zukunft 65 Prozent digital und 35 Prozent analog erfolgen wird mit klassischen Präsentationen und Probiermöglichkeiten der Produkte mit einer jeweils teilweisen analogen und digitalen Beratung. „Bestellt und bezahlt wird in einer Selfservice-Lösung am Kiosk-System“, glaubt er. Dies wird dann mit einem regionalen Lieferservice kombiniert. „Nur so kann Amazon und Co. in einer Koexistenz beherrscht werden. Es geht mehr in die Richtung Showroom mit integriertem digitalen Produktregal“, prophezeit Hemann.
Distributoren bieten Unterstützung
Markus Hollerbaum macht dies am Beispiel eines komplett mit der Online-Welt vernetzen Ladengeschäfts deutlich: In seiner Vorstellung gibt es ein 24/7-Online- Angebot, welches was Verfügbarkeit und Preis betrifft, mit dem Laden abgestimmt und synchronisiert ist. Termine können online gebucht werden und man kann sich idealerweise den Berater schon vorher auswählen, mit der Angabe, nach was man Ausschau hält und was man sich anschauen möchte, ob man etwas trinken möchte oder ob man beispielsweise eine Umkleidekabine benötigt. Man sollte dann beim Berater auch direkt bezahlen können, ohne sich an der Kasse in eine Schlange stellen zu müssen. „Das eigentlich frustrierende ist, dass das alles keine Zauberei ist und schon seit vielen Jahren umzusetzen wäre“, bemängelt der Siewert & Kau-Geschäftsführer.
Es gibt also ein breites Betätigungsfeld für Systemhäuser, um Ladengeschäfte zu digitalisieren und zu- kunftsfähig auszurichten. Der Bedarf an Produkten, Lösungen und Analysetools für den PoS wächst stetig und Distributoren unterstützen den Channel mit ihrem Portfolio, sei es bei Signage-Projekten, Kassensystemen, Scannern, Überwachungslösungen, Netzwerkausstattung, Warenwirtschaft, Kundenlenkung und -analyse und vieles mehr. Die PoS-Unit bei MichaelTelecom bietet sogar Laden- und Möbelbau an, samt Planung, Montage und Inbetriebnahme.
Einkaufen könnte so schön sein
Und die Experten der Distribution wissen, wovon sie sprechen, denn sie sind auch ganz normale Kunden, die das Einkaufserlebnis im Ladengeschäft zu schätzen wissen. „Persönlich beziehe ich meine Produkte online und stationär. Bei direktem Bedarf an Beratung oder wenn ich das Produkt direkt anfassen will, gehe ich weiterhin gerne in den stationären Handel“, berichtet Ingram-Sales-Director Dreger. Auch Markus Hollerbaum kauft eigentlich freudig vor Ort ein, da er gern mit Menschen kommuniziert und sich als der „eher gesellschaftliche Typ“ einschätzt. Er spart aber nicht an Kritik: „Der stationäre Handel macht es dem Kunden unnötig schwierig, gern im Ladengeschäft einzukaufen“, bemängelt er. Manchmal gleiche das Einkaufen einem Hindernislauf und schrecke eher ab, gerade wenn man berufstätig ist und nur abends oder am Wochenende einkaufen kann. So sieht das auch Oliver Hemann, der „sogar sehr gerne“ stationär einkauft, wenn er die Möglichkeit dazu hat. „Leider gibt es nicht immer das entsprechende Angebot in meiner Nähe oder mir fehlt die Zeit. Daher greife ich auch schon auf den Onlinehandel zurück“, erzählt er. Von einem Ladengeschäft erwartet Hemann eine ansprechende Produktpräsentation und vor allem eine objektive und fundierte Beratung. Kleine Pop-up- Stores mit digitalen Bestellmöglichkeiten aus einem La- ger des Händlers stehen auch auf seiner Wunschliste.
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