Insider-Tipps und Kunden-Segment-Checks

Das Barrierefreiheitsstärkungsgesetz bringt IT-Dienstleistern zusätzliches Umsatzpotenzial

10.05.2024 von Gabriele Horcher
Cloud & Managed Service Provider (CSP & MSP), IT-Dienstleister und Systemhäuser profitieren vom neuen Gesetz für mehr digitale Barrierefreiheit: Websites müssen umgebaut, digitale Formulare angepasst und Apps zum Teil neu programmiert werden.
Kommunikations-Wissenschaftlerin Gabriele Horcher, die Autorin dieses Beitrags für ChannelPartner, ist auch Autorin des im März 2024 erschienenen Buches "Barrierefrei kommunizieren für Unternehmen" (ISBN 978-3-658-44229-3)
Foto: Springer Gabler

Der European Accessibility Act, in Deutschland als Barrierefreiheitsstärkungsgesetz (kurz: BFSG) umgesetzt, verpflichtet erstmals auch private Wirtschaftsakteure zu mehr digitaler Barrierefreiheit - bisher standen nur öffentliche Einrichtungen im Fokus des Gesetzgebers. Produkte und Dienstleistungen, die typischerweise für den Zugang zum Internet und den Abschluss von Verträgen über das Internet genutzt werden, müssen vom 29. Juni 2025 an barrierefrei(er) sein. Dazu gehören beispielsweise Computer und Smartphones, aber auch Telekommunikations- und Bankdienstleistungen.

Das Barrierefreiheitsstärkungsgesetz (BFSG) verlangt, dass Produkte, Dienstleistungen, Apps, Online-Shops, Websites, E-Books und digitale Dokumente für Menschen mit Behinderungen ohne besondere Erschwernis und grundsätzlich ohne fremde Hilfe auffindbar, zugänglich und nutzbar sind. Dazu müssen diese digitalen Angebote über mehr als einen Sinneskanal zugänglich sein. So reicht es beispielsweise nicht mehr aus, in einem Online-Shop die zu erwerbenden Produkte und Dienstleistungen in Text und Bild darzustellen. In Zukunft müssen die Inhalte und Bildbeschreibungen zum Beispiel auch über Sprachausgabe hörbar und damit auditiv wahrnehmbar sein.

Das BFSG betrifft ganz direkt Hersteller, Importeure, Distributoren und Reseller der Produkte sowie Anbieter und Channel-Partner der Dienstleistungen. Aber auch Unternehmen, Verbände und Vereine, die sich an Verbraucher wenden, sind betroffen. Denn diese Organisationen müssen - unter bestimmten Voraussetzungen - bis zum Stichtag 28. Juni 2025 ihre Apps, Online-Shops, Dokumente und Webseiten barrierefrei gestalten. Für IT-Dienstleister und Service Provider führt das Barrierefreiheitsstärkungsgesetz zu mehr Projekten im Rahmen der neuen IT-Compliance-Anforderungen und es eröffnet den Raum für ganz neue Services.

Projekte durch neue IT-Compliance-Anforderungen

Immer dann, wenn Gesetze neue IT-Compliance-Anforderungen an viele Unternehmen stellen, sind direkt oder indirekt auch CSP, MSP, IT-Dienstleister und Systemhäuser gefordert. B2B-IT-Dienstleister fallen selbst nicht unter das BFSG, denn sie wenden sich mit ihren Leistungen nicht an Verbraucher. Aber Sie unterstützen mit ihren eigenen Dienstleistungen und Services:

Die Barrierefreiheits-Projekte dieser drei Gruppen müssen bis zum Stichtag umgesetzt sein.

Deshalb müssen sich Dienstleister und Service Provider bestens mit den neuen Regulatorien, spezifischen Anforderungen und auch drohenden Sanktionen auskennen. Nur so stellen Sie sicher, dass sie ihre Kunden richtig beraten und unterstützen, ohne Probleme bei der Umsetzung dieser Projekte zu bekommen.



* Machen Sie sich mit den neuen Anforderungen des BFSG vertraut. Die etwas leichter verständlichen Leitlinien zum neuen Gesetz finden Sie hier.

* Segmentieren Sie Ihre bestehenden Kunden danach, in welchem Ausmaß - von einfach bis mehrfach - sie vom BFSG betroffen sind. Welche konkreten BFSG-Anforderungen auch KI-gestützt umgesetzt werden können, erfahren Sie hier.

* Erstellen Sie - wenn möglich - drei Basisangebote pro Segment. Beginnend mit einer kleinen Lösung zur Umsetzung der Mindestanforderungen. Zum Beispiel durch die Nutzung von Services, die einen Shop oder eine Website durch die Integration einer einzigen Codezeile barrierefrei(er) machen. Bis hin zur optimalen Lösung: zum Beispiel mit langfristigen Verträgen für eine qualitativ hochwertige Umsetzung von Inhalten in jeweils passende Content-Formate für Menschen mit Seh-, Hör-, motorischen oder kognitiven Einschränkungen.

*Setzen Sie selbst (generative) KI-Tools und -Lösungen ein, um Projekte schneller umzusetzen. Oder nutzen Sie ggf. Partner aus dem Kommunikationsbereich, um Content-Projekte in höherer Qualität anbieten zu können.

* Schulen Sie Ihre Vertriebs- und Projektmitarbeiter.

Neue Cloud-Services konzipieren

Speziell Cloud Service Provider können für ihre Kunden Lösungen konzipieren und anbieten, die bereits wichtige Aspekte der Barrierefreiheitsanforderungen enthalten. Wie zum Beispiel Website- oder Online-Shop-Baukästen mit bereits integriertem Read-Speaker.



* Machen Sie sich mit den neuen Anforderungen des BFSG vertraut.

* Segmentieren Sie Ihre bestehenden Kunden danach, ob sie als Anbieter von Dienstleistungen vom BFSG betroffen sind oder als Leistungserbringer.

* Hosten Sie nur Dienstleister, die bis zum Stichtag ihre Leistungen für Europa barrierefrei anbieten können.

* Ordnen Sie Ihre Kunden in Größen-Kategorien ein. Beispielsweise danach, ob deren Websites oder Online-Shops als 'small' (weniger als 100 Seiten), 'medium' (zwischen 100 und unter 1.500 Seiten), 'large' (zwischen 1.500 und bis zu 10.000 Seiten) oder 'extra large' (bis zu 100.000 Seiten) einzuordnen sind.

* Integrieren Sie KI-basierte Technologien wie zum Beispiel Text-in-Sprache- oder Sprache-in-Text-Umwandlung sowie Sprachübersetzungen in Ihre bestehenden Cloud Services.

* Schließen Sie beispielsweise Partnerschaften mit KI-Tool-Anbietern für die Text-, Bild- oder Video-Erstellung.

* Bieten Sie Kunden zum Beispiel zusätzlich alternative Methoden für die physische Bedienung einer Website oder eines Online-Shops durch Sprachsteuerung oder durch eine Steuerung per Augenbewegung.

* Erstellen Sie Angebote für Standard- und Premium-Services.

* Schulen Sie Ihre Vertriebs- und Projektmitarbeiter.

* Machen Sie Ihre Kunden frühzeitig auf Ihre besonderen Services aufmerksam.

* Nutzen Sie Ihre Angebote, um potenzielle Kunden anzusprechen

Segment-Check 1:

Sind Ihre Kunden die Hersteller, Importeure, Distributoren oder Reseller der folgenden Produkte?

* Für Geld-, Fahrausweis- oder Check-In-Automaten gibt es längere Übergangsfristen.

Wenn Ihr Kunde Hersteller eines der oben genannten Produkte ist, hat er wahrscheinlich bereits eine BFSG Task Force eingerichtet. Hersteller von Produkten müssen sich besonders intensiv mit den spezifischen Anforderungen der Barrierefreiheit auseinandersetzen. Denn sie müssen nicht nur das Produkt - bestehend aus Hardware, Betriebssystemsoftware und eventuell Anwendungssoftware - anpassen. Ebenso sind die Verpackung und die Bedienungsanleitung barrierefrei zu gestalten.

Hersteller, Importeure, Distributoren und Reseller stehen unter ganz besonderem Druck. Das bedeutet: Sie brauchen intensive Unterstützung. Denn für alle Produkte, die vom 29. Juni 2025 an hergestellt werden, ist es essenziell, dass sie den BFSG-Anforderungen entsprechen - ansonsten dürfen sie nirgendwo in der EU mehr verkauft werden. Passiert dies doch, können unterschiedlichste Gruppen dagegen vorgehen: Auch Verbraucher, Verbraucherverbände oder Mitbewerber können solche Fälle bei den Marktüberwachungsbehörden melden. Neben einem Verbot der Inverkehrbringung drohen dann auch Bußgelder bis zu 100.000 Euro.

Wenn Ihr Kunde Importeur, Distributor oder Reseller eines der oben genannten Produkte ist, muss er immerhin noch dafür Sorge tragen, dass alle Produkte, die nach dem Stichtag produziert werden, den Anforderungen des BFSG entsprechen.

Keine Ausnahmeregelung für Produkthersteller

Sollten Sie im Zusammenhang mit dem BFSG schon einmal etwas über die Kleinstunternehmen-Regelung gelesen haben, muss hier betont werden, dass diese Regel nicht für Produkthersteller gilt. Und damit greift sie auch nicht für Importeure, Distributoren oder Fachhändler dieser Produkte.

Für dieses Kundensegment aus der Vertriebskette ist es zukünftig entscheidend, ihre Hersteller danach auszuwählen, ob diese zusichern können, die Produktion von Produkten, Betriebssystem- und Anwendungssoftware, Verpackungen und Bedienungsanleitungen rechtzeitig auf BFSG-Konformität umgestellt zu haben: möglichst noch vor, spätestens aber zum Stichtag.

Falls bei den Resellern und Distributoren unter Ihren Kunden zum Beispiel noch kein digitales Vertragsmanagementsystem im Einsatz ist, wäre dessen Einführung jetzt ein mögliches sinnvolles Projekt.

Segment-Check 2:

Sind Ihre Kunden Anbieter oder Channel-Partner der folgenden Dienstleistungen?

Wenn Ihr Kunde Anbieter eines der oben genannten Dienste ist und nicht unter die folgenden Ausnahmen fällt, muss das Front-End gegenüber dem Verbraucher vom 29. Juni 2025 an barrierefrei gestaltet sein. Auch die Backend-Systeme sind entsprechend vorzubereiten und einzurichten.

Ausnahmeregelungen:

o Ihr Kunde gehört zu den sogenannten "Kleinstunternehmen" mit weniger als zehn Beschäftigten oder höchstens 2 Millionen Euro Jahresumsatz.

o Oder für Ihren Kunden ergeben sich durch die Barrierefreiheit grundlegende Veränderungen der Wesensmerkmale seiner Dienstleistung**.

o Oder für Ihren Kunden stellt die Herstellung von Barrierefreiheit eine unverhältnismäßige (nachweißbar bedrohliche) Belastung dar**
** Ihr Kunde muss den entsprechenden Sachverhalt proaktiv den Marktüberwachungsbehörden melden. Ihr Kunde muss also in irgendeiner Weise aktiv werden.

Wenn Ihr Kunde als Channel-Partner für eine der oben genannten Dienste fungiert, also beispielsweise Smartphones im Bundle mit Mobilfunkverträgen verkauft, dann gehört er zu den Wirtschaftsakteuren, die zukünftig dafür sorgen müssen, dass alle Produkte und Dienstleistungen, die sie ab dem 28. Juni 2025 anbieten, den Anforderungen des BFSG entsprechen.

Für vorher abgeschlossene, laufende Verträge für Dienstleistungen, beispielsweise Telekommunikationsdienste, gilt eine Übergangsfrist von maximal fünf Jahren. Das heißt, dass Verträge, die vor dem 28. Juni 2025 geschlossen werden, bis zum Ablauf der Vertragslaufzeit – allerdings nicht länger als 27.06.2030 – unverändert fortbestehen dürfen.

Wenn Ihr Kunde allerdings zum Beispiel E-Books verkauft, müssen diese vom 29. Juni 2025 an barrierefrei sein - auch wenn das Buch schon viel früher als E-Book auf den Markt gekommen ist. Denn E-Books werden vom BFSG als Dienstleistung eingestuft.

Segment-Check 3:

Gehören Ihre Kunden zu den sogenannten Leistungserbringern?

Viele Organisationen nutzen bei der digitalen Kommunikation mit Verbrauchern Dienstleistungen der Telemedien, Bankdienstleistungen oder Leistungen des elektronischen Geschäftsverkehrs (E-Commerce). Damit werden sie - dem BFSG nach - zu sogenannten Leistungserbringern.

Wenn Ihr Kunde nicht zu den Kleinstunternehmen, mit weniger als zwei Millionen Euro Umsatz oder weniger zehn Mitarbeiter beschäftigt, gehört, und nur eine der folgenden Services in der Kommunikation mit Verbrauchern anbietet, dann gehört Ihr Kunde zu den Wirtschaftsakteuren, die bis zum Stichtag Apps, Online-Shops und Vertragsdokumente oder Webseiten für Verbraucher barrierefrei(er) gestalten müssen.

o Apps/Online-Shop***:
*** Wenn die App oder der Online-Shop auf der Website Ihres Kunden integriert sind, müssen sowohl die App bzw. der Shop als auch die gesamte Website barrierefrei gestaltet sein. Wenn die Website des Kunden aber nur auf eine separate App oder einen separaten Online-Shop verlinkt, wenn diese also nicht direkt mit der Website verknüpft sind, müssen Ihre Kunden möglicherweise nur die App oder den Online-Shop barrierefrei gestalten.

- Können Verbraucher bei Ihrem Kunden beispielsweise Produkte per App bewerten oder per App an Gewinnspielen teilnehmen?

- Können Verbraucher bei Ihrem Kunden über dessen Online-Shop Produkte (mit oder ohne Verträge), Zubehör oder Geschenkgutscheine kaufen?

o Website****:
**** Wenn die Services auf der Website Ihres Kunden mit einer Dienstleistung im elektronischen Geschäftsverkehr in Verbindung stehen, bedeutet das, dass nach den Vorschriften des BFSG die gesamte Website barrierefrei gestaltet sein muss.

- Können Verbraucher über die Website Ihres Kunden Termine buchen - zum Beispiel für Beratungen?

- Können sich Verbraucher auf der Seite Ihres Kunden in einen Kundenbereich einloggen, um zum Beispiel auf ihre Bestellhistorie zuzugreifen, Verträge zu verlängern oder zu kündigen?

- Können Verbraucher bei Ihrem Kunden über ein Help-Desk-System ein Support-Ticket eröffnen, wenn sie Fragen oder Reklamationen haben?

- Können Verbraucher Ihren Kunden über ein Kontaktformular, einen Chatbot oder einen Rückrufservice kontaktieren?

Vorsicht jedoch bei der Ermittlung, ob Ihre Kunden zu den Kleinstunternehmen gehören: Es kommt nicht auf den Jahresumsatz der App oder des Online-Shops und die Anzahl der dafür beschäftigten Mitarbeiter an, sondern auf die Zahlen des gesamten Unternehmens. Es sei denn, Ihr Kunde hat die App oder den Online-Shop als eigenständiges Unternehmen ausgegründet.

BFSG-Pflichten von Unternehmen als Umsatzchance für IT-Dienstleister

Wenn sich CSPs, MSPs, IT-Dienstleister und Systemhäuser rechtzeitig und gründlich mit den Herausforderungen des European Accessibility Acts auseinandersetzen, können sie bestehenden und potenziellen Kunden einen großen Mehrwert bieten - und dadurch Geschäft generieren. Aber diese Dienstleistungen unterstützen nicht nur Kunden dabei, neue IT-Compliance-Anforderungen umzusetzen - letztlich verhelfen erst diese IT-Dienstleistungen und -Services Menschen mit Beeinträchtigungen zur digitalen Teilhabe. Digitale Barrierefreiheit ist eine Frage der Bereitschaft und des technologischen Know-hows.

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