Veränderung ist mein tägliches Brot - als Management- und Unternehmensberater, als Unternehmer, als Hochschuldozent. Ich doziere über Change, ich unterhalte mich über den Wandel, ich finde (mit anderen Personen) Lösungen, um Veränderung zu planen und dann auch stattfinden zu lassen - seit fast 30 Jahren tue ich nichts anderes. Trotzdem sage ich voller Überzeugung: Change nervt!
Die einzige Konstante heißt Veränderung.
Damit meine ich nicht, dass mich Veränderung nervt. Es wundert mich aber, dass Change oft noch als etwas Besonderes gesehen wird - so als gäbe es einen Normalzustand, in dem sich nichts verändert. Den gibt es nicht. Es gibt nur eine Konstante im Leben: Veränderung.
Menschen verändern sich,
Beziehungen wandeln sich,
Gebäude altern, Dinge gehen kaputt,
etwas wächst, etwas vergeht.
Stabilität ist eine Illusion.
Trotzdem haben die meisten Menschen eine große Sehnsucht nach Stabilität. Sie ist oft so groß, dass wir die Augen zukneifen und unser Leben in zu kleinen Zeitabschnitten betrachten, so dass wir die Veränderung nicht sehen. Deshalb merken wir zum Beispiel nicht, wie
wir älter werden und
unsere Beziehungen an Qualität verlieren (oder gewinnen).
Eine Ursache hierfür ist: In unserem Alltag erfordert es von uns meist wenig Energie, Dinge (scheinbar) stabil zu halten. Verändern hingegen kostet Kraft. Doch reicht das als Begründung oder gar Rechtfertigung für das Festhalten an der Illusion "Stabilität"? Wenn wir ehrlich sind, wissen wir: Wir machen uns etwas vor. Trotzdem....
Wie befreien wir uns aus dem Dilemma, dass wir Menschen
einerseits eine tiefe Sehnsucht nach Stabilität haben, die häufig in Bequemlichkeit mündet, und
andererseits alles im Fluss und Wandel ist?
Diese Frage beschäftigt mich bei meiner Arbeit in und für Unternehmen sehr. Denn offensichtlich hat in unserer Wirtschaft das "Alles ist im Fluss" eine neue Dynamik gewonnen: Die Märkte verändern sich immer schneller, die technologische Entwicklung schreitet immer rascher voran, die Produktlebens- und Change-Zyklen werden stets kürzer, die Strategien haben eine immer kürzere Halbwertszeit, und, und, und....
Mit der "Dauerunruhe" leben
Früher konnte man als Chef zum Beispiel nach einer Reorganisation oder strategischen Neuausrichtung den Mitarbeitern (und Kapitalgebern) eine gewisse Konstanz und Sicherheit versprechen. Heute ist es häufig sogar nicht mehr möglich, für ein Jahr ehrliche Prognosen abzugeben. Deshalb herrscht in zahlreichen Unternehmen eine Art Dauerunruhe-Zustand. Und viele Führungskräfte stecken im Dilemma, dass sie ihren Mitarbeitern nicht mehr versprechen können: "Ihr Job ist sicher". Oder: "Unsere Strategie gilt für die nächsten Jahre." Zugleich fordern ihre Leute jedoch nachdrücklich Perspektiven und Sicherheit sowie eine längerfristige Planung.
Aktuell kursiert in der Management-Diskussion ein Begriff, der diesen Zustand der Dauerunruhe beschreibt: das Akronym VUKA (siehe Kasten am Ende des Beitrags). Es fasst formelhaft zusammen, dass wir in einer immer volatileren, unsichereren, komplexeren und mehrdeutigeren Welt leben. Daran besteht kein Zweifel. Doch was bedeutet das für uns Menschen? Wie gehen wir mit dieser Situation um, und wie finden wir uns in ihr zurecht?
Bei den Mitarbeitern von Unternehmen (wozu auch deren Führungskräfte zählen) erlebt man häufig folgende Reaktionen.
Reaktion 1: Change-Müdigkeit.Sie zeigt sich unter anderem darin, dass Anpassungsanforderungen mit Lethargie, Fatalismus oder Zynismus kommentiert werden.
Reaktion 2: Change-Ignoranz.Manche Mitarbeiter haben gelernt, Neuerungen einfach auszusitzen - gemäß der Maxime: "Wenn ich mich langsam genug bewege, ist diese Welle vorbei, bevor ich etwas ändern muss."
Reaktion 3: aktiver Widerstand.Durch ein Festhalten an Vergangenem, an überholten Errungenschaften und Beschlüssen, durch Endlos-Diskussionen, Stimmungsmache und Verweigerung wird hierbei mit Zähnen und Klauen versucht, den Status quo zu erhalten.
Natürlich begegnet man in den Unternehmen auch Mitarbeitern, die sich auf Veränderungen einlassen und ihre Gestaltungs-Chancen nutzen. Doch das Gros leidet häufig unter der Dauerunruhe und ist wenig offen für Veränderungen.
Lesetipp: Sieben häufige Fehler bei Change-Projekten
Agile Organisation - eine Antwort?
Was dagegen tun? In Management-Kreisen wird in jüngster Zeit als mögliche Lösung das Thema "agile Organisation" diskutiert - also das Implementieren einer Unternehmenskultur, die sich der Dynamik bewusst ist und darauf mit einer hohen Anpassungsfähigkeit antwortet. In einem solchen System, so die Hoffnung, organisieren sich die Menschen anders als bisher. Sie entscheiden direkter und schneller, tragen Verantwortung und tauschen sich aus. Doch wer sind die Träger einer solchen Kultur? Die Menschen in der Organisation und ihre Beziehungen zueinander. Also gilt es hier den Veränderungshebel anzusetzen.
Dies ist unter anderem nötig, weil in einer agilen Organisation, die weitgehend auf starre Organigramme, Bereichsgrenzen, Aufgabenbeschreibungen usw. verzichtet, die Referenzpunkte und Orientierungsanker andere als in der klassischen Top-down-Organisation sind. Und die Mitarbeiter können sich bei ihrer Arbeit weniger auf Vereinbarungen und Beschlüsse in der Vergangenheit sowie Vorgaben von außen beziehen. Sie müssen "wach" sein und über die Fähigkeit verfügen, einzuschätzen, was gerade passiert - und sinnvoll hierauf zu reagieren. Statt Beständigkeit ist geistige Flexibilität gefragt. Statt Dienst nach Vorschrift sind Neugier und Selbstbewusstsein gefordert. Statt Stabilität findet Entwicklung statt.
Eine solche Form des Miteinanders hat dramatische Auswirkungen auf die Beziehung Unternehmen-Führung-Mitarbeiter. Wir sind im betrieblichen Kontext ein Beziehungsmodell gewohnt, in dem einmal getroffene Vereinbarungen sozusagen dauerhaft Gültigkeit haben - seien dies Vereinbarungen bezüglich der Arbeitszeit, der Entlohnung, der Zuständigkeiten und Arbeitsinhalte oder der Karrierepfade. Und dies wird von vielen Mitarbeitern weiterhin erwartet. Doch wie soll das funktionieren, wenn sich die Rahmenbedingungen ständig ändern? Müssen wir uns dann nicht stärker auf "agile Deals" zwischen den Unternehmen sowie deren Führungskräften und ihren Mitarbeitern einstellen - sowie zwischen den Unternehmensführungen und Mitarbeitervertretungen? Vermutlich!
Beziehungs-Kitt: gemeinsame Werte
Das alles heißt zunächst: Die Irritation der Mitarbeiter wird weiter wachsen:
Worauf kann ich mich noch verlassen? Und:
Wem und auf was kann ich noch vertrauen?
Und die Frage wird virulenter: Was hält das soziale System Unternehmen noch zusammen, wenn dieses zentrale Bedürfnisse seiner Mitglieder (wie die nach Sicherheit und Verlässlichkeit) nur noch bedingt erfüllen kann?
Ich bin überzeugt, das Einzige, was Menschen und Organisationen in Zeiten extremer Verunsicherung stabilisieren kann, ist ein starkes (gemeinsames) Wertesystem. Wenn die vielen Einzelnen, die dem System angehören, durch bestimmte Werte miteinander verbunden sind, gehen sie gemeinsam durch dick und dünn - unter anderem, weil dann die jeweiligen Beziehungspartner berechenbar bleiben, weshalb auch Vertrauen entstehen kann.
Die Mitglieder von Organisationen, die auf wechselseitiges Vertrauen bauen, lernen schneller, Veränderung nicht persönlich zu nehmen; sie unterstellen zudem dem jeweils anderen gute Absichten. Auf dieser Basis wachsen auch Ehrlichkeit und Transparenz: Man unterstützt sich wechselseitig, Fehler werden verziehen. Und die Kurzlebigkeit sowie permanente Notwendigkeit, sich zu verändern? Sie wird auch sportlich als Herausforderung gesehen.
Wenn in Unternehmen die Veränderungsdynamik so groß ist, dass schriftliche Vereinbarungen das Papier nicht wert sind, auf dem sie stehen, dann gewinnen die gemeinsamen Werte an Bedeutung: Sie schweißen zusammen. Und aus dem gemeinsamen Wertekanon erwächst der Zusammenhalt, den Planungen und Strategien nicht mehr schaffen können.
In die Unternehmenskultur eintauchen
Bleibt die Frage: Wie entsteht in Unternehmen eine gemeinsame Wertebasis? Was fördert einen entsprechenden Team-Spirit? Wie wächst das hierfür nötige Vertrauen? Die Antwort lautet: Indem ich als Unternehmen, als Führungsmannschaft (mit den Mitarbeitern) die Unternehmenskultur gezielt beeinflusse, entwickle und präge. Das ist keine leichte, jedoch eine span¬nende und lohnende Aufgabe ... und eines der Kernthemen von Führung in der VUCA-Welt.
Kulturentwicklung erfordert eine Art Tiefseetauchen. Denn wenn wir von Unternehmenskultur sprechen, sprechen wir vom kollektiven Gedächtnis einer Organisation - von den Erfahrun¬gen, aber auch Narben, die im Untergrund wirken. Sie fließen in die Haltung und das Handeln der Menschen ein. Appelle hingegen verpuffen meist wirkungslos; ebenso wie bunte Poster mit Vertrauensslogans. Sie bauen keine Menschen verbindenden Brücken. Kulturarbeit erfordert tiefer gehende und wirkende Interventionen, Impulse und Reize, damit sich etwas Neues bilden kann.
Wenn der Change als alltägliche Herausforderung akzeptiert und gelebt werden soll, bedeutet das für die Führung vor allem: Schnorchel an und rein in die Tiefen der das (gemeinsame) Verhalten prägenden Werte und Prinzipien! Denn erst wenn nicht mehr die Symptome, sondern der eigentliche Kern im Fokus steht, findet eine wahre Veränderung statt. Wenn Unternehmen dieser Schritt gelingt, sage ich wieder voller Überzeugung: Change rocks!
Kasten: Unsere Welt ist VUKA
Ein Wort hat sich in der Managementdiskussion breit gemacht, das Akronym VUKA. Dass es auf eine so große Resonanz stößt, zeigt: Es trifft einen Nerv und fasst das Empfinden vieler Menschen zusammen:
Der Begriff stammt aus dem militärischen Bereich, als Antwort auf den Zusammenbruch der UdSSR. Doch seit dem 11. September 2001 breitet sich das Empfinden aus, dass unsere Welt zunehmend unsicher, unberechenbar und mehrdeutig wird.
Das V steht für volatil (flüchtig, schwankend). Es bezieht sich auf die zunehmende Häufigkeit und Geschwindigkeit von Veränderung. Was gestern noch galt, kann heute durch neue Informationen oder Entscheidungen ganz anders sein.
Das U steht für unsicher. Vorhersehbarkeit und Planbarkeit lösen sich mehr und mehr auf.
Das K steht für komplex. Alles hängt zunehmend mit allem zusammen. Zahllose Verknüpfungen, Abhängigkeiten und Einflussfaktoren wollen bedacht sein. Ursache und Wirkung von Entscheidungen sind kaum mehr nachzuvollziehen.
Das A steht für ambivalent (mehrdeutig). Die Zeit der Königswege ist vorbei. Statt schwarz-weiß herrschen Widersprüchlichkeiten und vielfältige Schattierungen. Sowohl-als-auch-Fakten machen Entscheidungen schwierig.
VUKA nimmt zu - doch nicht in allen Lebens-, Wirtschafts- und Unternehmensbereichen gleich stark. Wichtig ist es herauszufinden, in welchen Bereichen VUKA dominiert und in welchen nicht, und welche Interventionen deshalb zielführend sind. Es gibt durchaus Koexistenzen von Stabilität und Instabilität.
Dr. Georg Kraus ist geschäftsführender Gesellschafter der Unternehmensberatung Dr. Kraus & Partner, Bruchsal (www.kraus-und-partner.de). Er ist u.a. Lehrbeauftragter an der Universität Karlsruhe, der IAE in Aix-en-provence, der St. Gallener Business-School und der technischen Universität Clausthal.