ChannelPartner: Herr Altsient, was ist Policy Abuse und welchen Schaden richtet es an?
Francesc Altisent: Schon immer haben Regeln und Grenzen Menschen dazu gereizt, diese auszutesten. Auch treue Kunden geraten in der Anonymität des Internets schnell in Versuchung, bei ihrem Lieblings-Shop eine kleine Sonderaktion zu ergattern oder sich mehrfach auf dessen Website zu registrieren, um etwa einen Rabattcode doppelt zu erhalten.
Richtiggehend kriminell kann es werden, wenn ein Kunde wiederholt behauptet, überhaupt keine Ware erhalten zu haben. Auch Wiederverkäufer, die die Höchstgrenze des Erwerbs von Artikeln eines Händlers umgehen, können finanziellen Schaden anrichten und einen hohen Bearbeitungsaufwand verursachen- die immense Belastung für die Kundenbeziehungen gar nicht mitgerechnet.
In Zahlen heißt das?
Altisent: Das Thema Betrug ist im Online-Handel mittlerweile allgegenwärtig. So erfolgten laut einer Studie der National Retail Federation und Appriss Retail allein im Jahr 2020 rund 5,9 Prozent der Rücksendungen in den USA in betrügerischer Absicht. Bei insgesamt zurückgesendeten Waren im Wert von etwa 428 Milliarden Dollar (etwa 10,6 Prozent des gesamten Einzelhandelsumsatzes in den USA im Jahr 2020), geht es hier immerhin um Waren im Wert von rund 25,3 Milliarden Dollar.
Eine aktuelle Studie des IFH KÖLN zeigt, dass 90 Prozent der Händler in Deutschland bereits mit Betrug Erfahrungen machen mussten gekommen und dadurch jährlich rund 1,4 Milliarden Euro Umsatzverluste erleiden. Zum großen Teil sind dafür sicherlich Kriminelle verantwortlich, die mit gestohlenen Kreditkartendaten und Identitäten einkaufen
Ganz "normale" Kunden haben jedoch auch einen nicht unerheblichen Anteil daran. Es ist allerdings quasi unmöglich, dies zu beweisen und Prävention mit den üblichen Mitteln der Betrugsabwehr ist somit extrem schwierig. Händler, die zum Beispiel strengere Rückgaberegeln einführen, können damit schnell treue Kunden verprellen. Schließlich sind laut einer Umfrage der Marktforscher von IDC für 24 Prozent der Verbraucher problemlose - im besten Fall kostenfreie - Rückgaben einer der Hauptgründe sich für oder gegen einen Anbieter zu entscheiden. Das richtige Gleichgewicht zu finden, ist daher eine Herausforderung, mit der sich viele Online-Händler derzeit auseinandersetzen müssen.
Was sind die häufigsten Formen von Policy Abuse?
Altisent: Es gibt mehrere Arten von Policy Abuse, die E-Commerce-Unternehmen schaden können. Am häufigsten sind Erstattungen und Rücksendungen betroffen. Im Zuge der Corona-Pandemie ist dies noch einmal deutlich angestiegen, da die Rückgaberichtlinien gelockert wurden. Kunden, die einen nicht zugestellten, fehlenden oder beschädigten Artikel melden, erhalten daher heute leichter eine Rückerstattung oder ein Ersatzprodukt. Ein weiteres Phänomen ist das sogenannte "Bracketing", bei dem Kunden ein Produkt gleich in mehreren Größen, Farben oder Versionen bestellen und überhaupt nicht die Absicht haben, alle zu behalten. Auch das sogenannte "Wardrobing" greift immer weiter um sich: Menschen bestellen Kleidung, tragen sie und schicken sie anschließend gegen volle Rückerstattung zurück.
Es gibt jedoch auch Verbraucher mit höherer krimineller Energie, die zum Beispiel gefälschte Konten anlegen, um zusätzliche Prämien zu erhalten. Auch Wiederverkäufer, die bei gefragten Produkten die Höchstgrenze des Erwerbs von Artikeln umgehen - in der Regel ebenfalls durch gefälschte Konten - um diese gewinnbringend weiterzuverkaufen, wirken sich negativ auf den Umsatz eines Händlers aus.
Ist jede Art von Policy Abuse gleich Betrug?
Altisent: Bei Diebstahl - etwa von Kreditkartendaten - ist die Sachlage klar: Das ist ein Verbrechen. Ein Ausschluss des Widerrufsrechts wegen Missbrauchs kommt laut Gesetz jedoch nur ausnahmsweise in Betracht, etwa bei arglistigem Verhalten des Verbrauchers gegenüber dem Unternehmer. Dieses "arglistige" Verhalten nachzuweisen, dürfte jedoch extrem schwierig sein.
Kunden, die einfach nur Schlupflöcher in den Geschäftsbedingungen ausnutzen, sind sich ihres Unrechts jedoch unter Umständen gar nicht bewusst. Im Grunde ist das auch nicht illegal, sondern eher Auslegungssache. Viele Händler verbuchen es daher unter ihren allgemeinen Betriebskosten, solange es bei Einzelfällen bleibt. Bei Verhaltensweisen, die höhere Verluste verursachen - wie zum Beispiel der Wiederverkauf von Luxusgütern - sind jedoch durchaus härtere Maßnahmen angebracht. Hier können Technologien zur Betrugsprävention hilfreich sein, um die jeweils richtige Entscheidung für das Unternehmen zu treffen.
Was können Händler tun, um sich zu schützen?
Altisent: In einer Zeit, in der die Zufriedenheit der Kunden mit einer Marke stark von der Einfachheit ihrer Richtlinien abhängt, liegt es an den Händlern, das richtige Maß zu finden, um Verbraucher mit betrügerischen Absichten zu identifizieren und gleichzeitig neue Kunden zu gewinnen. Gefragt sind klare, unmissverständliche Richtlinien. Wichtig ist auch, dass die verschiedenen Teams im Kundenservice und der Auftragsabwicklung eng zusammenarbeiten, um auffälliges Verhalten bei den Kunden frühzeitig aufzudecken.
Entscheidend ist, dass der Händler jeden einzelnen Kunden möglichst gut kennenlernt und sich anhand verschiedener Datenpunkte in Echtzeit ein umfassendes Bild von ihm oder ihr machen kann. Letzten Endes muss es immer das Ziel einer geeigneten Strategie zur Verhinderung von Policy Abuse sein, die richtige Balance zwischen möglichen Verlusten und Gewinnen zu halten. Denn eines ist klar: Kunden, die Richtlinien missbrauchen, sind nicht unbedingt schlechte Kunden.
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