Virtual und Augmented Reality

B2B-Anwendungen für Daten- und VR-Brillen

25.04.2016 von Klaus Hauptfleisch
Geschlossene VR-Brillen führen in virtuelle Welten, lichtdurchlässige oder zu einer Seite offene Datenbrillen wie Google Glass oder der neue AirScouter von Brother bieten eine erweiterte Sicht der Dinge. Beide haben sowohl B2C- als auch B2B-Potenzial. Wir blicken auf erste Anwendungsszenarien.
 
  • Wären die Preise nicht so hoch, würden AR-Brillen schon jetzt eine viel größere Verbreitung erfahren.
  • Besser sieht es bei VR-Devices aus - zumindest weltweit ist die Nachfrage groß, in Deutschland planen nur fünf Prozent der IT-affinen Anwender eine Anschaffung.
  • Anwendungsbeispiele für VR- und AR-Brillen gibt es aber bereits reichlich - bei Autobauern, in der Logistik oder auch der Gesundheitsbranche.

Brother ist bekannt für Drucker, Multifunktionsgeräte, Schreib- und Nähmaschinen. Von der Weltöffentlichkeit kaum beachtet, war das japanische Traditionsunternehmen neben Vuzix, Sony und Seiko Epson aber auch einer der ersten Hersteller, der 2012 mit der AirScouter eine marktreife Datenbrille vorgestellt hat. Und das noch vor der einst so hoch gehypten und mit vielen B2B-Fallstudien beworbenen Google Glass. Deren Beta oder Explorer Edition überlebten auf dem freien US-Markt nur neun Monate, bevor der Verkauf im Januar 2015 eingestellt wurde. Brother hingegen kommt nun mit einer neuen Generation der AirScouter heraus - und auch andere Hersteller starten mit neuen Datenbrillen durch: Ob Vuzix mit seiner M300, Epson mit der Moverio oder Samsung mit Gear VR.

"Der Rasenmähermann" lässt grüßen

Die Geschichte der Datenbrille begann vor über 50 Jahren: Erste Experimente mit einem Head-Mounted Display (HMD) und Datenhandschuhe wurden schon 1966 durchgeführt. Früh gab es Gerüchte, das US-Militär arbeite an kognitiver Bewusstseinserweiterung und psychologischer Scharfmacherei unter Einsatz von VR und Drogen. Aufgegriffen wurde das unter anderem in dem Sci-Fi-Film "Der Rasenmähermann" von 1992. Pierce Brosnan verhilft darin als junger Wissenschaftler einem geistig zurückgebliebenen Hilfsgärtner eben so zu übermenschlicher Intelligenz gepaart mit zunehmender Aggressivität, die schließlich im großen Cyberspace-Showdown endet. Sci-Fi hin, Gerüchte her, beschäftigen sich Wissenschaftler tatsächlich schon lange mit Virtual-Reality- (VR) und Augmented-Reality-Technologien (AR) als Mittel für kognitives Lernen oder beispielsweise als Therapie zur Bewältigung von Traumata.

Neues von Google Glass nach Flop-Verdikt

Zurück in die Gegenwart: Mit seiner AirScouter WD-200B, der zweiten eigenen Datenbrille vier Jahre nach der ersten, konnte Brother auf der CeBIT 2016 sogar Bundeskanzlerin Angela Merkel an den Stand locken. Beim Aufsetzen hatte sie ihre liebe Mühe - immerhin ist die Auflösung des einäugigen neuen Head-Mounted Display mit 720p doppelt so hoch wie die des Vorgängermodells und viermal so hoch wie die der meisten Konkurrenzprodukte einschließlich Google Glass.

Die neue AirScout war Bundeskanzlerin Angela Merkel auf der CeBIT 2016 sogar einen Besuch des Messestand von Brother wert.
Foto: Brother

Vielleicht ist das mit ein Grund, warum Google-Finanzchef Patrick Pichette die Smart Glass im Januar 2015 als Flop bezeichnete, weil diese nicht die Erwartungen erfüllt habe. Unter dem Projektnamen Aura und der Leitung von (Google) Nest-Gründer Tony Fadell wurde daher ziemlich schnell an einer neuen Google Glass Enterprise Edition gearbeitet. Obwohl das Team diese ursprünglich bis zur Perfektionierung zurückhalte wollte, meldete man sie dann doch schon Ende 2015 bei der Federal Communications Commission (FCC) zum Patent an. Offiziell ist die Enterprise Edition noch nicht erhältlich - Ende März 2016 schlug sie dann aus heiterem Himmel angeblich in einer einmaligen Blitzauktion bei Ebay auf. Nach eingangs 299 Dollar stand das Höchstgebot zwei Tage vor Ablauf schon bei 8.100 Dollar, berichtete ZDNet. Es gibt noch eine zweite Version von Google Glass - die Explorer Edition für Entwickler. Auch hier ist einiges auf den Tisch zu legen - der Preis liegt bei rund 1500 Dollar.

Die hohen Preise für AR-Brillen mit eingebauter Kamera sind ein großes Problem und hemmen den Markt - eine größere Verbreitung wird man so nicht erfahren. Brothers neuer AirScouter soll rund 2.400 Euro kosten, die 3D-Brille HoloLens von Microsoft mit 3.000 Dollar sogar noch etwas mehr. Bei VR-Brillen sieht die Situation schon sehr viel anders aus, preislich zumindest. Dennoch üben sich die meisten Verbraucher noch in Kaufzurückhaltung, weil sie vielleicht schlechte Erfahrungen mit ähnlichen Gadgets gemacht haben und ihnen der Nutzen nicht klar ist.

VR-Brillen zum Schleuderpreis

Virtual-Reality-Brillen und VR-Brillenvorsätze für Smartphones sind mitunter so günstig, dass der Preis eigentlich kein Kaufhindernis darstellen sollte. Pappgestelle à la Google Cardboard werden oft schon für unter zehn Euro angeboten. Dabei verspricht der in der Endform wie eine Papp-Taucherbrille aussehende Google-Bausatz über zwei Bikonvex-Linsen sogar das Eintauchen in virtuelle 3D-Welten. Die von Samsung mit dem neuen Galaxy S7 anfangs kostenlos mitgelieferte Gear VR wartet zwar mit mehr Features und höherer Auflösung auf, ist aber mit dem anvisierten Preis von 99 Euro auch deutlich teurer als das Google Cardboard. In puncto Bildqulität gehen die Meinungen zur Samsung Galaxy Gear VR weit auseinander. Häufig geäußerter Kritikpunkt ist der mit Oculus-Software einhergehende angebliche Kaufzwang.

Die besten VR-Apps für Google Cardboard
Google Cardboard VR Apps
Cardboard ist Googles Tor in die virtuelle Realität. Befestigen Sie Ihr Android-Smartphone mit ein paar Linsen in einem Pappkarton und tauchen Sie in dreidimensionale Welten ein. Es ist einfach in der Handhabung und kostet wenig. Dazu gibt es reichlich Cardboard-Apps zum Download - die meisten kostenlos.
Cardboard
Die Cardboard-Starter-App dienst als Ausgangspunkt für das Virtual-Reality-Erlebnis - Cardboard konsolidiert alle kompatiblen Apps, die Sie schon heruntergeladen haben und gibt schon innerhalb der Menüs einen ersten 360-Grad-Einblick. Gerade die Google-Earth-Demo ist nett, wenn auch nicht sehr hochaufgelöst. Sie könnnen durch grobgerenderte Städte mit flackernden Texturen fliegen - schon fast eine komatöse Erfahrung. "Tour Guide" wiederum bringt Sie nach Versailles und erklärt Schloss samt kultureller Artefakte im Rundumblick.
Cardboard Camera
Die Google-eigene Cardboard Camera stellt auf dieser Liste eine Anomalie dar: Während die meisten Cardboard-Apps Sie in vorgebauten 3D-Welten unterwegs sein lassen, können Sie hier ihre eigene Realität erschaffen. Mit der Smartphone-Kamera machen Sie Panoramaaufnahmen, die Sie dann in 3D-Erlebnisse verwandeln können. Zusammen mit passenden Atmo-Sounds ergeben sich urlaubsreife Aufnahmen - sei es die Wochenend-Datsche im Grünen, das Rockkonzert oder der Hochzeitstag, hier können Sie alles immer und immer wieder nacherleben, als würde es gerade erst geschehen.
VRSE
Unter den VR-Apps, die einzig zu Präsentationszwecken entwickelt wurden, ist VRSE eine der besten. Hauptattraktion dieser App ist Verse, ein Kurzfilm voll mit surrealer Symbolik: Erst tuckert ein Zug durch einen See, bis er Ihnen mitten durchs Gesicht pflügt und in Tausende geflügelte Kreaturen übergeht, die sich in Konfetti auflösen. Eine merkwürdige Szenerie, die ein paar Minuten dauert, das häufigere Anschauen aber rechtfertigt.
Proton Pulse
Diese App verpasst dem Spieleklassiker Breakout einen 3D-Einschlag - Sie räumen das Spielfeld quasi von unten ab. Und zwar per Kopfbewegung. Ein völlig neues Spielerlebnis.
Star Wars
Der Erfolg des aktuellen Star-Wars-Films lässt auch die Cardboard-App-Landschaft nicht kalt. Mit der Star-Wars-App geben Sie sich ein wenig Jakku-Feeling, besichtigen den Millenium-Falken im 360-Grad-Modus und schauen sich Droid BB-8 genauer an. Zumeist sind es nur kurze Clips, für alle Fans ist aber auch das schon ein Genuss.
Youtube
Fast jeder Android-Phone-Besitzer hat Youtube installiert - und damit auch Cardboard-Unterstützung. Google hat Youtube kürzlich um Cardboard-Funktionen für 360-Grad-Videos erweitert. Sie können sich diese Videos anschauen, frei in alle Richtungen blicken und einzelne Gegenstände dreidimensional erkunden. Natürlich gibt es erst wenige Videos, die 360 Grad voll unterstützen - aber die Liste wird länger. Nichtkompatibles lässt sich immerhin noch mithilfe einer "Digital Wall" im Headset betrachten.
NYT VR
Die "New York Times" erwartet eine wahre Virtual-Reality-Zukunft, hat schon über eine Million Cardboard-Nutzer zu Digital-Abonnenten gemacht und zusätzlich noch ihre eigene VR-App an den Start gebracht. NYT VR erzählt die Art bewundernswerter, häufig ernster Geschichten, für die die Zeitung bekannt ist. Zumeist erzählen hier Protagonisten ihre eigenen Geschichten und Sie bewegen sich in ihrer Umgebung. Beispielsweise informieren Sie sich über den Paris-Terror von November 2015 anhand von Touristen, die von ihrem Besuch in der französischen Hauptstadt erzählen. Oder Sie begleiten drei Flüchtlingskinder, eingebettet in ein Feature über die globale Flüchtlingskrise.
Caaaaardboard
Bitte nicht verwechseln mit der Cardboard-App. Caaaaardboard ist die VR-Version von <a href="https://www.youtube.com/watch?v=8LRQzEunphA#t=42" target_"blank">"AaaaaAAaaaAAAaaAAAAaAAAAA!!!"</a>, einem einfach nur mies betitelten Indie-Spiel über den freien Fall durch Punkte bringende Tore, während auf dem Weg nach unten noch Gebäude besprüht werden müssen. In 3D kann das durchaus Spaß machen, wenn Sie Gebäuden ausweichen oder Extraboni einsammeln. Daneben muss die Balance gewahrt werden.
Titans of Space
Dank Virtual Reality können wir Dinge erleben, die sonst nie möglich wären. Wie wäre es beispielsweise mit einer Reise an den Rand unseres Sonnensystems? Titans of Space bietet ein Planetarium "in echt" - eine geführte Tour über Planeten und Monde. Das hat zum einen Schauwert, bildet aber auch weiter. Wer das Ganze auch als Hörerlebnis erfahren und einen Erzähler dazuhaben möchte, muss für die an sich kostenlose App allerdings etwas Geld ausgeben.
Google Street View
Mit Street View lassen sich Google-Maps-Karten fotorealistisch begehen. Google hat das Ganze mit einer eigenen 3D-Android-App gepimpt und bietet seinen Nutzern nun Thementouren mit 360-Grad-Panoramaaufnahmen via Cardboard an. Die vorgestellten Sehenswürdigkeiten sind spektakulär - seien es der Yosemite-Nationalpark in Kalifornien oder die Miniaturwunderland-Eisenbahn in Hamburg. Sie können innerhalb der Touren eigene Fotos schießen und die Kreationen anderer Nutzer bewundern.
Jack White: THIRD-D
Hier erleben Musikfreunde Konzerte wie live. Ob Jack White oder Paul McCartney - das kostenlose THIRD-D bietet immerhin einen Showcase mit drei Tracks, aufgenommen in zwei verschiedenen Locations, die erkundet werden wollen. So spielt Jack White "Dead Leaves and the Dirty Ground" unter freiem Himmel im Red Rocks Amphitheater nahe Denver, während ein Unwetter aufzieht - Blitze im Hintergrund und ein regennasser Sänger sorgen für Atmosphäre. Die anderen Songs entstammen Auftritten im Fenway Park in Boston, der hier ebenfalls eine majestätische Kulisse bietet.
Vanguard V
Ein weiteres Virtual-Reality-Spiel, das für viele Minuten Spaß macht. Da es sich noch in der Entwicklung befindet, kommt es noch nicht über den Demostatus hinaus. Der Space-Shooter, der an Star Fox erinnert, wurde von den "Proton Pulse"-Entwicklern aufgelegt und verlangt eine gute Kopfkoordination. Visuell überzeugt Vanguard V vollends - flüssige Bewegungen und Aha-Effekte am laufenden Band. Auch wenn es nicht viel Gameplay aufbietet - allein das Prinzip des Starrens auf Feinde, um diese anzugreifen, macht unheimlich Spaß. Genau wie das Warten auf die Vollversion.
Tilt Brush Gallery
Mit dieser 3D-Bilder-App soll das auf der CES enthüllte, PC-basierte High-End-VR-Headset HTC Vive beworben werden. Tilt Brush Gallery wurde eigens für das Vive entwickelt und macht auch als Cardboard-App schon einen sehr guten Eindruck - sie erweckt 3D-Gemälde zum Leben. Bisher gibt es nur einige Demo-Bilder - zum Release des HTC Vive, voraussichtlich im April, könnte es dann gut sein, dass es einige Online-Galerien zu entdecken gibt.
Sisters
Als Fan von Horrorfilmen mit reichli Schockmomenten sollten Sie sich "Sisters" unbedingt anschauen. Dieses kurze 3D-Erlebnis in einem Zimmer während eines Gewitters kann schon Angst machen. Sehen Sie die beiden Puppen vor sich? Warum ist eine davon jetzt verschwunden und die Tür offen? Wo ist denn jetzt die andere. Und was passiert jetzt? Na, schon einen Schreck bekommen? "Sisters" legt es drauf an, probieren Sie es aus.
War of Words VR
Die meisten der Cardboard-Apps sind mehr oder weniger kurze Demos, die nur Teile des künftigen VR-Potenzials zeigen. So auch "War of Words VR", eine Szene, die nicht einmal eine Minute dauert. Diese App inszeniert Siegfried Sassoons Gedicht "Der Kuss", der im Ersten Weltkrieg verfasst wurde. Das allerdings macht Sie mit Soldaten-Shilhouetten, einem Gewehr und fliegenden Pistolenkugeln so überzeugend, dass wir schon gespannt sein dürfen, was da künftig noch alles kommen mag.

Die Zeit scheint reif - Gear VR als Marktöffner

Ob es an so verhohlener Kritik, an den Preisen oder an fehlenden Anwendungen liegt: Die Zeit scheint reif für AR- und VR-Brillen - einmal mehr ein Grund für Google, sich mit einer Neuauflage von Google Glass zu beeilen. Dies, zumal Apple nach dem 2015 erfolgten Kauf des Münchener AR-Spezialisten Metaio bald auf den Plan stehen könnte und zumal Datenbrillen eines der Top-Themen der CES 2016 mit mehr als 40 Ausstellern waren. Auf der Messe in Las Vegas hat die Consumer Technology Association (CTA) Zahlen bekanntgegeben, wonach der US-Absatz von VR-Headsets 2016 um 500 Prozent auf 1,2 Millionen Stück zulegen soll bei einem erwarteten Umsatzzuwachs von 440 Prozent auf 540 Millionen US-Dollar. Bei aller Freude über die Zahlen - eine gesunde Ausgangsbasis sieht anders aus.

Samsung hat mit der Gear VR sicherlich viel zur Verbreitung der VR-Brillen beigetragen. Technologiepartner Oculus VR liefert die Software für 360°-Panoramabilder, mit denen Hotels und andere Einrichtungen werben können.
Foto: Samsung

In Deutschland zeigen sich die Konsumenten auch weiterhin zurückhaltend - nur fünf von 100 tragen sich mit Kaufabsichten, so ein Ergebnis des Digital Consumer Survey 2016 von Accenture. Der Markt stehe aber erst am Anfang, betont Jürgen Morath, Managing Director bei Accenture, das in Deutschland viele Projekte für Daten- und VR-Brillen mit antreibt. "Erste Modelle für den Massenmarkt kommen in den nächsten Monaten in die Läden. Den Durchbruch werden komplexe Datenbrillen zunächst in Unternehmen und in der Spiele-Welt erleben, denn noch ist die Technologie recht teuer", so Morath.

"Die Mutter der VR-Brillen"

Auf der CES 2016 zu sehen waren unter anderem die Oculus Rift 700, die HTC Vive und die HoloLens von Microsoft. Dass die 2012 von der späteren Facebook-Tochter Oculus VR herausgebrachte Oculus Rift in Gamer-Kreisen als "Mutter der VR-Brillen" gefeiert wird, liegt wohl eher daran, dass diese das Interesse an solchen HDM-Brillen neu geweckt hat. Denn 1995 schon hat Forte Technologies, ein sogenanntes VR Headgear für Consumer für 695 Dollar auf den Markt gebracht. Zwei Jahre später wurde Forte von Vuzix übernommen, 2005 hat das 3D-Headset mit höherer Auflösung den Einstieg ins Rüstungsgeschäft geebnet und das wiederum den Weg zu vielen weitere Produktentwicklungen. 2010 hat Vuzix die erste AR-Brille angekündigt, auf der CES 2013 dann mit vielen möglichen Anwendungsszenarien die M100, die Google Glass am meisten ähnelt, aber mit 1000 Dollar Ende 2013 deutlich günstiger angeboten wurde.

Reges Interesse an AR- und VR-Brillen bekundet seit Jahren die Automobilindustrie. Volkswagen hat nach einer dreimonatigen Pilotphase Ende 2015 bekanntgegeben, 3D-Datenbrillen in der Werklogistik für die Kommisionierung einzusetzen. Gerade die deutschen Autobauer zeigen sich bezüglich des Einsatzes von AR- und VR-Technologien seit langem sehr innovativ. Das ist sicherlich auch der Nähe zu deutschen Ideenschmieden wie denen bei SAP, Accenture und der neuen Apple-Tochter Metaio zu verdanken. SAP hat für Augmented Reality zwei Apps entwickelt: den von dem Systemhausriesen Bechtle in der Logistik erprobten SAP AR Warehouse Picker und den SAP AR Service Technician. Um Metaio ist es nach der Übernahme durch Apple etwas still geworden. Der einst mit einer Fülle von Informationen aufwartende Internetauftritt beschränkt sich nur mehr auf einen E-Mail-Kontakt.

Touri-Hotspots in 360°

Dennoch, von Metaio und Accenture mitentwickelte Anwendungen für die Automobilindustrie gehen je nach Brillentyp mehr oder weniger in zwei Richtungen: Geschlossene VR-Brillen bieten sich für die virtuelle Konfiguration im stationären Autohandel an. Lichtdurchlässige oder an einer Seite offene Datenbrillen à la Google Glass, Epson Moverio oder Brother AirScouter "augmentieren" beziehungsweise erweitern das Sichtfeld um eingeblendete Informationen, daher der Begriff Augmented Reality.

Automechaniker können so nicht nur freihändig arbeiten, sondern sich bei einem Problem auch Fernwartungsvorschläge einholen, so die lang gehegte Vision. "Hands free" und Fernwartung oder Ferndiagnose sind auch Einsatzmöglichkeiten für viele andere vertikale Märkte. Die COMPUTERWOCHE hat bereits Anfang 2014 eine Reihe von entsprechenden B2B-Anwendungen vorgestellt - da geht es beispielsweise um Reparaturarbeiten an Pipelines oder hoch oben an Strommasten, um Einsatzmöglichkeiten in der Logistik und im Gesundheitswesen einschließlich erster Versuche einer Fern-OP und vieles mehr. Im Folgenden stellen wir nun einige neue Anwendungsszenarien vor.

"Hands-free Picking" bei Bechtle

Den Anfang soll eine seit 2014 zusammen mit SAP entwickelte und 2016 offiziell bekanntgegebene Logistiklösung für das Picking im Warenlager des Systemhauses Bechtle machen. Dabei werden sowohl Smart Glasses von Vuzix als auch die Moverio genannten von Epson eingesetzt. Die von Bechtle bereitgestellten Bilder zeigen die Lösung meist noch mit der Vuzix M100, die neue M300 war damals noch nicht am Start.

Bechtle hat zusammen mit SAP Wege erkundet, das Picking im Warenlager unter Zuhilfenahme von Datenbrillen neu zu definieren und zu revolutionieren. Zum Einsatz kamen dabei sowohl Brillen von Epson als auch von Vuzix.
Foto: Bechtle

"Der Einsatz von Datenbrillen im dynamisch wachsenden Tagesgeschäft mit hohen Kundenanforderungen ist ein weiterer Meilenstein auf unserem Weg zur Logistik der Zukunft", sagt Bechtle-Logistikbereichsleiter Klaus Kratz. Die Smart Glasses sind per WLAN mit dem Lagerverwaltungssystem verbunden und zeigen dem Nutzer über die Android-basierte SAP AR Warehouse Picker App alle für ihn wichtigen Informationen im Sichtfeld an. Umgekehrt lassen sich über die automatische Scan-Funktion der in den Datenbrillen eingebauten Kameras und die Strich- oder QR-Codes auf den Etiketten auch im Nu alle relevanten Informationen über Art, Beschaffenheit und Bestimmungsort der Waren erfassen. Unterstützt durch eine leistungsfähige Spracheingabe können die Abläufe so wesentlich beschleunigt und fehlerfrei ablaufen. Nachdem sich Bechtle mit der Lösung zunächst auf arbeitsintensive Prozesse im Kleinteilebereich konzentriert hat, soll die Lösung laut Kratz künftig auch auf den Wareneingang und komplexe Lieferaufträge ausgeweitet werden. Die eingesetzten Smart Glasses lassen sich in weiteren Bereichen nutzen - in der Mitarbeiterschulung zum Beispiel, wie Epson und VW zeigen.

VW nutzt Epson Moverio für Trainingszwecke

In dem vom Bundesministerium für Bildung und Forschung geförderten Forschungsprojekt ARVIDA soll eine interoperable Systemwelt für Anwendungen mit "Virtuellen Techniken" (VT) entwickelt werden. Im Rahmen dieses Programms, dem sich viele namhafte Unternehmen angeschlossen haben, hat die Volkswagen AG als Teilprojekt "Instandhaltung und Training" Mitte 2014 in Hannover insgesamt 76 Mitarbeiter einmal mit und einmal ohne Datenbrille geschult. Die Trainees wurden jeweils mit Epsons Moverio BT-100 ausgestattet, die als halbtransparente Head-Mounted Displays den Blick auf die Umgebung nicht versperren und dennoch zusätzliche Informationen einblenden können. In dem Schulungsprogramm waren die vom Trainer je nach Lernfortschritt individuell versandten Inhalte in Form von Bildern zum Beispiel noch statisch.

Epsons Industrie-Flaggschiff BT-2000

Epson zufolge soll die neue Moverio BT-200 nicht zuletzt dank ihrer höheren Abbildungsqualität geeignet sein, die statischen Abbildungen durch vollwertige AR-Inhalte zu ersetzen. Von den Teilnehmern vor und nach dem Training auszufüllende umfangreiche Fragebögen haben bestätigt, dass die Methode mit Datenbrille zum Erfolg führt. Komplexe Inhalte sollen sich so dem Trainee leichter erschließen und umsetzen lassen.

Die Moverio Pro BT-2000 ist Epsons Highend-Produkt für B2B-Kunden im VR- und AR-Bereich.Das Bild zeigt einen fernunterstützten Wartungsprozess.
Foto: Epson

VW-Forschungsmitarbeiter Johannes Tümler zufolge lassen sich "dank der Fortschritte bei der Entwicklung leistungsfähiger Datenbrillen" für zahlreiche Arbeitsprozesse neuartige Assistenzsysteme erproben und pilotisieren. Von der Epson Moverio BT-2000 als Weiterentwicklung der neuen BT-200 erwartet er, dass diese sich noch besser für industrielle Anwendungen eignet, zumal die Projektionen auch "deutlich heller" sind als bei den Vorgängermodellen. Mit über 3000 Euro gegenüber 699 Euro für die BT-200 ist die BT-2000 als Industrielösung allerdings auch deutlich teurer. Eingesetzt wird diese unter anderem bei der Wartung von Flugzeugen.

Brother AirScouter WD-200B für alle Fälle

Der neue AirScouter WD-200B von Brother wird auch kein Schnäppchen, bietet aber mit 720p die doppelte Auflösung gegenüber dem Vorgänger und damit eine der höchsten für Datenbrillen überhaupt. Brother denkt dabei in erster Linie an vertikale Anwendungen wie Logistik, Gesundheitswesen, Wartung und Assemblierung von hochsensiblen Teilen. Anders könnte sich der Einsatz der zweiten marktreifen Brille von Brother zum anvisierten Preis von 2400 Euro in der Produktion auch kaum rechnen. Ein anderes Anwendungsszenario für das neue einäugige HDM-Device ist die Unterstützung bei der Steuerung von Drohnen.

Die Steuerung von Drohnen wird als Anwendung für Head-Mounted Displays wie Brothers neuer Airscouter immer wichtiger. Die Auflagen für das Betreiben dieser unbemannten Flugobjekte sind von Land zu Land unterschiedlich.
Foto: Brother

Waren Drohnen früher rein preislich meist Forschungs- und Militärzwecken vorbehalten, sind sie im Einstieg mittlerweile so günstig, dass sich die Unfälle durch privat betriebene Drohnen häufen und China schon mit einer Flugscheinverordnung für größere Drohnen reagiert hat. In Deutschland dürfen sie noch ohne gesteuert werden, allerdings werden sie rein vom Gewicht her meist als unbemannte Luftfahrtsysteme behandelt, die für jedes Bundesland einzeln das Einholen einer Aufstiegserlaubnis erfordert. Luftaufnahmen vom Nachbargrundstück zum Beispiel unterliegen auch nicht der Panoramafreiheit. Gleiches gilt auch für militärische Einrichtungen sowie für urheberrechtlich geschützte Events und Gebäude nach dem "Hundertwasser-Haus"-BGH-Urteil von 2003.

Fazit

Der Markt für VR- und AR-Datenbrillen und entsprechende Anwendungen ist gar nicht so jung, steckt aber immer noch mehr oder weniger in den Kinderschuhen. Wie schon erwähnt, sollten bei aller Euphorie über die Chancen auch die Risiken nicht außer Acht gelassen werden. Gefragt ist ein verantwortungsvoller Umgang mit den relativ neuen Technologien. Niemand will, dass die Panoramafreiheit zum Beispiel immer mehr eingeschränkt wird. Das kann aber passieren, wenn sich teure Klagen über Eingriffe in die Persönlichkeitsrechte häufen. Google hat das im Zusammenhang mit Street View schon erlebt und für die fast nicht als solche erkennbaren Smart Glass neben Lob auch so manche Kritik geerntet. Die Gegner befürchten, dass Google damit noch mehr auf den leicht zu vermarktenden gläsernen Bürger abzielt und Geheimdienste sich daran laben könnten. Berechtigt oder nicht, müssen die Sorgen ernstgenommen werden und glaubhafte Antworten erfolgen. Denn sonst ist es mit dem Vertrauen schnell dahin. (sh)