Brother ist bekannt für Drucker, Multifunktionsgeräte, Schreib- und Nähmaschinen. Von der Weltöffentlichkeit kaum beachtet, war das japanische Traditionsunternehmen neben Vuzix, Sony und Seiko Epson aber auch einer der ersten Hersteller, der 2012 mit der AirScouter eine marktreife Datenbrille vorgestellt hat. Und das noch vor der einst so hoch gehypten und mit vielen B2B-Fallstudien beworbenen Google Glass. Deren Beta oder Explorer Edition überlebten auf dem freien US-Markt nur neun Monate, bevor der Verkauf im Januar 2015 eingestellt wurde. Brother hingegen kommt nun mit einer neuen Generation der AirScouter heraus - und auch andere Hersteller starten mit neuen Datenbrillen durch: Ob Vuzix mit seiner M300, Epson mit der Moverio oder Samsung mit Gear VR.
"Der Rasenmähermann" lässt grüßen
Die Geschichte der Datenbrille begann vor über 50 Jahren: Erste Experimente mit einem Head-Mounted Display (HMD) und Datenhandschuhe wurden schon 1966 durchgeführt. Früh gab es Gerüchte, das US-Militär arbeite an kognitiver Bewusstseinserweiterung und psychologischer Scharfmacherei unter Einsatz von VR und Drogen. Aufgegriffen wurde das unter anderem in dem Sci-Fi-Film "Der Rasenmähermann" von 1992. Pierce Brosnan verhilft darin als junger Wissenschaftler einem geistig zurückgebliebenen Hilfsgärtner eben so zu übermenschlicher Intelligenz gepaart mit zunehmender Aggressivität, die schließlich im großen Cyberspace-Showdown endet. Sci-Fi hin, Gerüchte her, beschäftigen sich Wissenschaftler tatsächlich schon lange mit Virtual-Reality- (VR) und Augmented-Reality-Technologien (AR) als Mittel für kognitives Lernen oder beispielsweise als Therapie zur Bewältigung von Traumata.
Neues von Google Glass nach Flop-Verdikt
Zurück in die Gegenwart: Mit seiner AirScouter WD-200B, der zweiten eigenen Datenbrille vier Jahre nach der ersten, konnte Brother auf der CeBIT 2016 sogar Bundeskanzlerin Angela Merkel an den Stand locken. Beim Aufsetzen hatte sie ihre liebe Mühe - immerhin ist die Auflösung des einäugigen neuen Head-Mounted Display mit 720p doppelt so hoch wie die des Vorgängermodells und viermal so hoch wie die der meisten Konkurrenzprodukte einschließlich Google Glass.
Vielleicht ist das mit ein Grund, warum Google-Finanzchef Patrick Pichette die Smart Glass im Januar 2015 als Flop bezeichnete, weil diese nicht die Erwartungen erfüllt habe. Unter dem Projektnamen Aura und der Leitung von (Google) Nest-Gründer Tony Fadell wurde daher ziemlich schnell an einer neuen Google Glass Enterprise Edition gearbeitet. Obwohl das Team diese ursprünglich bis zur Perfektionierung zurückhalte wollte, meldete man sie dann doch schon Ende 2015 bei der Federal Communications Commission (FCC) zum Patent an. Offiziell ist die Enterprise Edition noch nicht erhältlich - Ende März 2016 schlug sie dann aus heiterem Himmel angeblich in einer einmaligen Blitzauktion bei Ebay auf. Nach eingangs 299 Dollar stand das Höchstgebot zwei Tage vor Ablauf schon bei 8.100 Dollar, berichtete ZDNet. Es gibt noch eine zweite Version von Google Glass - die Explorer Edition für Entwickler. Auch hier ist einiges auf den Tisch zu legen - der Preis liegt bei rund 1500 Dollar.
Die hohen Preise für AR-Brillen mit eingebauter Kamera sind ein großes Problem und hemmen den Markt - eine größere Verbreitung wird man so nicht erfahren. Brothers neuer AirScouter soll rund 2.400 Euro kosten, die 3D-Brille HoloLens von Microsoft mit 3.000 Dollar sogar noch etwas mehr. Bei VR-Brillen sieht die Situation schon sehr viel anders aus, preislich zumindest. Dennoch üben sich die meisten Verbraucher noch in Kaufzurückhaltung, weil sie vielleicht schlechte Erfahrungen mit ähnlichen Gadgets gemacht haben und ihnen der Nutzen nicht klar ist.
VR-Brillen zum Schleuderpreis
Virtual-Reality-Brillen und VR-Brillenvorsätze für Smartphones sind mitunter so günstig, dass der Preis eigentlich kein Kaufhindernis darstellen sollte. Pappgestelle à la Google Cardboard werden oft schon für unter zehn Euro angeboten. Dabei verspricht der in der Endform wie eine Papp-Taucherbrille aussehende Google-Bausatz über zwei Bikonvex-Linsen sogar das Eintauchen in virtuelle 3D-Welten. Die von Samsung mit dem neuen Galaxy S7 anfangs kostenlos mitgelieferte Gear VR wartet zwar mit mehr Features und höherer Auflösung auf, ist aber mit dem anvisierten Preis von 99 Euro auch deutlich teurer als das Google Cardboard. In puncto Bildqulität gehen die Meinungen zur Samsung Galaxy Gear VR weit auseinander. Häufig geäußerter Kritikpunkt ist der mit Oculus-Software einhergehende angebliche Kaufzwang.
Die Zeit scheint reif - Gear VR als Marktöffner
Ob es an so verhohlener Kritik, an den Preisen oder an fehlenden Anwendungen liegt: Die Zeit scheint reif für AR- und VR-Brillen - einmal mehr ein Grund für Google, sich mit einer Neuauflage von Google Glass zu beeilen. Dies, zumal Apple nach dem 2015 erfolgten Kauf des Münchener AR-Spezialisten Metaio bald auf den Plan stehen könnte und zumal Datenbrillen eines der Top-Themen der CES 2016 mit mehr als 40 Ausstellern waren. Auf der Messe in Las Vegas hat die Consumer Technology Association (CTA) Zahlen bekanntgegeben, wonach der US-Absatz von VR-Headsets 2016 um 500 Prozent auf 1,2 Millionen Stück zulegen soll bei einem erwarteten Umsatzzuwachs von 440 Prozent auf 540 Millionen US-Dollar. Bei aller Freude über die Zahlen - eine gesunde Ausgangsbasis sieht anders aus.
In Deutschland zeigen sich die Konsumenten auch weiterhin zurückhaltend - nur fünf von 100 tragen sich mit Kaufabsichten, so ein Ergebnis des Digital Consumer Survey 2016 von Accenture. Der Markt stehe aber erst am Anfang, betont Jürgen Morath, Managing Director bei Accenture, das in Deutschland viele Projekte für Daten- und VR-Brillen mit antreibt. "Erste Modelle für den Massenmarkt kommen in den nächsten Monaten in die Läden. Den Durchbruch werden komplexe Datenbrillen zunächst in Unternehmen und in der Spiele-Welt erleben, denn noch ist die Technologie recht teuer", so Morath.
"Die Mutter der VR-Brillen"
Auf der CES 2016 zu sehen waren unter anderem die Oculus Rift 700, die HTC Vive und die HoloLens von Microsoft. Dass die 2012 von der späteren Facebook-Tochter Oculus VR herausgebrachte Oculus Rift in Gamer-Kreisen als "Mutter der VR-Brillen" gefeiert wird, liegt wohl eher daran, dass diese das Interesse an solchen HDM-Brillen neu geweckt hat. Denn 1995 schon hat Forte Technologies, ein sogenanntes VR Headgear für Consumer für 695 Dollar auf den Markt gebracht. Zwei Jahre später wurde Forte von Vuzix übernommen, 2005 hat das 3D-Headset mit höherer Auflösung den Einstieg ins Rüstungsgeschäft geebnet und das wiederum den Weg zu vielen weitere Produktentwicklungen. 2010 hat Vuzix die erste AR-Brille angekündigt, auf der CES 2013 dann mit vielen möglichen Anwendungsszenarien die M100, die Google Glass am meisten ähnelt, aber mit 1000 Dollar Ende 2013 deutlich günstiger angeboten wurde.
Reges Interesse an AR- und VR-Brillen bekundet seit Jahren die Automobilindustrie. Volkswagen hat nach einer dreimonatigen Pilotphase Ende 2015 bekanntgegeben, 3D-Datenbrillen in der Werklogistik für die Kommisionierung einzusetzen. Gerade die deutschen Autobauer zeigen sich bezüglich des Einsatzes von AR- und VR-Technologien seit langem sehr innovativ. Das ist sicherlich auch der Nähe zu deutschen Ideenschmieden wie denen bei SAP, Accenture und der neuen Apple-Tochter Metaio zu verdanken. SAP hat für Augmented Reality zwei Apps entwickelt: den von dem Systemhausriesen Bechtle in der Logistik erprobten SAP AR Warehouse Picker und den SAP AR Service Technician. Um Metaio ist es nach der Übernahme durch Apple etwas still geworden. Der einst mit einer Fülle von Informationen aufwartende Internetauftritt beschränkt sich nur mehr auf einen E-Mail-Kontakt.
Touri-Hotspots in 360°
Dennoch, von Metaio und Accenture mitentwickelte Anwendungen für die Automobilindustrie gehen je nach Brillentyp mehr oder weniger in zwei Richtungen: Geschlossene VR-Brillen bieten sich für die virtuelle Konfiguration im stationären Autohandel an. Lichtdurchlässige oder an einer Seite offene Datenbrillen à la Google Glass, Epson Moverio oder Brother AirScouter "augmentieren" beziehungsweise erweitern das Sichtfeld um eingeblendete Informationen, daher der Begriff Augmented Reality.
Automechaniker können so nicht nur freihändig arbeiten, sondern sich bei einem Problem auch Fernwartungsvorschläge einholen, so die lang gehegte Vision. "Hands free" und Fernwartung oder Ferndiagnose sind auch Einsatzmöglichkeiten für viele andere vertikale Märkte. Die COMPUTERWOCHE hat bereits Anfang 2014 eine Reihe von entsprechenden B2B-Anwendungen vorgestellt - da geht es beispielsweise um Reparaturarbeiten an Pipelines oder hoch oben an Strommasten, um Einsatzmöglichkeiten in der Logistik und im Gesundheitswesen einschließlich erster Versuche einer Fern-OP und vieles mehr. Im Folgenden stellen wir nun einige neue Anwendungsszenarien vor.
"Hands-free Picking" bei Bechtle
Den Anfang soll eine seit 2014 zusammen mit SAP entwickelte und 2016 offiziell bekanntgegebene Logistiklösung für das Picking im Warenlager des Systemhauses Bechtle machen. Dabei werden sowohl Smart Glasses von Vuzix als auch die Moverio genannten von Epson eingesetzt. Die von Bechtle bereitgestellten Bilder zeigen die Lösung meist noch mit der Vuzix M100, die neue M300 war damals noch nicht am Start.
"Der Einsatz von Datenbrillen im dynamisch wachsenden Tagesgeschäft mit hohen Kundenanforderungen ist ein weiterer Meilenstein auf unserem Weg zur Logistik der Zukunft", sagt Bechtle-Logistikbereichsleiter Klaus Kratz. Die Smart Glasses sind per WLAN mit dem Lagerverwaltungssystem verbunden und zeigen dem Nutzer über die Android-basierte SAP AR Warehouse Picker App alle für ihn wichtigen Informationen im Sichtfeld an. Umgekehrt lassen sich über die automatische Scan-Funktion der in den Datenbrillen eingebauten Kameras und die Strich- oder QR-Codes auf den Etiketten auch im Nu alle relevanten Informationen über Art, Beschaffenheit und Bestimmungsort der Waren erfassen. Unterstützt durch eine leistungsfähige Spracheingabe können die Abläufe so wesentlich beschleunigt und fehlerfrei ablaufen. Nachdem sich Bechtle mit der Lösung zunächst auf arbeitsintensive Prozesse im Kleinteilebereich konzentriert hat, soll die Lösung laut Kratz künftig auch auf den Wareneingang und komplexe Lieferaufträge ausgeweitet werden. Die eingesetzten Smart Glasses lassen sich in weiteren Bereichen nutzen - in der Mitarbeiterschulung zum Beispiel, wie Epson und VW zeigen.
VW nutzt Epson Moverio für Trainingszwecke
In dem vom Bundesministerium für Bildung und Forschung geförderten Forschungsprojekt ARVIDA soll eine interoperable Systemwelt für Anwendungen mit "Virtuellen Techniken" (VT) entwickelt werden. Im Rahmen dieses Programms, dem sich viele namhafte Unternehmen angeschlossen haben, hat die Volkswagen AG als Teilprojekt "Instandhaltung und Training" Mitte 2014 in Hannover insgesamt 76 Mitarbeiter einmal mit und einmal ohne Datenbrille geschult. Die Trainees wurden jeweils mit Epsons Moverio BT-100 ausgestattet, die als halbtransparente Head-Mounted Displays den Blick auf die Umgebung nicht versperren und dennoch zusätzliche Informationen einblenden können. In dem Schulungsprogramm waren die vom Trainer je nach Lernfortschritt individuell versandten Inhalte in Form von Bildern zum Beispiel noch statisch.
Epsons Industrie-Flaggschiff BT-2000
Epson zufolge soll die neue Moverio BT-200 nicht zuletzt dank ihrer höheren Abbildungsqualität geeignet sein, die statischen Abbildungen durch vollwertige AR-Inhalte zu ersetzen. Von den Teilnehmern vor und nach dem Training auszufüllende umfangreiche Fragebögen haben bestätigt, dass die Methode mit Datenbrille zum Erfolg führt. Komplexe Inhalte sollen sich so dem Trainee leichter erschließen und umsetzen lassen.
VW-Forschungsmitarbeiter Johannes Tümler zufolge lassen sich "dank der Fortschritte bei der Entwicklung leistungsfähiger Datenbrillen" für zahlreiche Arbeitsprozesse neuartige Assistenzsysteme erproben und pilotisieren. Von der Epson Moverio BT-2000 als Weiterentwicklung der neuen BT-200 erwartet er, dass diese sich noch besser für industrielle Anwendungen eignet, zumal die Projektionen auch "deutlich heller" sind als bei den Vorgängermodellen. Mit über 3000 Euro gegenüber 699 Euro für die BT-200 ist die BT-2000 als Industrielösung allerdings auch deutlich teurer. Eingesetzt wird diese unter anderem bei der Wartung von Flugzeugen.
Brother AirScouter WD-200B für alle Fälle
Der neue AirScouter WD-200B von Brother wird auch kein Schnäppchen, bietet aber mit 720p die doppelte Auflösung gegenüber dem Vorgänger und damit eine der höchsten für Datenbrillen überhaupt. Brother denkt dabei in erster Linie an vertikale Anwendungen wie Logistik, Gesundheitswesen, Wartung und Assemblierung von hochsensiblen Teilen. Anders könnte sich der Einsatz der zweiten marktreifen Brille von Brother zum anvisierten Preis von 2400 Euro in der Produktion auch kaum rechnen. Ein anderes Anwendungsszenario für das neue einäugige HDM-Device ist die Unterstützung bei der Steuerung von Drohnen.
Waren Drohnen früher rein preislich meist Forschungs- und Militärzwecken vorbehalten, sind sie im Einstieg mittlerweile so günstig, dass sich die Unfälle durch privat betriebene Drohnen häufen und China schon mit einer Flugscheinverordnung für größere Drohnen reagiert hat. In Deutschland dürfen sie noch ohne gesteuert werden, allerdings werden sie rein vom Gewicht her meist als unbemannte Luftfahrtsysteme behandelt, die für jedes Bundesland einzeln das Einholen einer Aufstiegserlaubnis erfordert. Luftaufnahmen vom Nachbargrundstück zum Beispiel unterliegen auch nicht der Panoramafreiheit. Gleiches gilt auch für militärische Einrichtungen sowie für urheberrechtlich geschützte Events und Gebäude nach dem "Hundertwasser-Haus"-BGH-Urteil von 2003.
Fazit
Der Markt für VR- und AR-Datenbrillen und entsprechende Anwendungen ist gar nicht so jung, steckt aber immer noch mehr oder weniger in den Kinderschuhen. Wie schon erwähnt, sollten bei aller Euphorie über die Chancen auch die Risiken nicht außer Acht gelassen werden. Gefragt ist ein verantwortungsvoller Umgang mit den relativ neuen Technologien. Niemand will, dass die Panoramafreiheit zum Beispiel immer mehr eingeschränkt wird. Das kann aber passieren, wenn sich teure Klagen über Eingriffe in die Persönlichkeitsrechte häufen. Google hat das im Zusammenhang mit Street View schon erlebt und für die fast nicht als solche erkennbaren Smart Glass neben Lob auch so manche Kritik geerntet. Die Gegner befürchten, dass Google damit noch mehr auf den leicht zu vermarktenden gläsernen Bürger abzielt und Geheimdienste sich daran laben könnten. Berechtigt oder nicht, müssen die Sorgen ernstgenommen werden und glaubhafte Antworten erfolgen. Denn sonst ist es mit dem Vertrauen schnell dahin. (sh)