Anleiten - eine vergessene Führungsaufgabe

15.06.2007 von Wittstadt 
Führungskräfte müssen Coachs ihrer Mitarbeiter sein - das steht heute in fast jedem Führungshandbuch. Doch geht das wirklich? Experten meinen: Nur, wenn man "Mitarbeiter coachen" mit "die Mitarbeiter anleiten" übersetzt.

Keine andere Funktion in den Unternehmen wurde in den zurückliegenden Jahren ideologisch so überfrachtet wie die Führungsfunktion. Das verdeutlichen bereits die zahlreichen Attribute, die Führungskräften heute zugeschrieben werden. "Führungskräfte sollen nicht nur Entrepreneurs sein, also unternehmerisch denken und handeln", sagt Georg Kraus, Inhaber der Bruchsaler Unternehmensberatung Dr. Kraus & Partner. "Sie sollen auch Leader sein, also ein Leuchtturm, an dem sich ihre Mitarbeiter orientieren können." Und der neuste Schrei: Sie sollen Coachs ihrer Mitarbeiter sein, also diese in ihrer Entwicklung und beim Erbringen ihrer Leistung unterstützen.

Kernaufgabe: Ergebnisse sicherstellen

"Aufgrund der Aufgabenvielfalt vergisst so manche Führungskraft, was ihre eigentliche Kernaufgabe ist", kritisiert Kraus, "nämlich sicherzustellen, dass ihr Bereich seinen Beitrag zum Erfolg des Unternehmens leistet." Dieser Aufgabe ordnen sich alle anderen Führungsaufgaben unter - auch das Fördern der Mitarbeiter.

Trotzdem findet man das Credo "Führungskräfte müssen Coachs ihrer Mitarbeiter sein" heute in mehr oder minder verklausulierter Form in den Führungsleitlinien fast aller Großunternehmen. Entsprechend boomen Seminare, die Führungskräfte auf diese Aufgabe vorbereiten. "Dabei wird oft nicht ausreichend reflektiert, dass Führungskräfte auch die disziplinarischen Vorgesetzten ihrer Mitarbeiter sind", warnt Rainer Flake, Geschäftsführer der WSFB-Beratergruppe Wiesbaden. Sie entscheiden also weitgehend über deren beruflichen Erfolg.

Nicht ausreichend bedacht wird laut Flake auch, dass die Beziehung zwischen Führungskraft und Mitarbeiter stets eine Zweckbeziehung ist - und keine familiäre. "Ein Vater fördert seinen Sohn, damit der sich zu einer glücklichen Persönlichkeit entwickelt, die ihr Leben erfolgreich gestaltet", erläutert Flake. "Eine Führungskraft hingegen möchte durch ihre Unterstützung primär erreichen, dass der Mitarbeiter jetzt und in Zukunft gute Leistungen erbringt."

Anleiten heißt nicht Anweisen

Dieser Rahmen steckt der Coachingfunktion von Führungskräften enge Grenzen. Sie beschränkt sich weitgehend darauf, die Mitarbeiter bei ihrer Arbeit anzuleiten. Das ist heute aber vielfach verpönt. Denn oft wird Anleiten mit Anweisen gleichgesetzt. "Fälschlicherweise", betont Berater Kraus. Denn Anleiten bedeute nicht, anderen Personen Befehle "Tue dies" und "Tue das" zu erteilen, sondern ihnen die nötigen Hilfestellungen zu geben - seien diese fachlicher oder mentaler Art.

Ein weiterer Grund für das schlechte Image des Anleitens: Es wird weitgehend mit dem Bereich Ausbildung assoziiert. "Zu unrecht", findet Roland Jäger, Inhaber der Wiesbadener Unternehmensberatung RJ Management Consulting. Denn was tut ein Anleiter? Er kaut seinen Schützlingen nicht die Lösung vor, sondern er fragt sie: Wie würdet ihr diese Aufgabe angehen? Er motiviert sie also, eigene Lösungsvorschläge zu entwerfen. "Und wenn er sieht, dass sie Unterstützung brauchen, gibt er ihnen Hilfestellungen, bevor er sich mit ihnen auf einen Lösungsweg verständigt", erklärt Jäger die Rolle des Anleiters. Doch damit ist dessen Job nicht beendet. Er fragt vielmehr beim Umsetzen immer wieder nach "Gibt es Probleme?", "Was habt ihr zwischenzeitlich erreicht?", um bei Bedarf korrigierend und unterstützend einzugreifen. So stellt er sicher, dass seine Schützlinge sowohl Lernprozesse durchlaufen als auch die gewünschten Ergebnisse erzielen.

Auf das Wesentliche besinnen

"Eine Anleitung in diesem Sinne brauchen auch erfahrene Mitarbeiter", mahnt Rainer Flake, "vor allem, wenn sie neue Aufgaben übernehmen, mit deren Lösung sie noch keine oder wenig Erfahrung haben." Denn ansonsten bleibt es dem Zufall überlassen, welche Arbeitsergebnisse die Mitarbeiter erzielen. Genau dies soll laut Kraus vermieden werden, wenn gefordert wird: Führungskräfte müssen ihre Mitarbeiter coachen. "Dann heißt dies übersetzt: Führungskräfte, leitet eure Mitarbeiter an und bietet ihnen im Alltag die Unterstützung, die sie zum Erfüllen ihrer - aktuellen und künftigen - Aufgaben brauchen."

Auf diese klassische Führungsaufgabe sollten sich die Verantwortlichen in den Unternehmen laut Kraus wieder stärker besinnen - "statt stets neue Attribute für ihre Führungskräfte zu erfinden". Denn hiermit schärfen sie nicht deren Bewusstsein für ihre Kernaufgabe. Im Gegenteil. Sie tragen mir dazu bei, dass Führungskräfte im Arbeitsalltag oft den Blick fürs Wesentliche verlieren. (Hanna Wittstadt/mf)